Wer eine realitätsnahe Biografie über Marlene Dietrich sucht, sollte wohl nicht zu diesem Buch greifen. Denn dieses voluminöse Buch ist viel eher ein Roman über eine junge Frau am Anfang des letzten Jahrhunderts, die aus allen Zwängen und Regeln (und davon gab es in den 20er Jahren in Berlin doch erstaunlich wenig - so eine freizügige Zeit wie damals gab es danach wohl erst wieder Ende der 60er) ausbrechen und unbedingt berühmt werden will - koste es, was es wolle. Und es kostet einiges.
Zuerst versucht Marlene ihr Glück - gezwungen von der strengen Mutter - als Geigerin. Sie ist darin nicht schlecht, aber hat nicht das Potential einmal 1. Geigerin eines berühmten Orchesters zu werden. So verlegt sie sich auf Revueauftritte, steht vereinzelt auch Model für Fotoaufnahmen, nimmt Schauspielunterricht und gelangt über die Theaterbühne schließlich zum Film.
Ich habe noch keinen einzigen Film mit Marlene Dietrich gesehen (wäre jetzt aber sehr interessiert daran, auch aus filmhistorischer Sicht), und wusste auch kaum etwas von ihr als Person. Ich wählte dieses Buch vor allem, um mehr über die ersten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts zu erfahren, um Einblicke in die Anfänge der Filmindustrie zu erhalten und schließlich auch um mehr über diese geheimnisvolle Dietrich zu erfahren. Alle meine Ansprüche wurden vollends erfüllt! Nur Fotos haben mir gefehlt, denn ich habe gern ein Bild vor Augen wenn im Buch ein bekannter Name auftaucht oder von einem Filmdreh geschrieben wird. So war ich ständig am googeln, und stieß dadurch leider auch immer wieder auf Fehler in diesem biografischen Roman. Anna May Wong war z.B. erst ab Herbst 1928 in Berlin - im Buch ist es allerdings Ende 1925 oder maximal 1926. Von Gary Cooper, mit dem sie 1930 eine Affäre hat, wird mehrmals behauptet er sei verheiratet. Ist er aber erst seit 1933 (und lernt seine Frau auch erst in dem Jahr kennen, es kann also noch nicht mal seine Verlobte gewesen sein). Als Dietrich ihn 1935 wiedertrifft ist er wohl gerade dabei sich von seiner Gattin scheiden zu lassen - das tut er aber bis zu seinem Tode nicht. Und auch Cary Grant lebte erst ab 1934 (nach seiner 1. Ehe) mit Randalph Scott in der Villa in Malibu. Im Buch schreiben wir aber das Jahr 1933.
Und dass sind nur die Dinge, die mir ohne großen Rechercheaufwand aufgefallen sind. Es lässt mich aber glauben, dass es der Autor hier mit der Wahrheit nicht immer so genau nahm, und lieber eine gute Geschichte erzählen wollte nach dem Motto 'So könnte es gewesen sein'. Denn all die Gespräche und Vorkommnisse, die sich in Marlenes eigenen vier Wänden (oder Garderoben oder sonstwo außerhalb der Öffentlichkeit) abspielten - und davon handelt das Buch zum überwiegenden Teil - sind wohl größtenteils der Phantasie des Autors entsprungen und nicht überliefert oder belegt. Das sollte man beim Lesen im Hinterkopf behalten! Vielleicht ist es so gewesen, vielleicht aber auch nicht. Der Autor schreibt dazu selbst im Nachwort: "Die zentralen Ereignisse dieses Romans sind wirklich passiert, wenngleich sie durch erfundene Dialoge und Eindrücke der Protagonisten neu interpretiert wurden." D.h. die Filmdrehs, Umzug nach Hollywood und Auftritte an der Front haben ja nachweislich stattgefunden, der Rest ist a 'good guess'. Doch immerhin liest sich das Buch sehr unterhaltsam, es wird nie langweilig und einiges davon wird wohl auch stimmen.
Dem deutschen Titel (im englischen Original wurde es unter dem simplen "Marlene" veröffentlicht) wird der Roman absolut gerecht. Das Thema Liebe wird sehr groß geschrieben, und der Autor ist in seinen Schilderungen genauso wenig prüde wie Marlene Dietrich selbst mit ihrem Körper oder ihrer Lust. Sie hat nichts anbrennen lassen, und landet mit fast jedem Namen, der im Buch erwähnt wird - egal ob männlich oder weiblich - ziemlich rasch in der Kiste.
Es gibt in dieser Reihe des Aufbau-Verlags zahlreiche andere Bücher zu weiteren Frauen der Kunstszene des 20. Jahrhunderts. Aber nur dieses Buch hat mich wirklich gereizt, zu lesen, denn hier interessierte mich sowohl die geschichtliche Zeit, das Gewerbe und die Person an sich. (Einzig Coco Chanel würde ich auch spannend finden.)
Ich habe in einem Filmseminar im Studium mal beiläufig gehört, dass einzig Josef von Sternberg Marlene Dietrich "zum Star machte", mit der Art wie er sie filmen und fotografieren ließ. Da wir das Thema aber nicht vertieft hatten, wusste ich damit nicht viel anzufangen. Wie kann man jemanden dazu machen? Entweder ein Schauspieler hat Talent, und das Glück die richtigen Rollen zu erwischen, oder eben nicht. Nach diesem Roman verstehe ich viel besser was gemeint ist, und auch wie von Sternbergs mit der richtigen Beleuchtung das Aussehen von Marlene so positiv beeinflussen konnte.
Was ich mich dabei aber fragte: wieso hat man nicht gleich eine perfekte Schönheit genommen? Die Romanfigur Marlene klagt ständig darüber, dass sie zu dick ist, vom Regisseur eine Diät auferlegt bekommt mit der sie sich immer wieder quälen muss, dass ihr Gesicht und ihre Nase zu dick sind und nur bei der richtigen Beleuchtung mit dem Schmetterlingsschatten unter ihrer Nase gut aussieht. Auch ihre Auftritte in den Filmen vor dem "Blauen Engel" waren "grauenvoll", wie von Sternberg ihr sagt. Wieso also die ganze Mühe wenn es sicher Dutzende andere Schauspielerinnen gab, die von vornherein perfekt waren?
Anscheinend hatte sie das gewisse Etwas, eine Attitude (Gleichgültigkeit gepaart mit Arroganz und auch einem nicht unerheblichen Anteil an Rotznäsigkeit und Chupze), die ihr eine geheimnisvolle Aura verlieh und die Marlene Dietrich bis heute zu einer unvergessenen Ikone der Film- und auch Modewelt machen.