Ich hab die Kurzbeschreibung nur angelesen, denn ich wollte keinerlei Spoiler haben. War auch die absolut richtige Entscheidung, denn so wurde ich schließlich umso mehr überrascht. Was für mich bei einem guten Thriller immens wichtig ist.
"Liebes Kind" ist ein Thriller der besonderen Art, denn er beginnt dort, wo die meisten andere Bücher enden. Mit der Flucht aus der Waldhütte. Und danach konzentriert er sich auch nicht auf polizeiliche Ermittlungen, sondern begleitet 3 unmittelbar Betroffene, und wie sie mit der ganzen Situation umgehen. In Rückblenden erfährt der Leser dennoch, wie das Leben in der Hütte so in etwa ablief. Aber der Fokus ist ganz klar auf das seelische (Wohl-)Befinden der Betroffenen. Das ja gar nicht so 'wohl' ist wie man es sich als Außenstehender sicherlich meist denkt. "Jetzt ist ja alles vorbei, alles wieder gut." Für die Opfer aber eben nicht, aus verschiedenen Gründen. Die Kinder kannten nur das Leben in der Hütte, kannten nur diese 2 Erwachsenen dort als Bezugspersonen, die zu ihnen immer liebevoll waren. Nichts davon ist jetzt mehr da, in ihrer vermeintlichen "Freiheit". Hier gelten plötzlich ganz andere Regeln als die, die ihnen eingebläut wurden. Wie sollen sie sich da bloß zurecht finden, wenn nichts mehr vertraut ist...
Aber auch die posttraumatischen Belastungsstörungen bei Erwachsenen, die eine Entführung, Gefangennahme, Erniedrigung, Schläge und sonstige Grausamkeiten ertragen mussten, ist sehr heftig. Das wird von der Autorin hier ziemlich gut dargestellt, und kommt in Büchern eigentlich viel zu selten vor (auch wenn ich vor nicht allzu langer Zeit im "dunklen Garten" von Tana French über eine sehr ähnliche Thematik gelesen habe).
Ich fand die Gefühle und Gedanken aller drei Personen, denen wir als Leser begleiten, sehr gut beschrieben und es fühlte sich für mich authentisch an. Am interessantesten fand ich dabei die Schilderungen von Hannah, aber auch ihre Art und Weise faszinierte mich. Ich habe das Buch in einer Leserunde gelesen, und die Autorin verriet dort, dass sie sich durchaus von Natascha Kampusch inspirieren ließ und dass sie von deren Stärke beim 1. Fernsehinterview direkt nach ihrer Flucht beeindruckt war. Hier in Österreich ist dieser Fall natürlich sehr präsent gewesen, auch ich habe das Interview im ORF damals gesehen und war ebenfalls überrascht davon, wie aus dem 10jährigen entführten Mädchen so eine reife 18jährige geworden ist, die sich stets überlegt und vor allem gut auszudrücken wusste. Und ich habe es auch nie verstanden, wieso Natascha Kampusch dann genau für diese Stärke, die sie zeigte, von vielen plötzlich angefeindet wurde und ihre Opferrolle in Frage gestellt wurde. Aber ich schweife ab...
Ambivalente Gefühlte hatte ich in diesem Buch eigentlich nur gegenüber Jasmin.
~~~(Vorsicht - ab hier werden wichtige Details verraten! SPOILER!
Ich kann überhaupt nicht verstehen, wieso sie sich kein bisschen mehr für die Kinder interessiert hat, sobald sie aus der Hütte draußen war. Sie hat sie zwar noch aufgefordert, mit ihr zu kommen. Als sie das aber nicht sofort taten, ist sie alleine losgerannt und hätte die beiden ihrem Schicksal überlassen. Auch nach der Rettung dann hat sie sich nicht nach ihnen erkundigt. Irgendeine Bindung muss sie doch zu ihnen während der 4 Monate dort aufgebaut haben. Und die 2 haben sie immerhin als Mutter angesehen! Aber gut, das war vielleicht ihr Charakter, den die Autorin mit Absicht so angelegt hat.
Doch vom rein logischen Standpunkt her fand ich es nicht schlüssig, dass Jasmin der Polizei nicht verrät, dass das Phantombild nicht den Entführer sondern den Autofahrer zeigt. Sie hatte so große Angst, fühlte sich selbst in ihrer Wohnung unsicher. Und sagt der Polizei dann nicht, dass der Entführer doch noch frei rumläuft? Wieso ist sie nicht wenigstens sofort aus der Wohnung verschwunden, nachdem die Polizei weg war? Wohl wissend, dass jeder leicht ihre Adresse über das Internet heraus finden könnte, so auch der Entführer. Stattdessen legt sie sich schlafen... Aber auch das könnte man ihrer allgemeinen Gemütsverfassung zuschreiben.
Die größte logische Unstimmigkeit war für mich jedoch, wieso der Entführer Jasmin nach dem Autounfall laufen lässt. Wieso ruft er sogar einen Krankenwagen? Hat er keine Angst, aufzufliegen? Dass sie ihn irgendwann identifizieren kann? Und wieso will er jemanden, der ja offensichtlich schon mehrmals 'Ärger' gemacht hat während der Gefangenschaft, der öfter Anfälle hatte und ihm schon einmal nach dem Leben getrachtet hat, wieder als seine Frau haben - statt sich eine neue, andere, passendere zu suchen?
SPOILER ENDE~~~
Trotz dieser 'Anmerkungen' war es ein extrem gutes Buch, das mir noch länger im Gedächtnis bleiben wird. Das Konzept der Geschichte fand ich gut und neuartig. Selbst wo keine imminente Gefahr drohte, wie bei anderen Krimis, war das Buch durchweg spannend weil man als Leser wissen wollte "Wieso? Warum? Wer? Wie (viele)?" Und es kommt alles zu einem schlüssigen Ende.
Ich habe auch lange mit mir gerungen, ob ich 5 oder doch nur 4,5 Sterne vergebe. Ob ich das kreative Konzept der Geschichte mehr honoriere als das bisschen Verbesserungspotential, das ich sehe. Schlussendlich habe ich die Bewertung im Vergleich zu meinen anderen gelesenen Büchern vorgenommen.
Ein letzter Satz zur Printausgabe. Das Cover ist toll gestaltet, mit 'verkohlter' Schrift und Flecken, die sich auch genauso verkohlt anfühlen. Das fällt auf jeden Fall auf und war in der Herstellung sicherlich aufwendig. Großes Lob an den Verlag, dass sie diesen Aufwand dennoch auf sich genommen haben. Doch so toll ich das haptische Erlebnis auch finde - was hat es in diesem Fall mit der Story zu tun?