Unsympath
Der StottererEin Wortakrobat und Hochstapler ist er, der Protagonist Johannes Hosea Stärckle aus dem neuen Roman von Charles Lewinsky „Der Stotterer“. Ein unzuverlässiger Erzähler, ein unsympathischer Egomane, der ...
Ein Wortakrobat und Hochstapler ist er, der Protagonist Johannes Hosea Stärckle aus dem neuen Roman von Charles Lewinsky „Der Stotterer“. Ein unzuverlässiger Erzähler, ein unsympathischer Egomane, der beim Monologisieren ohne Gegenpart sein Umfeld genau so wie den Leser auf die Schippe nimmt. Daran muss man sich beim Lesen zunächst gewöhnen.
Der Protagonist stottert seit Kindertagen, kaum ein Wort kann seinen Mund verlassen ohne Stotterei. Deshalb ist er dem geschriebenen Wort sehr zugetan und beherrscht schriftliche Kommunikation meisterlich. Er schreibt beruflich, aber nicht als Journalist oder Autor, sondern als Betrüger, weshalb er jetzt im Knast sitzt. Dort schreibt er an den Geistlichen des Gefängnisses, den Padre, um seine Situation zu verbessern, er vertraut ihm (und dem Leser) Erinnerungen und Ereignisse aus seiner Kindheit an, über sein Leben in einer christlichen Sekte, über seine Familie, über seine Betrügereien. Was zunächst wie die Beichte eines Bekehrten klingt ist mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließlich Mittel zum Zweck, und der Wahrheitsgehalt der Briefe ist auch für den Leser unklar. Der Stotter manipuliert den Padre mit seinen Briefen genauso wie den Leser. Als mächtige Mithäftlinge von diesem Talent Wind bekommen, versuchen sie Profit aus dem Stotterer zu schlagen, da dieser sich nicht wirklich wehren kann. Doch Stärckle behält den Überblick, denn die Sprache ist seine Macht, und er spielt auch hier seine Möglichkeiten voll aus, dramatisch und manipulativ.
Genau genommen ist Stärckle der einzige Erzähler im Roman. Intelligent und äußerst geschickt hält er alle Fäden in der Hand, führt den Padre und andere Mächtige im Gefängnis an der Nase herum wie zuvor alte Damen und so wie auch den Leser. Er bündelt die Unsympathien den Romans in seiner Person, er ist unzuverlässig und unglaubwürdig, letztlich macht er vor nichts und niemanden Halt. Stärckle taugt nicht zu einer Romanfigur, mit der man sich identifizieren kann oder der man heimlich die Daumen drückt wie oft anderen Hochstaplern als Romanfigur. Dennoch verführt er den Leser anfangs dazu, ihm sein dramatisiertes Märchen glauben zu wollen, doch seine Hochstapelei und sein äußerst boshaftes und unsoziales Verhalten spielen ihn recht schnell ins Abseits. Lediglich am Schluß bekommt man wieder Zweifel, ob nicht doch Gutes in ihm steckt und er für seine Entwicklung nicht allein Schuld zugesprochen bekommen sollte.
Die Stimme des Stotterers kommuniziert im Roman ausschließlich schriftlich, in Briefen, in Tagebucheinträgen und in Fingerübungen, letztere als von der Handlung losgelöste Geschichten, die kleine schriftstellerische Meisterwerke darstellen.
Ohne Gegenpart ist man immer im Unklaren, was der Wahrheit entspricht und was erlogen ist. Das ist genial erdacht und mir gleichzeitig ein wenig Zuviel, immer nur diese eine Stimme, ewig monologisierend und sich selbst feiernd. Keine Antworten auf die Briefe, kein Gegenpart, kein unabhängiger Erzähler, so das Konzept, das für mich nicht komplett aufging.
Sprachlich ist der Roman ein Meisterwerk, ganz im Sinne der bevorzugten Ausdrucksweise des Stotterers verblüfft Charles Lewinsky mit äußerst genialer Wort- und Satzakrobatik. Viele Passagen haben fast philosophischen Charakter, zumal der Stotterer als ein großer Bewunderer Schopenhauers höchst intelligente und gewiefte Äußerungen tut.
Charles Lewinsky zeigt mit dem Roman „Der Stotterer“ erneut auf beeindruckende Weise seine Wandelfähigkeit und sein Sprachtalent. Allein dafür ist es lohnend, das Buch zu lesen.