Weder authentisch noch überzeugend
Der Sommer mit PaulineEs ist fast Sommer und Émile ist zum ersten Mal richtig verliebt. In die charmante Pauline aus seiner Schule, mit der er über Filme, Tennishelden und übers Leben reden kann. Wenn sie lächelt, geht die ...
Es ist fast Sommer und Émile ist zum ersten Mal richtig verliebt. In die charmante Pauline aus seiner Schule, mit der er über Filme, Tennishelden und übers Leben reden kann. Wenn sie lächelt, geht die Sonne auf. Als Pauline Émile nach Venedig einlädt, wo sie in einem Jugendorchester Geige spielt, kann er sein Glück kaum fassen. Doch die Eltern und der ältere Bruder wollen ihn begleiten – im Wohnwagen, in dem die Familie übergangsweise lebt. Eine schräge Abenteuerreise beginnt, an deren Ende Émilie ein anderer und sein Blick auf die Welt ein neuer ist.
So der Wortlaut des Klappentextes, der im Groben auch stimmt, das Wort „schräg“ lässt sich allerdings nicht nur auf die Reise mit dem Wohnwagen von Paris nach Venedig anwenden, schräg ist so ziemlich alles in diesem Roman: die Liebesgeschichte an sich, der es an Authentizität fehlt, das Verhältnis der Eltern untereinander (der Vater findet es völlig normal, seine Frau aus ganzem Herzen zu lieben und gleichzeitig zu hintergehen), das Verhältnis der Brüder zueinander (Fabrice teilt gerne seinen One-night-stand, der plötzlich zu einer festen Beziehung wird, mit seinem kleinen Bruder, damit dieser endlich Erfahrungen sammelt), das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern (diese sollen sich an Regeln halten, die jene ihrerseits ohne mit der Wimper zu zucken brechen können), ganz besonders aber das Weltbild des Ich-Erzählers, der seine Erlebnisse in Form von Tagebucheinträgen festhält. Dieses Weltbild ist nicht dasjenige eines 15-jährigen, es ist dasjenige eines desillusionierten und verbitterten 40-/50-jährigen Mannes.
Eine Kostprobe gefällig? Bitte schön: „Zwischen Jungs und Mädchen ist es wie im Autoskooter: Man kreist umeinander, tut, als würde man den anderen nicht bemerken. Man schaut hin, wenn der andere einem den Rücken zukehrt. Und dann kommt man sich näher, streift sich und irgendwann stupst man sich an. Erst nur leicht, um Kontakt aufzunehmen, und nach und nach mit mehr Karacho. Manchmal prallt man auch mit voller Wucht aufeinander, es muss richtig knallen, damit es Spaß macht. Bis es irgendwann dann doch zu schmerzhaft wird und man entscheidet, einen Bogen umeinander zu machen und auf Abstand zu bleiben, jeder auf seiner Seite mit Anwalt und geteiltem Sorgerecht. Nach der Runde versucht man es wieder, aber wenn man mal ehrlich ist, ändert sich ja doch nur die Autofarbe.“
Ich frage: Ist das die Sichtweise eines Jugendlichen auf das Leben? Ich streite dies vehement ab. Wenn sich der Tagebuchschreiber nicht gerade über seine Eltern oder seinen Bruder aufregt, über seltsame Praktiken dieser berichtet (wie zum Beispiel die Tatsache, dass sie ihrem Sohn die Haare blond färben oder ihren Selbstwert daraus beziehen, mit der Bedienung einer Raststätte darüber zu diskutieren, ob Coq au vin serviert werden dürfe), oder einfach mal wieder mit seinen Gedanken bei Pauline ist, dann gibt er genau solche Altersweisheiten von sich. Meiner Meinung nach lässt der Autor vielmehr seine eigene Jugendzeit Revue passieren – sprechen würde für diese These unter anderem die Tatsache, dass Pauline und Émile noch Videokassetten (!) austauschen und das Aussehen des Protagonisten mit dem des Autors übereinstimmt. Summa summarum: Den Roman würde ich keinem Jugendlichen empfehlen, viel eher einem Mann um die vierzig, der das Weltbild des Autors teilt, der dieses einem fiktiven 15-jährigen Jungen in den Mund legt.