Bis zum Schluss ahnt man nur, was sich hinter der verschlossenen Tür zugetragen hat. Hat Maja geschossen? Warum? Wie konnte aus dem beliebten, leistungsstarken High-Society-Girl eine Mörderin werden? Der Leser wird in die Geschichte hineingeworfen, sieht den Klassenraum nach dem Blutbad, begleitet Maja ins Gefängnis. Man weiß zwar, was ihr vorgeworfen wird, aber ist das auch wahr? Denn Maja kann sich nicht erinnern ...
„Sie wollen nicht wissen, was passierte, sie wollen mich in eine möglichst kleine Schublade stecken. Das macht es leichter, mich abzufertigen.“ Zitat
Maja steht kurz vor dem Abitur, als sie Sebastian kennenlernt. Sie verlieben sich ineinander und sind das Traumpaar schlechthin: er der charismatischer Millionärssohn, sie die exzellente Schülerin aus der Oberschicht. Wie passt dieses Bild zu dem Amoklauf, den Maja und Sebastian initiiert haben sollen?
Die Protagonistin Maja wird oberflächlich dargestellt, weiß ihren privilegierten Lebensstil nicht zu schätzen. Gerade anfangs ist sie sehr herablassend und nervig, obwohl sie trotz allem eine nette junge Frau zu sein scheint. Vor Gericht ist sie unnahbar und wirkt, als ob das alles an ihr vorbei geht, sie nicht interessiert. Doch je weiter die Story vorangeht, desto mehr bemerkt man, dass es sich unter der kalten Oberfläche um ganz andere Gefühle handelt: Verzweiflung über das Geschehene, Trauer um die verlorenen Freund und die große Liebe. Angst, vor dem was kommen wird, wenn niemand ihr glaubt. Schuld? Denn schließlich wird ihr vorgeworfen ihre beste Freundin Amanda getötet zu haben. Vorsätzlich? Das bleibt zu klären.
„Amanda wird nie wieder tanzen. Nie wieder singen. Nie wieder die Musik hören, die sie eigentlich nicht mochte, von der sie aber wusste, dass man sie „mögen muss“. Ich liebte es, wenn Amanda mir Luftküsse zuwarf, die ich fangen sollte. Sie war oberflächlich und blöd und wirklichkeitsfremd und egoistisch, und ich liebte Amanda. Natürlich liebte ich sie. Sie war meine allerbeste Freundin. Ich hätte ihr niemals wehtun können. Niemals, niemals, niemals. Aber ich tat es trotzdem.“ Zitat
Während ich von Maja zuerst ein negatives Bild hatte, welches sich im Laufe der Lektüre in ein positives gewandelt hat, war es bei Sebastian genau andersherum. Anfangs sehr sympathisch, zeigte sich jedoch schnell seine destruktive Seite. Drogen und Alkohol bestimmten seinen Tagesablauf. Er manipuliert Maja, beschimpft ihre Freunde um sie zu isolieren. Aber Maja will sich das nicht gefallen lassen, und wird trotzdem immer tiefer in die Spirale hineingezogen.
Auch Sebastians Vater Claes spielt eine große Rolle in der Beziehung der beiden. Wie ironisch, da er die meiste Zeit um die Welt jettet und gar nicht zuhause ist, Doch es geht auch eher um das, was er nicht macht: Sebastian die Unterstützung geben, die er wirklich braucht. Seinem Sohn zuhören. Majas anfängliche Bewunderung für den reichsten Mann Schwedens schlägt schnell in Abscheu um, als sie merkt, was Claes ihrem Freund damit antut.
„Die Leute sagen, dass alle Menschen gleich viel wert sind. So etwas sagt man, weil man höflich und wohlerzogen ist und vielleicht eine akademische Ausbildung genossen hat, aber davon wird es nicht wahrer. […] Nur Idioten tun so, als hätte es keine Bedeutung, wer Du bist, was Du getan hast. Sie reden davon, dass alle Menschen gleich viel wert sind, so als wäre das nicht bloß eine Erfindung von uns.“ Zitat
Was mir besonders gut gefallen hat ist, dass in der Literatur aktuelle Themen miteinander verwoben werden: Integration von Flüchtlingen, Drogen- und Alkoholmissbrauch durch Jugendliche und Amokläufe. Und das so realistisch, dass es mir oft die Sprache verschlagen hat. Gleichzeitig wird mit der Gerichtsverhandlung gezeigt, aus wie vielen Perspektiven etwas anders oder sogar falsch verstanden werden kann, wenn man nur einen Ausschnitt der Ereignisse kennt und nicht das Gesamtbild betrachtet.
Zu Beginn habe ich mir gedacht, dass Maja durchaus dazu fähig sein könnte, kaltblütig zu morden. Ihr Charakter hat einfach wenig Spielraum für andere Gedanken gelassen. Doch während der Zeit im Gefängnis merkte man, dass sie eigentlich ganz anders ist. Es war nicht ihr Charakter, der sich geändert hat, sondern meine Sicht durch die Infos, die ich zusätzlich bekommen habe. Ihr anfängliches Schweigen während der Verhöre ist nun nicht mehr Arroganz oder gar fehlende Reue, sondern Angst. Angst vor dem Prozess, der Enttäuschung ihrer Eltern, und Angst, das Geschehene immer wieder durchleben zu müssen.
„Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, mir das alles anzuhören. Aber es ist gefährlich, die Konzentration zu verlieren. Denn dann kommen die Geräusche. Das Geräusch, als sie in den Klassenraum kamen und mich wegzogen, das Geräusch von Sebastians Schädel, der auf den Boden schlug, es klang hohl. Es dröhnt in mir. […] Ich kann es nicht loswerden. Mein Gehirn schleppt mich immer wieder in diesen verdammten Klassenraum zurück.“ Zitat
Die Geschichte wird aus Majas Sicht erzählt. Den Rahmen steckt die Gerichtsverhandlung mit den einzelnen Tagen. In der Verhandlung selber gibt es zwar immer wieder kurze Rückblenden, doch eingeschobene Kapitel erzählen ausführlicher von der Vergangenheit. So werden die enthüllten Details noch einmal eingehend geschildert und mit Leben gefüllt. Die beiden Erzählebenen kommen parallel vor Gericht zum Abschluss. Majas Gemütszustand spiegelt sich auch im Schreibstil wider: Während der Tage vor Gericht sind ihre Gedanken verworren, weil alles auf sie einstürmt. Sie denkt in Schachtelsätzen, in vielen Nebensätzen, verbunden mit Kommata. Das war vorher nicht so – sie hat sich kurz und bündig ausgedrückt.
Während des Lesens fühlt man sich unwohl, wie die Zuschauer im Gerichtssaal. Unstreitig ist, dass Maja geschossen hat, aber kann sie dafür schuldig gesprochen werden? Oder anders gefragt: Warum kann sie nicht trotzdem unschuldig sein? Die Neugier, was nun tatsächlich passiert ist, aber auch dieses unbequeme, verführt ständig zum weiterlesen und ließ mich auch nach Beendigung der Lektüre nicht mehr los.
Einziger Kritikpunkt: der Titel. Maja dachte als Kind, dass Träume nicht real werden, wenn man über sie spricht. Aber ist das wirklich der beste Aufhänger? Der Originaltitel („Größer als alle anderen“) oder auch der englische Titel („Treibsand“) passen viel besser. Sebastians Überheblichkeit oder die Metapher, dass man sich nicht mehr retten kann, sobald der Ball einmal ins Rollen gekommen ist, geben schon einen kleinen Vorgeschmack auf das, was den Leser erwartet.
Bis zum Schluss habe ich mir immer wieder verschiedene Möglichkeiten überlegt von dem, was hinter der geschlossenen Klassenraumtür geschehen sein kann. Aber ich lag mit allem falsch. Ist Amanda nun schuldig? Findet es selber heraus, macht euch ein Bild davon.
Persönliches Fazit: Ein Thriller, in dem moralische Werte hinterfragt werden. Denn auch Reichtum schützt nicht vor der Einsamkeit, die Jugendliche empfinden, wenn keiner ihre Hilfeschreie hört.