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Veröffentlicht am 23.07.2019

Ein erschütternd reales Zukunftsszenario: ein Muss!

Vollendet – Die Flucht
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"Vollendet" war mein erstes Buch von Neal Shusterman, den heute dank seiner "Scythe"-Reihe die ganze Welt kennt, dessen erste Science-Fiction-Quadrologie vor einigen Jahren aber noch ein absoluter Geheimtipp ...

"Vollendet" war mein erstes Buch von Neal Shusterman, den heute dank seiner "Scythe"-Reihe die ganze Welt kennt, dessen erste Science-Fiction-Quadrologie vor einigen Jahren aber noch ein absoluter Geheimtipp war. Als der Fischer Verlag nach Jahren sehnsuchtsvollen Wartens eine neue Auflage der Reihe herausbrachte und das zum Anlass nahm, endlich den vierten Teil von "Vollendet" auch auf deutsch herauszubringen, habe ich beschlossen, die ganze Reihe nochmals zu lesen und zu rezensieren. Und ich kann euch sagen - beim zweiten Mal hat mich diese Geschichte noch viel mehr erschüttert, berührt, verstört und begeistert!


"Ist sein Geist auf völlig unerklärliche Weise noch vollständig, obwohl sein Körper ausgeteilt worden ist wie ein Kartenspiel? Oder hat man ihn dermaßen zerrupft, dass von Bewusstsein keine Rede mehr sein kann, dass keinerlei Hoffnung besteht auf Himmel, Hölle oder sonst etwas, das ewig währt?"


Das Cover der neuen Auflage ist eine riesige Verbesserung zur alten Gestaltung. Das "alte Cover" war sehr schlicht gehalten mit dem glänzenden Metallic-Grau, den Flecken, Kratzern und Blutspritzern. Das sah ganz nett aus aber umgeworfen hat es mich nicht - ganz anders als sein Inhalt. Das neue Cover jedoch zeigt ein namenloses Gesicht, das mit kalten, wütenden Augen in die Kamera starrt, sodass man sofort in die Geschichte hineingezogen wird. Besonders gut gefällt mir auch der Pixel-Look des Gesichts, das durch die einzelnen Teile an die Umwandlung erinnert. Auch das neue Anhängsel am Titel finde ich passend. Warum der deutsche Titel jedoch "Vollendet" lautet und nicht "Umgewandelt" oder ähnliches haben ich immer noch nicht begriffen. Der Begriff "ein Leben vollenden" kommt nur einmal am Rande vor und ist für einen unwissenden Erstleser sehr nichtssagend. Das englische Original trifft den Kern der Geschichte mit dem Titel "Unwind", was frei übersetzt so viel bedeutet wie "umgewandelt" oder "aufgelöst" bedeutet, schon besser.


"Nach der Charta des Lebens ist das menschliche Leben von der Empfängnis bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein Kind dreizehn Jahre alt wird, unantastbar.
Im Alter zwischen dreizehn und achtzehn Jahren können Eltern ein Kind rückwirkend "abtreiben"...
... unter der Bedingung, dass das Leben des Kindes "streng genommen" nicht endet.
Der Vorgang, mit dem das Leben eines Kindes abgeschlossen wird, das Kind aber dennoch am Leben bleibt, wird Umwandlung genannt.
Die Umwandlung ist inzwischen eine gängige Praxis in der Gesellschaft."


Na, habt ihr auch eine Gänsehaut? Diese vorangestellte Charta des Lebens, welche nach dem sogenannten "Heartland-Krieg" als Kompromiss zwischen den beiden Fronten des Krieges, den Abtreibungsgegnern und -befürwortern, verabschiedet wurde, wirft uns gleich in das Schreckensszenario einer Dystopie, in der Problemteenager einfach umgewandelt werden und der Welt als Organbank dienen. Zugegeben, diese Idee ist schon absurd, abstoßend und ein wenig makaber. Doch an alle, die nun die Stirn runzeln und an der Seriosität der Geschichte zweifeln: diese Idee funktioniert innerhalb dieser schockierenden und gleichzeitig wahnsinnig faszinierenden Geschichte, die Spannung, Gesellschaftskritik, Gruppendynamik und einen Schuss Wahnsinn zu einem komplexen Meisterwerk verarbeitet, das man nicht mehr aus der Hand legen kann.


"Die Charta sollte die Unantastbarkeit des Lebens eigentlich schützen, doch stattdessen machte sie es wertlos."


Direkt nach dem etwas schockierenden Prolog beginnt der erste Teil der sieben geteilten Geschichte mit der Flucht von Connor Lassiter, der bald schon ehrfürchtig von anderen Wandlern der "Flüchtling aus Akron" genannt wird. Denn statt sich seiner Umwandlung tatenlos zu ergeben, flieht er bevor die JuPos ihn abholen kommen. Als er verfolgt von Einsatzkräften über eine Autobahn rennt, trifft er in einer Kurzschlussreaktion eine Entscheidung, die außer seinem auch noch zwei weitere Leben rettet. Er überfällt ein angehaltenes Auto, nimmt den darin sitzenden Jungen als Geisel und rettet ihn somit unwissentlich vor seiner Umwandlung. Denn der Junge in den langen weißen Gewändern ist ein Zehntopfer - das zehnte Kind einer religiösen Familie, die ihr Kind willentlich dem Wohl der Gemeinschaft opfert. Auf seiner Flucht durch den Wald neben der Autobahn trifft er auf ein Mädchen, das im Durcheinander auf der Straße dem Bus entkommen ist, der sie vom Waisenhaus direkt ins Ernte Camp bringen sollte, da das Geld für staatliche Mündel knapp wird. Sie hilft ihm, einen der Polizisten zu überwältigen und so entsteht eine Schicksalsgemeinschaft, die vor den Vollstreckungsbeamten eines Staates fliehen muss, für den sie nicht mehr Wert sind als ihre Organe...


"Veränderung", schreit Risa auf. "Was meinen sie mit Veränderung? Sterben ist ein bisschen mehr als Veränderung!"


Die rasant erzählte Geschichte über das schwere Schicksal dreier Jugendliche, die unterschiedlicher nicht sein könnten aber in ihrem Hass auf den Staat vereint sind, hat mich von der ersten Seite in ihren Bann gezogen. Die Vorstellung, dass hier Kinder bloß durch Nichtgefallen oder Budgetkürzungen willentlich für das Allgemeinwohl geopfert werden und jedes Recht auf Leben, Selbstbestimmung oder ihren Körper verlieren ist einfach nur beklemmend. So klebte ich beinahe an den Seiten während ich mit Connor, Risa und Lev durch verlassene Straßen, von Versteck zu Versteck, ins Ernte Camp und zu einem Ort, den sie den "Friedhof" nennen reiste und ihnen von Herzen einen Moment Ruhe, Sicherheit und Hoffnung wünschte. Man fiebert mit, während die drei Jugendlichen vor den JuPos fliehen, fast einem Terrorattentat zum Opfer fallen, jeden Menge verrückte Aktionen durchziehen wie zum Beispiel ein Baby zu stehlen, sich streiten, wieder versöhnen und dabei an aller Not und allem Leid wachsen und zu sich finden. Auch einige wirklich berührende Szenen schmücken den Plot, der sonst vor allem auf Action, Gewissensfragen und die starken Charaktere baut. Die Szene einer Umwandlung aus der Sicht des Wandlers geschrieben, hat mich besonders berührt und ich musste einen Moment innehalten bevor ich weiter lesen konnte.


"Die Chirurgen heben etwas heraus. Er will nicht hinsehen, aber er kann nicht anders. Es ist
kein Blut da, sondern nur die sauerstoffreiche Lösung in fluoreszierendem Grün, wie
Frostschutzmittel."


Besonders hervorgehoben wird die perfide Idee durch den meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil, der uns einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen beschert ohne grausam oder blutig zu sein. Neal Shusterman versteht es geschickt, uns ein umfassendes Bild der Gesellschaft zu liefern, in dem er Protagonisten aus unterschiedlichen sozialen Gruppen und Lebenssituationen ihre Sichtweise schildern lässt. Lev kommt aus einer sehr gutsituierten Familie, die der Umwandlung nicht negativ gegenübersteht, Risa ist mit dem absoluten Abschaum des Landes aufgewachsen und als solchen behandelt worden und auch Connor lebte in schwierigen Verhältnissen. Der Druck, der durch die gehetzte Flucht, die immer wieder eingefädelten philosophischen Fragen und schockierende Szenen auf dem Leser wärt, ist heftiger als bei manch einem blutigen Thriller. Dadurch dass und Neal Shusterman uns kaum eine Verschnaufpause gönnt und in ruhigen Momenten geschickt die Erzählperspektive zu einem aufregenderen Schauplatz wechselt, hatte ich die Geschichte an einem Tag durchgelesen und konnte gleich zum zweiten Teil greifen.


"Wir sind keine Täter", sagt Connor." Wir sind abgehauen."
"Wir sind Schwerverbrecher", entgegnet Lev. "Was du tust, ich meine natürlich, was wir tun, ist nach den Bundesgesetzen ein Verbrechen."
"Was, Kleider stehlen?"
"Nein, uns selbst. Mit der Unterschrift unter den Umwandlungsverfügungen sind wir Eigentum des Staates geworden. Dass wir abgehauen sind, macht uns nach dem Bundesgesetz zu Verbrechern."


Erzählt wird die Geschichte immer abwechselnd aus der Sicht von den Hauptprotagonisten Connor, Risa und Lev als personale Erzähler. Das fand ich etwas schade, da ich bei diesen tiefgreifenden Charakteren gerne ihre Geschichte aus der Innensicht zum Beispiel aus der Ich-Perspektive erlebt hätte. Nichtsdestotrotz erhalten wir auf den 480 Seiten einen wundervollen Einblick in die Köpfe und Herzen der drei Wandler, die damit leben müssen, dass die Welt sie nicht wollte und sie bis zu ihrem 18. Geburtstag in Angst und Unruhe verbringen müssen. Mit wenigen Worten charakterisiert der Autor seine Protagonisten als starke Teenager, die vor allem eines sind: Menschen. Menschen, die Angst haben, Rache wollen, lieben, hassen, zweifeln, trauern, hoffen und leben wollen. Auch wenn das Buch an manchen Stellen hart und kompromisslos erscheint, hat es mich doch tief berührt. Ich liebe Bücher, die mich zum Nachdenken anregen, egal in welchem Genre sie angesiedelt und dieses hat mich wirklich sehr dazu angeregt! Es ist so unendlich schön und bitter mitzuerleben, wie die drei sich zusammen durchkämpfen und alle Seiten der Not kennenlernen. In der Mitte des Buches merkt man, dass sich der Autor sehr wohl auch Gedanken über Gruppendynamik gemacht hat und diese sehr glaubwürdig dargestellt. Wie Lev, Risa und Connor nach kurzer Zeit schon zusammenhalten obwohl sie sich am Anfang gar nicht leiden konnten, ist erstaunlich und auch sehr glaubwürdig dargestellt.


"In einer perfekten Welt wäre alles entweder weiß oder schwarz, richtig oder falsch, und jeder würde den Unterschied erkennen. Aber die Welt ist nicht perfekt. Das Problem sind die Menschen, die denken, sie wäre es."


Besonders beeindruckt hat mich die Figur Connor, der zwar jung und teils so dynamisch ist, dass er über das Ziel hinausschießt, aber der dennoch nicht bereit ist, kampflos sein Leben aufzugeben, so wenig lebenswert es in den Augen seiner Eltern oder der Gesellschaft auch sein mag. Er steht für das ein, an das er glaubt und beweist unendlich viel Mut und Tapferkeit ohne zu heldenhaft zu wirken. Es ist wunderschön mit anzusehen, wie aus dem sturen, rebellischen Problemteenager n verantwortungsvoller, aufrechter... nun ja... Held wird. Natürlich macht er am laufenden Band Fehler, handelt unüberlegt und gibt manchmal Sachen von sich, die andere verletzten, doch genau das macht seine Persönlichkeit aus. Er geht immer genau den Weg, den er für richtig hält und bleibt sich selbst treu, er ist ein aufrechter Anführer, der sich selbst zurücknimmt und seine Stärke nutzt er um anderen die helfende Hand zu reichen anstatt sie zu Boden zu drücken. Außerdem sind seine coolen Sprüche ("Hübsche Socken"), seine sarkastischen Bemerkungen und die lockeren Streitereien, die er anzettelt ein Lichtblick, der die niederschmetternde Stimmung etwas anhebt.


"Zuerst hat sich Risa Sorgen gemacht, aber mittlerweile kennt sie Connor zu gut. Er tut nur das Falsche, wenn es das Richtige ist."


Auch Risa hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Auch wenn man zu Beginn nicht so recht weiß, was man von ihr halten soll da sie nicht so offen, direkt und leicht zu lesen ist wie Connor, ist sie mir schnell ans Herz gewachsen und ich habe ihre Distanziertheit als Besonnenheit erkannt, verstanden, dass ihre Zurückhaltung eigentlich Intelligenz ist und sich ein riesiges Herz hinter ihren stillen Augen verbirgt. Durch sie kommt eine sanftere, mitfühlendere Note in die Geschichte und ihr analysierender Blick auf das Gruppengefüge hat mir den einen oder anderen Aha-Moment beschert.


"Vom Überleben auf der Straße hatte er keine Ahnung, aber Hunger macht jeden zum Überlebenskünstler."


Fast am spannendsten fand ich jedoch Levi Jedediah Calder, der sich als Zehntopfer freiwillig aus religiösen Gründen umwandeln lassen will und der auf genau diese Spende an die Gesellschaft sein ganzes Leben lang vorbereitet wurde. Dass diese Vorbereitung aber nichts anderes als eine Gehirnwäsche war, beginnt er erst zu verstehen als er auf der Flucht dazu gezwungen ist, selber zu denken und einen Überlebenstrieb zu entwickeln. Seine Entwicklung vom naiven, gottgläubigen Zehntopfer, der die Umwandlung als seine Bestimmung ansieht, zum zähen Überlebenskünstler, der vom Hass auf seine Eltern und den Staat zu Gräueltaten angetrieben wird, ist wohl die heftigste der Geschichte. Da er noch so jung ist und viel zerbrechlicher als die anderen wirkt, hat er in jedem Moment das absolute Mitgefühl des Lesers und wir müssen ihm fast alles was er tut verzeihen.


"Risa würde am liebsten aufstehen und gehen. Noch jetzt, am Ende ihres Lebens, gibt es diese eine, unvermeidliche Frage: Was taugst du?"

Auch alle Nebencharaktere sind authentisch und hinterlassen einen bleibenden Eindruck auch wenn sie nur eine sehr kurze Rolle spielen. In diesem Buch tauchen so viele Leute auf, die alle nur in wenigen Sätzen charakterisiert werden, was aber vollkommen ausreicht. Jeder der irgendwie auftaucht, seine Rolle spielen darf und schließlich wieder verschwindet, scheint sich perfekt in das komplexe Gebilde von Neal Shusterman einzufügen. Roland zum Beispiel fand ich einen super Charakter, da er zwar klar als "Der Böse" hingestellt wurde, andererseits aber auch ein armes Opfer der Regierung war, die ihm genauso an den Kragen wollte wie auch Lev, Risa und Connor. Ein ganz besonderer Nebencharakter ist auch der junge, dunkelhäutige Cy-Fi, den Lev auf seiner Flucht trifft. Der arme Junge hat nach einem Unfall den rechten Schläfenlappen eines Wandlers transplantiert bekommen und trägt jetzt fremde Gefühle und Erinnerungen in sich, die manchmal Überhand nehmen und ihn zu ungewollten Taten zwingen. Es ist einfach nur traurig, wie sehr er darunter leiden muss, dass in seinem Kopf nie Frieden und Ruhe herrscht und das ist noch nicht einmal zu weit hergeholt. Auch heute schon kann es nach einer Transplantation zu Charakterveränderungen kommen.


"Wandler gingen nicht mit einem Knall, nicht einmal mit einem Winseln. Sie verloschen still wie eine Kerzenflamme, die zwischen zwei Fingern ausgedrückt wird."


Und wie in einer jeden guten Dystopie schwingt auch eine ordentliche Portion Gesellschaftskritik mit. Vor allem geht es hier um die populäre Frage ob eine Abtreibung moralisch, rechtlich und gesellschaftlich gerechtfertigt ist. Diese Problematik, bei der gerade in den USA die Fronten der Befürworter und der Gegner sehr verhärtet sind, wird hier auf äußerst erschreckende und augenöffnende Art und Weise auf die Spitze getrieben. Dabei behält er es sich vor, nicht direkt auf die Frage zu antworten sondern vor allem auf die Brisanz und die Blindheit der Diskussion hinzuweisen. Dabei stellt er auch die Autorität und Legitimation von Gesetzen in Frage. Ist es Unrecht sich gegen ein Gesetz zu wenden, das Eltern und Erziehungsberechtigten erlaubt, unerwünschte und störende Jugendliche zwischen dem 13. und 18. Lebensjahr nachträglich abzutreiben? Muss man sich an das Gesetzt halten auch wenn es falsch ist? Und woher weiß man, dass nicht man selbst falsch liegt?


"Nichts anderes ist das Gesetz: wohlbegründete Vermutungen darüber, was richtig und was falsch sein könnte"


Aber es bleibt nicht nur die Frage nach der Moral, sondern auch nach dem Sitz der Seele und deren Verbleib beim Umwandeln. Denn wie Hayden mal fragte: "Aber wenn jeder Teil von dir am Leben ist", sagt Hayden, "nur eben in jemand anderem ... lebst du dann, oder bist du tot?" Die Wandler stellen sich immer wieder die Frage, ob sie - das was sie ausmacht oder ihr Bewusstsein - noch da sind, wenn sie umgewandelt werden. Außerdem werden immer wieder Spuren von Diskussionen über Gott und Gerechtigkeit miteingefädelt. Die naive aber doch ernsthafte Art und Weise wie die Protagonisten sich mit ihrem bevorstehenden Tod auseinandersetzen hat mich sehr beeindruckt und ich habe mir selbst folgende Frage gestellt:


"Was ist euch lieber: Sterben oder umgewandelt zu werden?
Jetzt weiß er es endlich. Vielleicht wollte er genau das. Vielleicht hat er Roland deshalb bis aufs Blut gereizt. Weil er lieber von wütender Hand umgebracht als mit kühler Gleichgültigkeit zerlegt werden will."


Doch die Kleinigkeit, die die Geschichte wirklich schlimm macht, ist der wahre Kern. Die Linie zwischen Fiktion und Realität ist gar nicht so klar, wie man nach dem abartigen Klapptext vielleicht annimmt. Einige der Kurzartikel, die dem Beginn eines neuen Textteils unterstehen sind nicht erfunden und erzählen eine grausame Geschichte. Denn ja es gibt einen Schwarzmarkt, auf dem mit Organen gehandelt wird, die durch Entführungen und Bestechung ergaunert wurden, wie es die Teilepiraten in diesem Buch tun und, auch um die Organspende ranken sich düstere Geschichten. Ein Beispiel dafür ist der Fall in Mosambik, in dem Waisenkindern Organe wie Augen, Leber und Herz entnommen wurden. Das im Buch angeführte "Storchen" ist ebenfalls nicht so unrealistisch. Bevor es möglich war abzutreiben, gab es ein sehr großes Problem mit ausgesetzten Kindern. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden in manchen europäischen Städten bis zu 30 % der geborenen Kinder in Findelhäusern abgegeben. Und auch, das der Abschaum der Bevölkerung als Organbank dienen soll ist keine komplett abwegige Idee. In China dienten zum Tode Verurteilte als Organspender, ob sie wollten oder nicht. Mehr als die Hälfte aller gespendeten Organe stammten von ehemaligen Häftlingen. Vielleicht weicht unsere Welt also gar nicht so weit von dieser Dystopie ab. Auch der medizinische Fortschritt in Transplantationen und Organspende scheint realistisch. Neal Shusterman selbst meinte in einem Interview, er wäre auf die Idee dieses Buches gekommen nachdem er einen Artikel eines Mediziners gelesen hatte, welcher meinte, dass in Zukunft 100% des Menschen "wieder verwendbar" seien.


"Aus mir wäre ohnehin nicht viel geworden, jetzt habe ich statistisch gesehen eine Chance, dass wenigstens ein Teil von mir irgendwo in der Welt große Bedeutung erlangt. Ich wäre lieber teilweise bedeutend als vollkommen nutzlos"



Ich könnte hier noch viele Gründe mehr angeben, wieso mich dieses Buch so sehr fasziniert und so gefesselt hat, aber am besten du machst dir selbst ein Bild und liest diesen wirklich tollen Roman. Ich würde das Buch aber erst Lesern ab 16 oder 18 Jahren empfehlen. Alles andere ist meiner Ansicht nach viel zu früh um mit diesem doch sehr schwierigen Thema fertig zu werden oder es wirklich ganz zu verstehen. Das Ende führt alle Stränge geschickt und zufriedenstellend zusammen, sodass man die Geschichte als Einzelband lesen könnte. Wer die Welt aber noch nicht so schnell verlassen und noch mehr von Connor, Lev und Risa lesen will, dem kann ich es dringend ans Herz legen, die drei weiteren Teile zu lesen.

"Bitte...", sagt der Junge.
Bitte was? Bitte verstoßen Sie gegen das Gesetz? Bitte bringen Sie sich selbst und die Schule in Gefahr? Aber nein, das ist es nicht, ganz und gar nicht. Eigentlich sagt er: Bitte seien Sie ein Mensch. Das Leben ist so voller Regeln und Zwänge, dass man das leicht vergisst."




Fazit:


Ein erschütternd reales Zukunftsszenario das einen umwerfenden Auftakt zu der Dystopie des Jahres darstellt. Für Science-Fiction-Liebhaber und jeden anderen Leser und Nichtleser auf dieser Welt auf der Suche nach einer berührenden Message ein absolutes Muss!
Erschüttert, berührt, verstört und begeistert!

Veröffentlicht am 23.07.2019

Ein erschütternd reales Zukunftsszenario: ein Muss!

Vollendet – Die Flucht
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"Vollendet" war mein erstes Buch von Neal Shusterman, den heute dank seiner "Scythe"-Reihe die ganze Welt kennt, dessen erste Science-Fiction-Quadrologie vor einigen Jahren aber noch ein absoluter Geheimtipp ...

"Vollendet" war mein erstes Buch von Neal Shusterman, den heute dank seiner "Scythe"-Reihe die ganze Welt kennt, dessen erste Science-Fiction-Quadrologie vor einigen Jahren aber noch ein absoluter Geheimtipp war. Als der Fischer Verlag nach Jahren sehnsuchtsvollen Wartens eine neue Auflage der Reihe herausbrachte und das zum Anlass nahm, endlich den vierten Teil von "Vollendet" auch auf deutsch herauszubringen, habe ich beschlossen, die ganze Reihe nochmals zu lesen und zu rezensieren. Und ich kann euch sagen - beim zweiten Mal hat mich diese Geschichte noch viel mehr erschüttert, berührt, verstört und begeistert!


"Ist sein Geist auf völlig unerklärliche Weise noch vollständig, obwohl sein Körper ausgeteilt worden ist wie ein Kartenspiel? Oder hat man ihn dermaßen zerrupft, dass von Bewusstsein keine Rede mehr sein kann, dass keinerlei Hoffnung besteht auf Himmel, Hölle oder sonst etwas, das ewig währt?"


Das Cover der neuen Auflage ist eine riesige Verbesserung zur alten Gestaltung. Das "alte Cover" war sehr schlicht gehalten mit dem glänzenden Metallic-Grau, den Flecken, Kratzern und Blutspritzern. Das sah ganz nett aus aber umgeworfen hat es mich nicht - ganz anders als sein Inhalt. Das neue Cover jedoch zeigt ein namenloses Gesicht, das mit kalten, wütenden Augen in die Kamera starrt, sodass man sofort in die Geschichte hineingezogen wird. Besonders gut gefällt mir auch der Pixel-Look des Gesichts, das durch die einzelnen Teile an die Umwandlung erinnert. Auch das neue Anhängsel am Titel finde ich passend. Warum der deutsche Titel jedoch "Vollendet" lautet und nicht "Umgewandelt" oder ähnliches haben ich immer noch nicht begriffen. Der Begriff "ein Leben vollenden" kommt nur einmal am Rande vor und ist für einen unwissenden Erstleser sehr nichtssagend. Das englische Original trifft den Kern der Geschichte mit dem Titel "Unwind", was frei übersetzt so viel bedeutet wie "umgewandelt" oder "aufgelöst" bedeutet, schon besser.


"Nach der Charta des Lebens ist das menschliche Leben von der Empfängnis bis zu dem Zeitpunkt, an dem ein Kind dreizehn Jahre alt wird, unantastbar.
Im Alter zwischen dreizehn und achtzehn Jahren können Eltern ein Kind rückwirkend "abtreiben"...
... unter der Bedingung, dass das Leben des Kindes "streng genommen" nicht endet.
Der Vorgang, mit dem das Leben eines Kindes abgeschlossen wird, das Kind aber dennoch am Leben bleibt, wird Umwandlung genannt.
Die Umwandlung ist inzwischen eine gängige Praxis in der Gesellschaft."


Na, habt ihr auch eine Gänsehaut? Diese vorangestellte Charta des Lebens, welche nach dem sogenannten "Heartland-Krieg" als Kompromiss zwischen den beiden Fronten des Krieges, den Abtreibungsgegnern und -befürwortern, verabschiedet wurde, wirft uns gleich in das Schreckensszenario einer Dystopie, in der Problemteenager einfach umgewandelt werden und der Welt als Organbank dienen. Zugegeben, diese Idee ist schon absurd, abstoßend und ein wenig makaber. Doch an alle, die nun die Stirn runzeln und an der Seriosität der Geschichte zweifeln: diese Idee funktioniert innerhalb dieser schockierenden und gleichzeitig wahnsinnig faszinierenden Geschichte, die Spannung, Gesellschaftskritik, Gruppendynamik und einen Schuss Wahnsinn zu einem komplexen Meisterwerk verarbeitet, das man nicht mehr aus der Hand legen kann.


"Die Charta sollte die Unantastbarkeit des Lebens eigentlich schützen, doch stattdessen machte sie es wertlos."


Direkt nach dem etwas schockierenden Prolog beginnt der erste Teil der sieben geteilten Geschichte mit der Flucht von Connor Lassiter, der bald schon ehrfürchtig von anderen Wandlern der "Flüchtling aus Akron" genannt wird. Denn statt sich seiner Umwandlung tatenlos zu ergeben, flieht er bevor die JuPos ihn abholen kommen. Als er verfolgt von Einsatzkräften über eine Autobahn rennt, trifft er in einer Kurzschlussreaktion eine Entscheidung, die außer seinem auch noch zwei weitere Leben rettet. Er überfällt ein angehaltenes Auto, nimmt den darin sitzenden Jungen als Geisel und rettet ihn somit unwissentlich vor seiner Umwandlung. Denn der Junge in den langen weißen Gewändern ist ein Zehntopfer - das zehnte Kind einer religiösen Familie, die ihr Kind willentlich dem Wohl der Gemeinschaft opfert. Auf seiner Flucht durch den Wald neben der Autobahn trifft er auf ein Mädchen, das im Durcheinander auf der Straße dem Bus entkommen ist, der sie vom Waisenhaus direkt ins Ernte Camp bringen sollte, da das Geld für staatliche Mündel knapp wird. Sie hilft ihm, einen der Polizisten zu überwältigen und so entsteht eine Schicksalsgemeinschaft, die vor den Vollstreckungsbeamten eines Staates fliehen muss, für den sie nicht mehr Wert sind als ihre Organe...


"Veränderung", schreit Risa auf. "Was meinen sie mit Veränderung? Sterben ist ein bisschen mehr als Veränderung!"


Die rasant erzählte Geschichte über das schwere Schicksal dreier Jugendliche, die unterschiedlicher nicht sein könnten aber in ihrem Hass auf den Staat vereint sind, hat mich von der ersten Seite in ihren Bann gezogen. Die Vorstellung, dass hier Kinder bloß durch Nichtgefallen oder Budgetkürzungen willentlich für das Allgemeinwohl geopfert werden und jedes Recht auf Leben, Selbstbestimmung oder ihren Körper verlieren ist einfach nur beklemmend. So klebte ich beinahe an den Seiten während ich mit Connor, Risa und Lev durch verlassene Straßen, von Versteck zu Versteck, ins Ernte Camp und zu einem Ort, den sie den "Friedhof" nennen reiste und ihnen von Herzen einen Moment Ruhe, Sicherheit und Hoffnung wünschte. Man fiebert mit, während die drei Jugendlichen vor den JuPos fliehen, fast einem Terrorattentat zum Opfer fallen, jeden Menge verrückte Aktionen durchziehen wie zum Beispiel ein Baby zu stehlen, sich streiten, wieder versöhnen und dabei an aller Not und allem Leid wachsen und zu sich finden. Auch einige wirklich berührende Szenen schmücken den Plot, der sonst vor allem auf Action, Gewissensfragen und die starken Charaktere baut. Die Szene einer Umwandlung aus der Sicht des Wandlers geschrieben, hat mich besonders berührt und ich musste einen Moment innehalten bevor ich weiter lesen konnte.


"Die Chirurgen heben etwas heraus. Er will nicht hinsehen, aber er kann nicht anders. Es ist
kein Blut da, sondern nur die sauerstoffreiche Lösung in fluoreszierendem Grün, wie
Frostschutzmittel."


Besonders hervorgehoben wird die perfide Idee durch den meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil, der uns einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen beschert ohne grausam oder blutig zu sein. Neal Shusterman versteht es geschickt, uns ein umfassendes Bild der Gesellschaft zu liefern, in dem er Protagonisten aus unterschiedlichen sozialen Gruppen und Lebenssituationen ihre Sichtweise schildern lässt. Lev kommt aus einer sehr gutsituierten Familie, die der Umwandlung nicht negativ gegenübersteht, Risa ist mit dem absoluten Abschaum des Landes aufgewachsen und als solchen behandelt worden und auch Connor lebte in schwierigen Verhältnissen. Der Druck, der durch die gehetzte Flucht, die immer wieder eingefädelten philosophischen Fragen und schockierende Szenen auf dem Leser wärt, ist heftiger als bei manch einem blutigen Thriller. Dadurch dass und Neal Shusterman uns kaum eine Verschnaufpause gönnt und in ruhigen Momenten geschickt die Erzählperspektive zu einem aufregenderen Schauplatz wechselt, hatte ich die Geschichte an einem Tag durchgelesen und konnte gleich zum zweiten Teil greifen.


"Wir sind keine Täter", sagt Connor." Wir sind abgehauen."
"Wir sind Schwerverbrecher", entgegnet Lev. "Was du tust, ich meine natürlich, was wir tun, ist nach den Bundesgesetzen ein Verbrechen."
"Was, Kleider stehlen?"
"Nein, uns selbst. Mit der Unterschrift unter den Umwandlungsverfügungen sind wir Eigentum des Staates geworden. Dass wir abgehauen sind, macht uns nach dem Bundesgesetz zu Verbrechern."


Erzählt wird die Geschichte immer abwechselnd aus der Sicht von den Hauptprotagonisten Connor, Risa und Lev als personale Erzähler. Das fand ich etwas schade, da ich bei diesen tiefgreifenden Charakteren gerne ihre Geschichte aus der Innensicht zum Beispiel aus der Ich-Perspektive erlebt hätte. Nichtsdestotrotz erhalten wir auf den 480 Seiten einen wundervollen Einblick in die Köpfe und Herzen der drei Wandler, die damit leben müssen, dass die Welt sie nicht wollte und sie bis zu ihrem 18. Geburtstag in Angst und Unruhe verbringen müssen. Mit wenigen Worten charakterisiert der Autor seine Protagonisten als starke Teenager, die vor allem eines sind: Menschen. Menschen, die Angst haben, Rache wollen, lieben, hassen, zweifeln, trauern, hoffen und leben wollen. Auch wenn das Buch an manchen Stellen hart und kompromisslos erscheint, hat es mich doch tief berührt. Ich liebe Bücher, die mich zum Nachdenken anregen, egal in welchem Genre sie angesiedelt und dieses hat mich wirklich sehr dazu angeregt! Es ist so unendlich schön und bitter mitzuerleben, wie die drei sich zusammen durchkämpfen und alle Seiten der Not kennenlernen. In der Mitte des Buches merkt man, dass sich der Autor sehr wohl auch Gedanken über Gruppendynamik gemacht hat und diese sehr glaubwürdig dargestellt. Wie Lev, Risa und Connor nach kurzer Zeit schon zusammenhalten obwohl sie sich am Anfang gar nicht leiden konnten, ist erstaunlich und auch sehr glaubwürdig dargestellt.


"In einer perfekten Welt wäre alles entweder weiß oder schwarz, richtig oder falsch, und jeder würde den Unterschied erkennen. Aber die Welt ist nicht perfekt. Das Problem sind die Menschen, die denken, sie wäre es."


Besonders beeindruckt hat mich die Figur Connor, der zwar jung und teils so dynamisch ist, dass er über das Ziel hinausschießt, aber der dennoch nicht bereit ist, kampflos sein Leben aufzugeben, so wenig lebenswert es in den Augen seiner Eltern oder der Gesellschaft auch sein mag. Er steht für das ein, an das er glaubt und beweist unendlich viel Mut und Tapferkeit ohne zu heldenhaft zu wirken. Es ist wunderschön mit anzusehen, wie aus dem sturen, rebellischen Problemteenager n verantwortungsvoller, aufrechter... nun ja... Held wird. Natürlich macht er am laufenden Band Fehler, handelt unüberlegt und gibt manchmal Sachen von sich, die andere verletzten, doch genau das macht seine Persönlichkeit aus. Er geht immer genau den Weg, den er für richtig hält und bleibt sich selbst treu, er ist ein aufrechter Anführer, der sich selbst zurücknimmt und seine Stärke nutzt er um anderen die helfende Hand zu reichen anstatt sie zu Boden zu drücken. Außerdem sind seine coolen Sprüche ("Hübsche Socken"), seine sarkastischen Bemerkungen und die lockeren Streitereien, die er anzettelt ein Lichtblick, der die niederschmetternde Stimmung etwas anhebt.


"Zuerst hat sich Risa Sorgen gemacht, aber mittlerweile kennt sie Connor zu gut. Er tut nur das Falsche, wenn es das Richtige ist."


Auch Risa hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Auch wenn man zu Beginn nicht so recht weiß, was man von ihr halten soll da sie nicht so offen, direkt und leicht zu lesen ist wie Connor, ist sie mir schnell ans Herz gewachsen und ich habe ihre Distanziertheit als Besonnenheit erkannt, verstanden, dass ihre Zurückhaltung eigentlich Intelligenz ist und sich ein riesiges Herz hinter ihren stillen Augen verbirgt. Durch sie kommt eine sanftere, mitfühlendere Note in die Geschichte und ihr analysierender Blick auf das Gruppengefüge hat mir den einen oder anderen Aha-Moment beschert.


"Vom Überleben auf der Straße hatte er keine Ahnung, aber Hunger macht jeden zum Überlebenskünstler."


Fast am spannendsten fand ich jedoch Levi Jedediah Calder, der sich als Zehntopfer freiwillig aus religiösen Gründen umwandeln lassen will und der auf genau diese Spende an die Gesellschaft sein ganzes Leben lang vorbereitet wurde. Dass diese Vorbereitung aber nichts anderes als eine Gehirnwäsche war, beginnt er erst zu verstehen als er auf der Flucht dazu gezwungen ist, selber zu denken und einen Überlebenstrieb zu entwickeln. Seine Entwicklung vom naiven, gottgläubigen Zehntopfer, der die Umwandlung als seine Bestimmung ansieht, zum zähen Überlebenskünstler, der vom Hass auf seine Eltern und den Staat zu Gräueltaten angetrieben wird, ist wohl die heftigste der Geschichte. Da er noch so jung ist und viel zerbrechlicher als die anderen wirkt, hat er in jedem Moment das absolute Mitgefühl des Lesers und wir müssen ihm fast alles was er tut verzeihen.


"Risa würde am liebsten aufstehen und gehen. Noch jetzt, am Ende ihres Lebens, gibt es diese eine, unvermeidliche Frage: Was taugst du?"

Auch alle Nebencharaktere sind authentisch und hinterlassen einen bleibenden Eindruck auch wenn sie nur eine sehr kurze Rolle spielen. In diesem Buch tauchen so viele Leute auf, die alle nur in wenigen Sätzen charakterisiert werden, was aber vollkommen ausreicht. Jeder der irgendwie auftaucht, seine Rolle spielen darf und schließlich wieder verschwindet, scheint sich perfekt in das komplexe Gebilde von Neal Shusterman einzufügen. Roland zum Beispiel fand ich einen super Charakter, da er zwar klar als "Der Böse" hingestellt wurde, andererseits aber auch ein armes Opfer der Regierung war, die ihm genauso an den Kragen wollte wie auch Lev, Risa und Connor. Ein ganz besonderer Nebencharakter ist auch der junge, dunkelhäutige Cy-Fi, den Lev auf seiner Flucht trifft. Der arme Junge hat nach einem Unfall den rechten Schläfenlappen eines Wandlers transplantiert bekommen und trägt jetzt fremde Gefühle und Erinnerungen in sich, die manchmal Überhand nehmen und ihn zu ungewollten Taten zwingen. Es ist einfach nur traurig, wie sehr er darunter leiden muss, dass in seinem Kopf nie Frieden und Ruhe herrscht und das ist noch nicht einmal zu weit hergeholt. Auch heute schon kann es nach einer Transplantation zu Charakterveränderungen kommen.


"Wandler gingen nicht mit einem Knall, nicht einmal mit einem Winseln. Sie verloschen still wie eine Kerzenflamme, die zwischen zwei Fingern ausgedrückt wird."


Und wie in einer jeden guten Dystopie schwingt auch eine ordentliche Portion Gesellschaftskritik mit. Vor allem geht es hier um die populäre Frage ob eine Abtreibung moralisch, rechtlich und gesellschaftlich gerechtfertigt ist. Diese Problematik, bei der gerade in den USA die Fronten der Befürworter und der Gegner sehr verhärtet sind, wird hier auf äußerst erschreckende und augenöffnende Art und Weise auf die Spitze getrieben. Dabei behält er es sich vor, nicht direkt auf die Frage zu antworten sondern vor allem auf die Brisanz und die Blindheit der Diskussion hinzuweisen. Dabei stellt er auch die Autorität und Legitimation von Gesetzen in Frage. Ist es Unrecht sich gegen ein Gesetz zu wenden, das Eltern und Erziehungsberechtigten erlaubt, unerwünschte und störende Jugendliche zwischen dem 13. und 18. Lebensjahr nachträglich abzutreiben? Muss man sich an das Gesetzt halten auch wenn es falsch ist? Und woher weiß man, dass nicht man selbst falsch liegt?


"Nichts anderes ist das Gesetz: wohlbegründete Vermutungen darüber, was richtig und was falsch sein könnte"


Aber es bleibt nicht nur die Frage nach der Moral, sondern auch nach dem Sitz der Seele und deren Verbleib beim Umwandeln. Denn wie Hayden mal fragte: "Aber wenn jeder Teil von dir am Leben ist", sagt Hayden, "nur eben in jemand anderem ... lebst du dann, oder bist du tot?" Die Wandler stellen sich immer wieder die Frage, ob sie - das was sie ausmacht oder ihr Bewusstsein - noch da sind, wenn sie umgewandelt werden. Außerdem werden immer wieder Spuren von Diskussionen über Gott und Gerechtigkeit miteingefädelt. Die naive aber doch ernsthafte Art und Weise wie die Protagonisten sich mit ihrem bevorstehenden Tod auseinandersetzen hat mich sehr beeindruckt und ich habe mir selbst folgende Frage gestellt:


"Was ist euch lieber: Sterben oder umgewandelt zu werden?
Jetzt weiß er es endlich. Vielleicht wollte er genau das. Vielleicht hat er Roland deshalb bis aufs Blut gereizt. Weil er lieber von wütender Hand umgebracht als mit kühler Gleichgültigkeit zerlegt werden will."


Doch die Kleinigkeit, die die Geschichte wirklich schlimm macht, ist der wahre Kern. Die Linie zwischen Fiktion und Realität ist gar nicht so klar, wie man nach dem abartigen Klapptext vielleicht annimmt. Einige der Kurzartikel, die dem Beginn eines neuen Textteils unterstehen sind nicht erfunden und erzählen eine grausame Geschichte. Denn ja es gibt einen Schwarzmarkt, auf dem mit Organen gehandelt wird, die durch Entführungen und Bestechung ergaunert wurden, wie es die Teilepiraten in diesem Buch tun und, auch um die Organspende ranken sich düstere Geschichten. Ein Beispiel dafür ist der Fall in Mosambik, in dem Waisenkindern Organe wie Augen, Leber und Herz entnommen wurden. Das im Buch angeführte "Storchen" ist ebenfalls nicht so unrealistisch. Bevor es möglich war abzutreiben, gab es ein sehr großes Problem mit ausgesetzten Kindern. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden in manchen europäischen Städten bis zu 30 % der geborenen Kinder in Findelhäusern abgegeben. Und auch, das der Abschaum der Bevölkerung als Organbank dienen soll ist keine komplett abwegige Idee. In China dienten zum Tode Verurteilte als Organspender, ob sie wollten oder nicht. Mehr als die Hälfte aller gespendeten Organe stammten von ehemaligen Häftlingen. Vielleicht weicht unsere Welt also gar nicht so weit von dieser Dystopie ab. Auch der medizinische Fortschritt in Transplantationen und Organspende scheint realistisch. Neal Shusterman selbst meinte in einem Interview, er wäre auf die Idee dieses Buches gekommen nachdem er einen Artikel eines Mediziners gelesen hatte, welcher meinte, dass in Zukunft 100% des Menschen "wieder verwendbar" seien.


"Aus mir wäre ohnehin nicht viel geworden, jetzt habe ich statistisch gesehen eine Chance, dass wenigstens ein Teil von mir irgendwo in der Welt große Bedeutung erlangt. Ich wäre lieber teilweise bedeutend als vollkommen nutzlos"



Ich könnte hier noch viele Gründe mehr angeben, wieso mich dieses Buch so sehr fasziniert und so gefesselt hat, aber am besten du machst dir selbst ein Bild und liest diesen wirklich tollen Roman. Ich würde das Buch aber erst Lesern ab 16 oder 18 Jahren empfehlen. Alles andere ist meiner Ansicht nach viel zu früh um mit diesem doch sehr schwierigen Thema fertig zu werden oder es wirklich ganz zu verstehen. Das Ende führt alle Stränge geschickt und zufriedenstellend zusammen, sodass man die Geschichte als Einzelband lesen könnte. Wer die Welt aber noch nicht so schnell verlassen und noch mehr von Connor, Lev und Risa lesen will, dem kann ich es dringend ans Herz legen, die drei weiteren Teile zu lesen.

"Bitte...", sagt der Junge.
Bitte was? Bitte verstoßen Sie gegen das Gesetz? Bitte bringen Sie sich selbst und die Schule in Gefahr? Aber nein, das ist es nicht, ganz und gar nicht. Eigentlich sagt er: Bitte seien Sie ein Mensch. Das Leben ist so voller Regeln und Zwänge, dass man das leicht vergisst."




Fazit:


Ein erschütternd reales Zukunftsszenario das einen umwerfenden Auftakt zu der Dystopie des Jahres darstellt. Für Science-Fiction-Liebhaber und jeden anderen Leser und Nichtleser auf dieser Welt auf der Suche nach einer berührenden Message ein absolutes Muss!
Erschüttert, berührt, verstört und begeistert!

Veröffentlicht am 10.05.2019

Ein düsteres, vielseitiges Abenteuer mit viel Herz, Schmerz und Seele!

Die Schlacht um Wörter und Blut (Das Buch von Kelanna 3)
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"Was geschrieben steht, trifft immer ein."


Schon nach dem ersten Teil der Trilogie um das Buch von Kelanna "Ein Meer aus Tinte und Gold" war ich hin und weg von diesem wundervollen Märchen für Erwachsene, ...


"Was geschrieben steht, trifft immer ein."


Schon nach dem ersten Teil der Trilogie um das Buch von Kelanna "Ein Meer aus Tinte und Gold" war ich hin und weg von diesem wundervollen Märchen für Erwachsene, das in eine wundervoll schreckliche Welt aus Wasser, Schiffen und Magie entführt. Doch spätestens nach dem grandiosen Mittelteil "Ein Schatz aus Papier und Magie", der ästhetische Gestaltung, herzzerreißende Gefühle und brutale Action zu einer unvergesslichen Geschichte vereint, bin ich ein absoluter Fan von Traci Chee. Dieser finale Abschlussband schafft es noch, Band 1 und 2 in Emotionalität, Epik, Abenteuer und Ideenreichtum zu toppen und zeigt mal wieder, wie viel Kraft Fantasy haben kann.

Ganz besonders hervorheben will ich zu Beginn wieder die Gestaltung, die ein einziger Traum in metallischem Rosé ist und zusammen mit den anderen beiden Cover zu den schönsten aber vor allem zu den passendsten Gestaltungen gehören, die ich jemals gesehen habe. Ganz im Zentrum des Bildes steht wieder das alte Buch mit den vergilbten Seiten, aus dessen Tiefen eine Kämpfertruppe reitet, Pfeile abschießt und von einem Mädchen in wallenden Gewändern beobachtet wird - einem Mädchen als Leserin oder als Gelesene, als Teil der Geschichte, die kein Anfang und kein Ende hat. Der Titel umrahmt dieses Bild wieder in schwarzen Schnörkeln und komplettiert die Gestaltung. Im Gegensatz zu der warmen, lebendigen Ausstrahlung von Band 1 und der kälteren, klinischeren Faszination des Silbers in Band 2, verströmt der metallisch schimmernde, Rotton mit braunen und violetten Einschlägen eine düstere, brutalere, blutigere Atmosphäre. Zusammen mit dem Titel und der blutroten Farbe unter dem Umschlag, der wieder mit wunderschönen, goldenen Gravuren verziert ist, kommt sofort die Assoziation von Blut und einer großen Schlacht auf. Einzig das hellrosa Lesebändchen scheint optisch nicht ganz in die Gestaltung zu passen.

Besonders gut gefallen hat mir aber auch wieder die Gestaltung innerhalb der Buchdeckel. Dort erwarten unser prüfendes Leserauge jede Menge liebevoll gestaltete Überraschungen wie zum Beispiel wieder eine geheime Botschaft, die zwischen den Zeilen versteckt an uns gerichtet ist:

"Dies ist eine Geschichte so weit wie das Meer,
doch die Freiheit geht für dich nur bis hierher.
Wohin du auch segelst, dein Weg ist gesetzt,
das Schicksal lacht dich aus und zieht fester das Netz.

Ein Wort mag in Kelanna ein Hauch nur sein,
doch wenn es geschrieben steht, trifft es auch ein.
Siehst du genau hin, gelingt der Versuch?
Das Buch ist eine Welt, denn die Welt ist ein Buch."

Und wir verstehen, dass die versteckten Botschaften Teil eines Gedichts waren, welches für die Handlung noch eine tiefere Bedeutung bekommt. Dazu sage ich nur eins: WOW! Von einer herausnehmbaren Klappkarte von Kelanna, über kurze Briefen, geheimnisvolle Zeichen und Inschriften, geschwärzte Seiten, vergilbt erscheinende, hervorgehobene Auszüge aus dem Buch, verschiedene Schriftarten bis zu versteckten Botschaften ist alles dabei um unser Gehirn auf Trab zu halten und unser Leserherz zu erfreuen! So werden wir auf ungewohnt aktive Weise mit in das Geschehen mit einbezogen und werden Teil dieser Geschichte, sowie Sefia Teil der ihrseits gelesenen Geschichte wird. Ganz große Klasse!


Erste Sätze: "Es war einmal, doch es würde nicht immer sein. So hören alle Geschichten auf."


Wir steigen mit einem schicksalshaften Prolog in die Geschichte ein, der an den Anfangsprolog im ersten Teil erinnert und wieder einmal das prophezeite Ende vorweg nimmt, das Sefia und Archer mit aller Kraft zu verhindern suchen. Es stand geschrieben, dass Sefia im Alter von fünf Jahren ihre Mutter verlieren, im Alter von neun erleben, wie ihr Vater ermordet wurde und auf der Flucht ihr letztes Familienmitglied verlieren sollte. Es stand geschrieben, dass sie mächtiger werden sollte, als ihre Eltern und eines Tages im schrecklichsten Krieg aller Zeiten das Blatt wenden würde. Es stand geschrieben, dass Archer mit einer Narbe gebrandmarkt, das Kämpfen gelehrt und zum größten Krieger aller Zeiten werden sollte. Es stand geschrieben, dass die beiden sich treffen und verlieben sollten. Und all das ist eingetroffen. Denn was geschrieben steht, trifft schließlich immer ein - das ist in Kelanna ein ungeschriebenes Gesetz. Doch es steht auch geschrieben, dass Sefia alles verlieren würde. Dass der Junge, den sie liebt eine unaufhaltsame Armee anführen, alle fünf Inseln im Roten Krieg erobern und dann alleine sterben würde. Und um das zu verhindern müssen die beiden nicht nur den Krieg aufhalten, der um sie herum bereits tobt, ihre Freunde retten, die zwischen die Schusslinien der Völker geraten und ein längst verschollenes Relikt aus alten Zeiten finden, sondern auch das Schicksal verändern und die Geschichte umschreiben, in der sie leben. Doch egal was die beiden tun, das Schicksal hat immer die Nase vorn und als die finale Schlacht bevor steht, läuft ihnen die Zeit davon...


"Die Macht der Skriptoren hat die Geografie der Welt verändern. Dann muss sie auch in der Lage sein, das Leben eines Jungen zu retten." Sie hob Zeigefinger und Mittelfinger und kreuzte sie. "Den Jungen, den ich liebe."


Mit dem vorweggenommenen Ende und der erkennbaren Hinführung aller Handlungsstränge auf eben dieses hat Traci Chee ihrer Geschichte einen düsteren Rahmen gegeben, welcher uns im Nacken sitzt und beim Lesen vorantreibt. Denn dass wir mit jeder Seite dem unausweichlichen Übel einen Schritt näher kommen und unsere geliebten Protagonisten dem Schicksal nicht entkommen können, erzeugt eine schmerzliche, verzweifelte, intensive Spannung, die uns gleichzeitig bangen und hoffen, schneller voran hetzen und langsamer lesen, aufgeben und mitleiden lässt. Auch wenn ich mir zu Beginn sicher war, dass die beiden einen Weg finden würden, ihr Schicksal abzuwenden, wurde ich mir mit jeder verstreichenden Seite unsicherer, ob die Autorin uns als letzten genialen Schachzug nicht genau das Ende vorsetzen würde, dass sie uns schon zu Beginn versprochen hatte. So wollte ich gleichzeitig schnell am Ende ankommen, um zu sehen, was im Endkampf wirklich passieren würde, gleichzeitig aber doch nie das Ende erreichen, falls ich dort wirklich mit der schmerzlichen Wahrheit konfrontiert werden würde.

Dieser ständige Zwiespalt gepaart mit dem für einen Fantasy-Roman und vor allem für einen Finalband sehr langsamen aber wunderbar flüssigen und intensiven Erzähltempo, haben mich schier wahnsinnig gemacht. Anstatt dass hier Schlachten Schlag auf Schlag auf uns herein prasseln, lässt sich Traci Chee mal wieder genüsslich viel Zeit, verschiedene Handlungsstränge auszubauen, die in verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten spielen und diese langsam, nach und nach zu einem Gesamtbild zu verflechten. Immer wieder erfahren wir hier mehr über die Geschichte Keleannas, die Pläne der Wache, die wahre Rolle von Sefias Eltern und die Vergangenheit Archers. Mit jeder neuen Wendung, mit jedem neuen Schritt in eine andere Richtung, mit jeder neuen Enthüllung, mit jedem Kapitel wird dieses Buch um ein wundervolles Detail reicher und die Handlung um einen Hauch komplexer. Man kann vielleicht kritisieren, dass in diesem Buch ein bisschen viel Hin- und Her die Handlung beherrscht und zwischendurch die Offenheit ein wenig auf die Bremse drückt, doch gerade diese chronische Unentschlossenheit, die rastlose Suche nach dem richtigen Weg und das sich Entfernen und wieder Aufeinanderzugehen der Protagonisten, macht das Feinfühlige der Geschichte aus. Durch den geschickt verschlungenen Aufbau der Geschichte und dem tollen Setting, das abwechslungsreich und wunderbar detailreich ausgearbeitet ist, wird die Geschichte zu einem kleinen Gesamtkunstwerk!


"Zuhause ist das, was du dazu machst, hatte Nin ihr einmal erklärt. Sefia hatte lange geglaubt, ihr Zuhause sei für immer verloren - ein Haus auf einem Hügel über dem Meer, eine Frau mit Wunderhänden -, doch als sie sich jetzt in der Kapitänskajüte umschaute, wurde ihr klar, dass sie nicht nur ein einziges Zuhause hatte, sondern mehrere."



Vor allem zeichnet diese Reihe jedoch die hinreißende Atmosphäre aus, die unter anderem durch den besonderen Schreibstil von Traci Chee generiert wird. Die bildgewaltige Sprache schafft es, die schöne Vielseitigkeit Kelannas und ihrer Bewohner in Worte zu bannen, sie mit Vergleichen greifbar zu machen und sie mit ergreifenden Metaphern direkt in unserem Herzen zu verankern. Dabei kreiert sie einen eigentlich abstrusen Mix aus brutaler Düsternis und süßen Träumen. Noch nie habe ich eine Geschichte gelesen, in der düstere Gedanken so dicht neben zärtlicher, verborgener Liebe liegen, in der neben der brutalen Welt noch so viel Platz für sehnsuchtsvolle Melancholie ist, in der auf der einen Seite spannende Abenteuer locken, während ein Wort weiter schon der tiefe Abgrund wartet. Trotz dass diese Teil handlungsintensiver, blutiger und epischer ist, beschert er uns dennoch einen zarten, vorsichtigen Blick auf die Charaktere und enthüllt mit einfühlsamen Gefühlsbeschreibungen die Abgründe der menschlichen Seele.
Durch den teils auktorialen Erzähler und teils personalen Erzähler bekommen wir die Möglichkeit, unsere lesenden Blicke über alle Zeiten, über alle Königreiche Kelannas und in etliche Köpfe schweifen zu lassen und gleichzeitig globale, lokale, zwischenmenschliche und innerpersonelle Entwicklungen im Auge zu behalten.


"Ich bin dir nicht deshalb gefolgt, weil du strak warst. Ich bin dir gefolgt weil du mutig, klug und freundlich warst. Ich habe nicht deshalb an dich geglaubt, weil du magische Kräfte hattest. Ich habe an dich geglaubt, weil du mitfühlend und einfallsreich und zu stur warst, um aufzugeben." Er küsste sie aufs Haar. "Ich liebe dich nicht deshalb, weil du mächtig bist. Ich liebe dich, weil du eine gute Freundin bist und eine noch bessere Gefährtin und mit Abstand der beste Mensch, der mir je begegnet ist." Er hob ihr Kinn und sah ihr in die Augen. "Sefia, du bist mehr als genug!"


Sefia ist immer noch die Hauptprotagonistin und mit ihrer verständnisvollen, mutigen, herzlichen, sensiblen, selbstbestimmten, gewitzten Art einfach liebenswert. Hier macht sie jedoch eine leise, zaghafte Entwicklung durch, die sie auf eine ganz neue Betrachtungsebene hebt. War sie zuvor von ihrem Durst nach Rache für den Tod ihrer Eltern und der Entführung ihrer Tante getrieben, litt sie nach der Begegnung mit der Wache noch unter der Wahrheit, dass ihre eigenen Eltern Schuld am Leid sind, dass Archer und so vielen anderen widerfahren war, beginnt sie hier mit der Entdeckung neuer Kräfte eine ungeahnte Verantwortung für Kelanna und all seine Bewohner zu entwickeln und muss gleichzeitig mit neuen Fragen kämpfen - was wird sie tun, wenn sie sich zwischen Archer und der Welt entscheiden muss? Kann sie ihn vor seinem Schicksal beschützen? Was ist sie bereit für ihr eigenes Glück zu opfern? Und: Wie kann sie weiterleben wenn er tatsächlich sterben sollte?

Auch Archer kämpft mit seinen inneren Dämonen. Seitdem er durch Sefia von seiner dunklen Zeit in den Kampfringen der Wache befreit wurde, ist viel passiert. Er hat langsam wieder den Menschen in sich entdeckt, zu sprechen begonnen und durch Liebe sein Herz geheilt. Er hat den geschlagenen, gebrochenen Teil in ihm nach Blut und Vergeltung schreien hören und dem Drang zu kämpfen nachgegeben, als er das Echo dieses Bedürfnisses in den Augen der anderen Blutritzer gesehen hat. Er hat mit den Blutritzern, der Mannschaft der "Strömung der Zuversicht" und Sefia eine neue Familie gefunden und gleichzeitig seine richtige Familie verloren. Und er wurde immer mehr zu dem unerbittlichen Krieger, den die Prophezeiung vorsieht, und spielte damit in die Hände der Wache. Ist er wirklich der Junge mit den Narben, der die Welt verändern und dann sterben wird? Kann er seine Blutritzer oder überhaupt irgendeine Armee anführen, wenn er immer noch jede Nacht vom Töten träumt? Will er vor seiner Verantwortung weglaufen und damit alle seine Freunde im Stich lassen, nur um dem Schicksal zu entkommen? Und kann er es zulassen, dass Sefia tausende von Leben auslöscht und die Geschichte neu schreibt, nur um sein Leben zu retten?


"Scarzas Stimme war sanft an Archers Schulter. "Wir werden die Last eine Weile für dich mittragen." Und da wusste Archer, wer er ohne Gewalt war, ohne das Töten, ohne Schicksal, Er vergrub das Gesicht in Sefias Haaren und weinte leise - vor Trauer und vor Erleichterung. Ich bin ein Junge, der lebt."


Neben den beiden tauchen natürlich unsere altbekannten und geliebten Seitenhandlungsstränge wieder auf, die mit der Zeit immer mehr an Bedeutung gewonnen haben. So sind wieder Käpt´n Lees´ Bestrebungen, durch unglaubliche Geschichten und Abenteuer unsterblich zu werden, Teil der Handlung und wir ziehen mit der "Strömung der Zuversicht" und den anderen Schiffen der Gesetzlosen in einen unmöglichen Krieg. Schon im ersten Teil habe ich den geheimnisvollen Käpt´n genau wie seine Crew, dem starken Zimmermann Ross, dem blinden und doch nicht orientierungslosen Ersten Steuermann, dem mutigen Lind, der geschickten Doc, dem missmutigen Jigo, dem begabten Cooky, der jungen Vorsängerin Jules mit der wunderschönen Stimme und vielen weiteren besonderen Persönlichkeiten, ins Herz geschlossen. Doch während Käpt´n Lees in Band 1 mit wahnwitzigen Abenteuern versucht hat, auf Teufel komm raus in den Köpfen der Menschen als Erinnerung zu überleben und somit unsterblich zu sein, versucht er sich seinen Platz in der Geschichte nun durch seinen heldenhaften Kampf gegen die Übermacht der Allianz zu sichern. Und das obwohl sein prophezeiter Tod immer näher rückt.


"Ohne auf die Kugeln zu achten, die zwischen den Gewehrmännern und dem Feind hin- und herflogen, erklomm Ed den Bugspriet. Da stand er in voller Größe über das Wasser gebeugt, weithin zu sehen. Hier bin ich, dachte er und betrachtete die Schiffe von Delienne. Euer König."



Nebenbei verfolgen wir auch wieder Tanin, deren Geschichte und Beweggründe genau wie der genaue Hintergrund der Machenschaften der Wache genauer durchleuchtet werden. Und während sie in zuvor noch klar als Antagonistin gesehen werden konnte, wird die Ambivalenz hier immer größer und dem Leser fällt es immer schwerer, sie für ihre Taten zu verurteilen. Sehr bereichert haben die Geschichte auch die beiden neueren Handlungsstränge, die die Geschichte des einsamen Königs von Delienne und die Erlebnisse der jungen Seekadetten Haldon Lac und Olly Hob auf sehr berührende Art und Weise verbinden. In Band 2 haben wir schon den melancholischen, lebensmüden Eduoar Corabelli kennengelernt, der als letzter König von seinem Berater und besten Freund Arcadimon aus dem Verkehr gezogen werden musste, damit sich der Plan der Wache erfüllen konnte. Da in Arcadimon aber zu lange schon widersprüchliche Gefühle kämpfen und er es nicht über sich bringen konnte, den Mann zu töten, der er mit ganzem Herzen liebt, hat er seinen Tod vorgetäuscht und damit sein eigenes Leben in Gefahr gebracht. Als Ed, der sich seitdem anonym und unerkannt auf der Flucht befindet, auf die beiden verrückten und sensationshungrigen Rotröcke Lac und Hob trifft, färbt ein wenig von ihrer Lebensfreude auf ihn ab, und er beginnt wieder ein Ziel vor Augen seine Melancholie zu überwinden und schließlich in seine Rolle als König hinein zu wachsen.

!!Achtung Spoiler!!


Was dieses düstere, vielseitige Abenteuer mit viel Herz, Schmerz und Seele aber wirklich so herausstechen lässt, ist dass die Autorin hier wieder mit dem Grundgedanken einer Geschichte spielt, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischen lässt und die philosophische Frage in den Raum wirft, ob wir bloß Teil einer Geschichte sind, die andere lesen. So eröffnet sie neue Möglichkeiten für die Geschichte und schafft gleichzeitig eine Hymne an das Lesen an sich. Ein Beispiel für solch einen Transzendenzversuch ist, dass sie dem Leser die Möglichkeit bietet, vor der großen Schlacht, mit dem Lesen aufzuhören, damit alle geliebten Protagonisten weiterlesen. So legt sie die Verantwortung für das Ende der Geschichte in die Hände des Lesers und erklärt somit, warum immer eintreffen muss, was geschrieben steht: als Leser kann man einfach nicht aufhören zu lesen, egal was einen noch erwartet.

"Du wirst nicht erfahren, wie es endet. Denn es endet nicht. Die Geschichte geht immer weiter und weiter, für immer, und sie leben. Sie leben alle. Solange du nicht umblätterst."

Ein weiterer absolut genialer Schachzug ist, dass die Erzählerin der Geschichte als aktive Figur in die Handlung einsteigt und somit die Leserin oder wie im Originaltitel angedeutet, "The Storyteller", als Person mit Gefühlen auftaucht. Dieser Gedankengang ist so gruselig wie faszinierend und hat mich wirklich beeindruckt. Genauso sehr beeindruckt hat mich ihr Mut, das absolut gemeine Ende wirklich durchzuziehen. Denn in der letzten epischen Schlacht erfüllt sich doch tatsächlich das vorgesehene Schicksal für alle Protagonisten und lässt uns gleichzeitig verzweifelt, tieftraurig, orientierungslos und mit dem Wunsch zurück, man hätte an der Stelle aufgehört, wo es uns freigestellt wurde weiterzulesen.

"Die Welt war ein Buch. Sie lebte in einem Buch. Sie war in einem Buch. Und alle Bücher waren von jemandem geschrieben worden. (…) Da blickte Sefia auf, durch die steinerne Decke des Tresors hindurch, durch die Bergluft, an den Sternen vorbei.
Und dahinter...
Da war ich, schaute sie an, während ich dir ihre Geschichte erzähle."



!!Spoiler Ende!!




Fazit:

Dieses düstere, vielseitige Abenteuer mit viel Herz, Schmerz und Seele toppt seine beiden Vorgänger nochmal was Emotionalität, Epik, Abenteuer und Ideenreichtum angeht und wird mit seiner bildgewaltigen Sprache, den tiefgründigen, ambivalenten Protagonisten, der genialen Handlungskonzeption, dem abstrusen Mix aus brutaler Düsternis und süßen Träumen und den spannenden Experimenten mit Erzählperspektiven zu einer Hymne an das Lesen an sich.
Einfach WOW!

Veröffentlicht am 10.05.2019

Ein düsteres, vielseitiges Abenteuer mit viel Herz, Schmerz und Seele!

Die Schlacht um Wörter und Blut (Das Buch von Kelanna 3)
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"Was geschrieben steht, trifft immer ein."


Schon nach dem ersten Teil der Trilogie um das Buch von Kelanna "Ein Meer aus Tinte und Gold" war ich hin und weg von diesem wundervollen Märchen für Erwachsene, ...


"Was geschrieben steht, trifft immer ein."


Schon nach dem ersten Teil der Trilogie um das Buch von Kelanna "Ein Meer aus Tinte und Gold" war ich hin und weg von diesem wundervollen Märchen für Erwachsene, das in eine wundervoll schreckliche Welt aus Wasser, Schiffen und Magie entführt. Doch spätestens nach dem grandiosen Mittelteil "Ein Schatz aus Papier und Magie", der ästhetische Gestaltung, herzzerreißende Gefühle und brutale Action zu einer unvergesslichen Geschichte vereint, bin ich ein absoluter Fan von Traci Chee. Dieser finale Abschlussband schafft es noch, Band 1 und 2 in Emotionalität, Epik, Abenteuer und Ideenreichtum zu toppen und zeigt mal wieder, wie viel Kraft Fantasy haben kann.

Ganz besonders hervorheben will ich zu Beginn wieder die Gestaltung, die ein einziger Traum in metallischem Rosé ist und zusammen mit den anderen beiden Cover zu den schönsten aber vor allem zu den passendsten Gestaltungen gehören, die ich jemals gesehen habe. Ganz im Zentrum des Bildes steht wieder das alte Buch mit den vergilbten Seiten, aus dessen Tiefen eine Kämpfertruppe reitet, Pfeile abschießt und von einem Mädchen in wallenden Gewändern beobachtet wird - einem Mädchen als Leserin oder als Gelesene, als Teil der Geschichte, die kein Anfang und kein Ende hat. Der Titel umrahmt dieses Bild wieder in schwarzen Schnörkeln und komplettiert die Gestaltung. Im Gegensatz zu der warmen, lebendigen Ausstrahlung von Band 1 und der kälteren, klinischeren Faszination des Silbers in Band 2, verströmt der metallisch schimmernde, Rotton mit braunen und violetten Einschlägen eine düstere, brutalere, blutigere Atmosphäre. Zusammen mit dem Titel und der blutroten Farbe unter dem Umschlag, der wieder mit wunderschönen, goldenen Gravuren verziert ist, kommt sofort die Assoziation von Blut und einer großen Schlacht auf. Einzig das hellrosa Lesebändchen scheint optisch nicht ganz in die Gestaltung zu passen.

Besonders gut gefallen hat mir aber auch wieder die Gestaltung innerhalb der Buchdeckel. Dort erwarten unser prüfendes Leserauge jede Menge liebevoll gestaltete Überraschungen wie zum Beispiel wieder eine geheime Botschaft, die zwischen den Zeilen versteckt an uns gerichtet ist:

"Dies ist eine Geschichte so weit wie das Meer,
doch die Freiheit geht für dich nur bis hierher.
Wohin du auch segelst, dein Weg ist gesetzt,
das Schicksal lacht dich aus und zieht fester das Netz.

Ein Wort mag in Kelanna ein Hauch nur sein,
doch wenn es geschrieben steht, trifft es auch ein.
Siehst du genau hin, gelingt der Versuch?
Das Buch ist eine Welt, denn die Welt ist ein Buch."

Und wir verstehen, dass die versteckten Botschaften Teil eines Gedichts waren, welches für die Handlung noch eine tiefere Bedeutung bekommt. Dazu sage ich nur eins: WOW! Von einer herausnehmbaren Klappkarte von Kelanna, über kurze Briefen, geheimnisvolle Zeichen und Inschriften, geschwärzte Seiten, vergilbt erscheinende, hervorgehobene Auszüge aus dem Buch, verschiedene Schriftarten bis zu versteckten Botschaften ist alles dabei um unser Gehirn auf Trab zu halten und unser Leserherz zu erfreuen! So werden wir auf ungewohnt aktive Weise mit in das Geschehen mit einbezogen und werden Teil dieser Geschichte, sowie Sefia Teil der ihrseits gelesenen Geschichte wird. Ganz große Klasse!


Erste Sätze: "Es war einmal, doch es würde nicht immer sein. So hören alle Geschichten auf."


Wir steigen mit einem schicksalshaften Prolog in die Geschichte ein, der an den Anfangsprolog im ersten Teil erinnert und wieder einmal das prophezeite Ende vorweg nimmt, das Sefia und Archer mit aller Kraft zu verhindern suchen. Es stand geschrieben, dass Sefia im Alter von fünf Jahren ihre Mutter verlieren, im Alter von neun erleben, wie ihr Vater ermordet wurde und auf der Flucht ihr letztes Familienmitglied verlieren sollte. Es stand geschrieben, dass sie mächtiger werden sollte, als ihre Eltern und eines Tages im schrecklichsten Krieg aller Zeiten das Blatt wenden würde. Es stand geschrieben, dass Archer mit einer Narbe gebrandmarkt, das Kämpfen gelehrt und zum größten Krieger aller Zeiten werden sollte. Es stand geschrieben, dass die beiden sich treffen und verlieben sollten. Und all das ist eingetroffen. Denn was geschrieben steht, trifft schließlich immer ein - das ist in Kelanna ein ungeschriebenes Gesetz. Doch es steht auch geschrieben, dass Sefia alles verlieren würde. Dass der Junge, den sie liebt eine unaufhaltsame Armee anführen, alle fünf Inseln im Roten Krieg erobern und dann alleine sterben würde. Und um das zu verhindern müssen die beiden nicht nur den Krieg aufhalten, der um sie herum bereits tobt, ihre Freunde retten, die zwischen die Schusslinien der Völker geraten und ein längst verschollenes Relikt aus alten Zeiten finden, sondern auch das Schicksal verändern und die Geschichte umschreiben, in der sie leben. Doch egal was die beiden tun, das Schicksal hat immer die Nase vorn und als die finale Schlacht bevor steht, läuft ihnen die Zeit davon...


"Die Macht der Skriptoren hat die Geografie der Welt verändern. Dann muss sie auch in der Lage sein, das Leben eines Jungen zu retten." Sie hob Zeigefinger und Mittelfinger und kreuzte sie. "Den Jungen, den ich liebe."


Mit dem vorweggenommenen Ende und der erkennbaren Hinführung aller Handlungsstränge auf eben dieses hat Traci Chee ihrer Geschichte einen düsteren Rahmen gegeben, welcher uns im Nacken sitzt und beim Lesen vorantreibt. Denn dass wir mit jeder Seite dem unausweichlichen Übel einen Schritt näher kommen und unsere geliebten Protagonisten dem Schicksal nicht entkommen können, erzeugt eine schmerzliche, verzweifelte, intensive Spannung, die uns gleichzeitig bangen und hoffen, schneller voran hetzen und langsamer lesen, aufgeben und mitleiden lässt. Auch wenn ich mir zu Beginn sicher war, dass die beiden einen Weg finden würden, ihr Schicksal abzuwenden, wurde ich mir mit jeder verstreichenden Seite unsicherer, ob die Autorin uns als letzten genialen Schachzug nicht genau das Ende vorsetzen würde, dass sie uns schon zu Beginn versprochen hatte. So wollte ich gleichzeitig schnell am Ende ankommen, um zu sehen, was im Endkampf wirklich passieren würde, gleichzeitig aber doch nie das Ende erreichen, falls ich dort wirklich mit der schmerzlichen Wahrheit konfrontiert werden würde.

Dieser ständige Zwiespalt gepaart mit dem für einen Fantasy-Roman und vor allem für einen Finalband sehr langsamen aber wunderbar flüssigen und intensiven Erzähltempo, haben mich schier wahnsinnig gemacht. Anstatt dass hier Schlachten Schlag auf Schlag auf uns herein prasseln, lässt sich Traci Chee mal wieder genüsslich viel Zeit, verschiedene Handlungsstränge auszubauen, die in verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten spielen und diese langsam, nach und nach zu einem Gesamtbild zu verflechten. Immer wieder erfahren wir hier mehr über die Geschichte Keleannas, die Pläne der Wache, die wahre Rolle von Sefias Eltern und die Vergangenheit Archers. Mit jeder neuen Wendung, mit jedem neuen Schritt in eine andere Richtung, mit jeder neuen Enthüllung, mit jedem Kapitel wird dieses Buch um ein wundervolles Detail reicher und die Handlung um einen Hauch komplexer. Man kann vielleicht kritisieren, dass in diesem Buch ein bisschen viel Hin- und Her die Handlung beherrscht und zwischendurch die Offenheit ein wenig auf die Bremse drückt, doch gerade diese chronische Unentschlossenheit, die rastlose Suche nach dem richtigen Weg und das sich Entfernen und wieder Aufeinanderzugehen der Protagonisten, macht das Feinfühlige der Geschichte aus. Durch den geschickt verschlungenen Aufbau der Geschichte und dem tollen Setting, das abwechslungsreich und wunderbar detailreich ausgearbeitet ist, wird die Geschichte zu einem kleinen Gesamtkunstwerk!


"Zuhause ist das, was du dazu machst, hatte Nin ihr einmal erklärt. Sefia hatte lange geglaubt, ihr Zuhause sei für immer verloren - ein Haus auf einem Hügel über dem Meer, eine Frau mit Wunderhänden -, doch als sie sich jetzt in der Kapitänskajüte umschaute, wurde ihr klar, dass sie nicht nur ein einziges Zuhause hatte, sondern mehrere."



Vor allem zeichnet diese Reihe jedoch die hinreißende Atmosphäre aus, die unter anderem durch den besonderen Schreibstil von Traci Chee generiert wird. Die bildgewaltige Sprache schafft es, die schöne Vielseitigkeit Kelannas und ihrer Bewohner in Worte zu bannen, sie mit Vergleichen greifbar zu machen und sie mit ergreifenden Metaphern direkt in unserem Herzen zu verankern. Dabei kreiert sie einen eigentlich abstrusen Mix aus brutaler Düsternis und süßen Träumen. Noch nie habe ich eine Geschichte gelesen, in der düstere Gedanken so dicht neben zärtlicher, verborgener Liebe liegen, in der neben der brutalen Welt noch so viel Platz für sehnsuchtsvolle Melancholie ist, in der auf der einen Seite spannende Abenteuer locken, während ein Wort weiter schon der tiefe Abgrund wartet. Trotz dass diese Teil handlungsintensiver, blutiger und epischer ist, beschert er uns dennoch einen zarten, vorsichtigen Blick auf die Charaktere und enthüllt mit einfühlsamen Gefühlsbeschreibungen die Abgründe der menschlichen Seele.
Durch den teils auktorialen Erzähler und teils personalen Erzähler bekommen wir die Möglichkeit, unsere lesenden Blicke über alle Zeiten, über alle Königreiche Kelannas und in etliche Köpfe schweifen zu lassen und gleichzeitig globale, lokale, zwischenmenschliche und innerpersonelle Entwicklungen im Auge zu behalten.


"Ich bin dir nicht deshalb gefolgt, weil du strak warst. Ich bin dir gefolgt weil du mutig, klug und freundlich warst. Ich habe nicht deshalb an dich geglaubt, weil du magische Kräfte hattest. Ich habe an dich geglaubt, weil du mitfühlend und einfallsreich und zu stur warst, um aufzugeben." Er küsste sie aufs Haar. "Ich liebe dich nicht deshalb, weil du mächtig bist. Ich liebe dich, weil du eine gute Freundin bist und eine noch bessere Gefährtin und mit Abstand der beste Mensch, der mir je begegnet ist." Er hob ihr Kinn und sah ihr in die Augen. "Sefia, du bist mehr als genug!"


Sefia ist immer noch die Hauptprotagonistin und mit ihrer verständnisvollen, mutigen, herzlichen, sensiblen, selbstbestimmten, gewitzten Art einfach liebenswert. Hier macht sie jedoch eine leise, zaghafte Entwicklung durch, die sie auf eine ganz neue Betrachtungsebene hebt. War sie zuvor von ihrem Durst nach Rache für den Tod ihrer Eltern und der Entführung ihrer Tante getrieben, litt sie nach der Begegnung mit der Wache noch unter der Wahrheit, dass ihre eigenen Eltern Schuld am Leid sind, dass Archer und so vielen anderen widerfahren war, beginnt sie hier mit der Entdeckung neuer Kräfte eine ungeahnte Verantwortung für Kelanna und all seine Bewohner zu entwickeln und muss gleichzeitig mit neuen Fragen kämpfen - was wird sie tun, wenn sie sich zwischen Archer und der Welt entscheiden muss? Kann sie ihn vor seinem Schicksal beschützen? Was ist sie bereit für ihr eigenes Glück zu opfern? Und: Wie kann sie weiterleben wenn er tatsächlich sterben sollte?

Auch Archer kämpft mit seinen inneren Dämonen. Seitdem er durch Sefia von seiner dunklen Zeit in den Kampfringen der Wache befreit wurde, ist viel passiert. Er hat langsam wieder den Menschen in sich entdeckt, zu sprechen begonnen und durch Liebe sein Herz geheilt. Er hat den geschlagenen, gebrochenen Teil in ihm nach Blut und Vergeltung schreien hören und dem Drang zu kämpfen nachgegeben, als er das Echo dieses Bedürfnisses in den Augen der anderen Blutritzer gesehen hat. Er hat mit den Blutritzern, der Mannschaft der "Strömung der Zuversicht" und Sefia eine neue Familie gefunden und gleichzeitig seine richtige Familie verloren. Und er wurde immer mehr zu dem unerbittlichen Krieger, den die Prophezeiung vorsieht, und spielte damit in die Hände der Wache. Ist er wirklich der Junge mit den Narben, der die Welt verändern und dann sterben wird? Kann er seine Blutritzer oder überhaupt irgendeine Armee anführen, wenn er immer noch jede Nacht vom Töten träumt? Will er vor seiner Verantwortung weglaufen und damit alle seine Freunde im Stich lassen, nur um dem Schicksal zu entkommen? Und kann er es zulassen, dass Sefia tausende von Leben auslöscht und die Geschichte neu schreibt, nur um sein Leben zu retten?


"Scarzas Stimme war sanft an Archers Schulter. "Wir werden die Last eine Weile für dich mittragen." Und da wusste Archer, wer er ohne Gewalt war, ohne das Töten, ohne Schicksal, Er vergrub das Gesicht in Sefias Haaren und weinte leise - vor Trauer und vor Erleichterung. Ich bin ein Junge, der lebt."


Neben den beiden tauchen natürlich unsere altbekannten und geliebten Seitenhandlungsstränge wieder auf, die mit der Zeit immer mehr an Bedeutung gewonnen haben. So sind wieder Käpt´n Lees´ Bestrebungen, durch unglaubliche Geschichten und Abenteuer unsterblich zu werden, Teil der Handlung und wir ziehen mit der "Strömung der Zuversicht" und den anderen Schiffen der Gesetzlosen in einen unmöglichen Krieg. Schon im ersten Teil habe ich den geheimnisvollen Käpt´n genau wie seine Crew, dem starken Zimmermann Ross, dem blinden und doch nicht orientierungslosen Ersten Steuermann, dem mutigen Lind, der geschickten Doc, dem missmutigen Jigo, dem begabten Cooky, der jungen Vorsängerin Jules mit der wunderschönen Stimme und vielen weiteren besonderen Persönlichkeiten, ins Herz geschlossen. Doch während Käpt´n Lees in Band 1 mit wahnwitzigen Abenteuern versucht hat, auf Teufel komm raus in den Köpfen der Menschen als Erinnerung zu überleben und somit unsterblich zu sein, versucht er sich seinen Platz in der Geschichte nun durch seinen heldenhaften Kampf gegen die Übermacht der Allianz zu sichern. Und das obwohl sein prophezeiter Tod immer näher rückt.


"Ohne auf die Kugeln zu achten, die zwischen den Gewehrmännern und dem Feind hin- und herflogen, erklomm Ed den Bugspriet. Da stand er in voller Größe über das Wasser gebeugt, weithin zu sehen. Hier bin ich, dachte er und betrachtete die Schiffe von Delienne. Euer König."



Nebenbei verfolgen wir auch wieder Tanin, deren Geschichte und Beweggründe genau wie der genaue Hintergrund der Machenschaften der Wache genauer durchleuchtet werden. Und während sie in zuvor noch klar als Antagonistin gesehen werden konnte, wird die Ambivalenz hier immer größer und dem Leser fällt es immer schwerer, sie für ihre Taten zu verurteilen. Sehr bereichert haben die Geschichte auch die beiden neueren Handlungsstränge, die die Geschichte des einsamen Königs von Delienne und die Erlebnisse der jungen Seekadetten Haldon Lac und Olly Hob auf sehr berührende Art und Weise verbinden. In Band 2 haben wir schon den melancholischen, lebensmüden Eduoar Corabelli kennengelernt, der als letzter König von seinem Berater und besten Freund Arcadimon aus dem Verkehr gezogen werden musste, damit sich der Plan der Wache erfüllen konnte. Da in Arcadimon aber zu lange schon widersprüchliche Gefühle kämpfen und er es nicht über sich bringen konnte, den Mann zu töten, der er mit ganzem Herzen liebt, hat er seinen Tod vorgetäuscht und damit sein eigenes Leben in Gefahr gebracht. Als Ed, der sich seitdem anonym und unerkannt auf der Flucht befindet, auf die beiden verrückten und sensationshungrigen Rotröcke Lac und Hob trifft, färbt ein wenig von ihrer Lebensfreude auf ihn ab, und er beginnt wieder ein Ziel vor Augen seine Melancholie zu überwinden und schließlich in seine Rolle als König hinein zu wachsen.

!!Achtung Spoiler!!


Was dieses düstere, vielseitige Abenteuer mit viel Herz, Schmerz und Seele aber wirklich so herausstechen lässt, ist dass die Autorin hier wieder mit dem Grundgedanken einer Geschichte spielt, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verwischen lässt und die philosophische Frage in den Raum wirft, ob wir bloß Teil einer Geschichte sind, die andere lesen. So eröffnet sie neue Möglichkeiten für die Geschichte und schafft gleichzeitig eine Hymne an das Lesen an sich. Ein Beispiel für solch einen Transzendenzversuch ist, dass sie dem Leser die Möglichkeit bietet, vor der großen Schlacht, mit dem Lesen aufzuhören, damit alle geliebten Protagonisten weiterlesen. So legt sie die Verantwortung für das Ende der Geschichte in die Hände des Lesers und erklärt somit, warum immer eintreffen muss, was geschrieben steht: als Leser kann man einfach nicht aufhören zu lesen, egal was einen noch erwartet.

"Du wirst nicht erfahren, wie es endet. Denn es endet nicht. Die Geschichte geht immer weiter und weiter, für immer, und sie leben. Sie leben alle. Solange du nicht umblätterst."

Ein weiterer absolut genialer Schachzug ist, dass die Erzählerin der Geschichte als aktive Figur in die Handlung einsteigt und somit die Leserin oder wie im Originaltitel angedeutet, "The Storyteller", als Person mit Gefühlen auftaucht. Dieser Gedankengang ist so gruselig wie faszinierend und hat mich wirklich beeindruckt. Genauso sehr beeindruckt hat mich ihr Mut, das absolut gemeine Ende wirklich durchzuziehen. Denn in der letzten epischen Schlacht erfüllt sich doch tatsächlich das vorgesehene Schicksal für alle Protagonisten und lässt uns gleichzeitig verzweifelt, tieftraurig, orientierungslos und mit dem Wunsch zurück, man hätte an der Stelle aufgehört, wo es uns freigestellt wurde weiterzulesen.

"Die Welt war ein Buch. Sie lebte in einem Buch. Sie war in einem Buch. Und alle Bücher waren von jemandem geschrieben worden. (…) Da blickte Sefia auf, durch die steinerne Decke des Tresors hindurch, durch die Bergluft, an den Sternen vorbei.
Und dahinter...
Da war ich, schaute sie an, während ich dir ihre Geschichte erzähle."



!!Spoiler Ende!!




Fazit:

Dieses düstere, vielseitige Abenteuer mit viel Herz, Schmerz und Seele toppt seine beiden Vorgänger nochmal was Emotionalität, Epik, Abenteuer und Ideenreichtum angeht und wird mit seiner bildgewaltigen Sprache, den tiefgründigen, ambivalenten Protagonisten, der genialen Handlungskonzeption, dem abstrusen Mix aus brutaler Düsternis und süßen Träumen und den spannenden Experimenten mit Erzählperspektiven zu einer Hymne an das Lesen an sich.
Einfach WOW!

Veröffentlicht am 04.03.2019

Ein Roman, der genau den Nerv der Zeit trifft!

On The Come Up
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"You can´t stop me on the come up"

Nachdem Angie Thomas 2017 mit ihrem Sozialthriller um die andauernde Polizeigewalt und den offenen Rassismus in den USA die Welt aufgerüttelt hat, musste ich natürlich ...

"You can´t stop me on the come up"

Nachdem Angie Thomas 2017 mit ihrem Sozialthriller um die andauernde Polizeigewalt und den offenen Rassismus in den USA die Welt aufgerüttelt hat, musste ich natürlich ihren nächsten Roman "On The Come Up" auch lesen. Und auch wenn das ein wenig meine Sorge war, ist ihr neuer Roman keineswegs eine etwas veränderte Neuauflage von „The Hate U Give“ sondern erzählt eine ganz neue Geschichte über ein anderes Mädchen, mit anderem Unterton, anderer Message und anderem Schwerpunkt, erschafft dabei aber ein Ergebnis, das genauso wichtig, genauso schmerzhaft aufrichtig und berührend ist, wie ihr Debüt. Einfach nur WOW!

"Was hat die Welt in letzter Zeit mit dir gemacht?"
Sie hat meine Familie in eine extrem miese Lage gebracht. Sie hat meine Mom um ihren Job gebracht. Sie hat mich auf den Boden geschmissen. Sie hat mich hoodlum genannt.
"Sie hat mir verdammt viel angetan.", sage ich.
Da lehnt Doc sich lächelnd zurück. "Dann lass die Welt mal wissen, wie du dich fühlst."

Das Cover ist schon Teil des wundervollen Kunstwerkes, das diese Geschichte darstellt. Gott-segne-den-cbj-Verlag - hat dieser sich nämlich entschieden, das Originalcover beizubehalten. Im Gegensatz zu "The Hate U Give", das uns strahlend weiß entgegenleuchtete und dessen Titel in schwarzer Schrift geschrieben war, ist hier der Hintergrund schwarz und der Titel prangt in großen, weißen Lettern neben dem Hauptmotiv. Wie das Design hier wieder mit den Kontrasten "Schwarz" und "Weiß" spielt, was natürlich einen passenden Bezug zur Handlung darstellt, ist auffallend hintersinnig. Bis auf den umgekehrten Kontrast lassen sich noch mehr Gemeinsamkeiten zwischen "THUG" und "OTCU" feststellen: beide haben einen roten Buchrücken, der Autorentitel und weitere Highlights sind in eben dieser Farbe geschrieben und außer dem Comic-Mädchen ist das Bild leer. Auch hier trifft die Gestaltung des Mädchens meine Vorstellung von ihr ganz wunderbar. Die dunkelhäutige Silhouette trägt Timberland Boots, hat Braids (also permanent geflochtene Haare wie z.B. Cornrows), trägt einen Anglerhut, eine Armeehose, ein schwarzes Top, ein Mikrofon in der Hand und den Arm zur Siegespose erhoben - in zwei Worten: genau Bri. Auch der Titel passt wieder wie die Faust aufs Auge und der Untertitel fasst ebenfalls den Grundgedanken der Geschichte wunderbar zusammen.


"There´s a beast that roams my streets,
and he goes by the name of crack cocaine,
it´s kinda strange how he gets in the veins
and turn mothers into strangers who only share the same name"


Auch innerhalb der Buchdeckel ist das Buch super konzipiert - sowohl vom Verlag als auch von der Autorin. In drei Teile - "Old School", "Golden Age" und "New School" - und 34 Kapitel geteilt ist die Geschichte übersichtlich formatiert und gebündelt lesbar. Außerdem sind die vielen wundervollen Rap-Texte, die in der Handlung vorkommen abgedruckt und zwar -Halleluja- in Originalsprache! Ich finde, es gibt nichts Anstrengenderes als wenn kunstvolle Wortgebilde, Lyrik oder Gedichte (und als Lyrik kann man diese Texte definitiv bezeichnen) schlecht ins Deutsche übersetzt werden. Manche amerikanische Ausdrücke und vor allem Slang kann man einfach nicht übersetzten ohne dass es total lächerlich klingt und deshalb danke ich der Übersetzerin Henriette Zeltner von Herzen dafür, dass sie es bei den Originalen belassen hat. So sind gewisse Grundkenntnisse der englischen Sprache zwar Voraussetzung für das Verstehen der Hiphop-Passagen, an vielen Stellen steht jedoch als Kompromiss sowohl die englische als auch die deutsche Version einer wichtigen Zeile da.


"Unarmed and dangerous, but America, you made us,
only time we famous, is when we die and you blame us."


Was ebenfalls auffällt, ist dass Slang, Jugendsprache und wichtige Rap-Ausdrücke wie zum Beispiel "Battle", "Flow" oder "Shout-Out" ebenfalls in Originalsprache belassen wurden. Hasser von Anglizismen werden hier zwar nicht viel Spaß haben aber die restliche Leserschaft kann sich eines authentischen Leseerlebnisses erfreuen. Als kleine Hilfe stellt uns der Verlag wieder ein kurzes Glossar am Ende mit kurzen Erklängen der wichtigsten Slang-, Rap- und Insider-Begriffen zur Seite, sodass man schnell hinten spicken kann, wenn einem nicht ganz klar ist, was Bri mit "S´up?" will oder wer denn "Lil´ Kim" ist, über die alle reden. In Anbetracht dieser vielen Pluspunkte ist es nur ein sehr kleiner Wermutstropfen, dass sich leider viele Tippfehler finden lassen.


Erster Satz: "Vielleicht muss ich heute Abend noch jemand killen."


So beginnt Angie Thomas ihren zweiten Roman, der jedoch keineswegs gleich auf der ersten Seite von einem Mord spricht - nein, es geht hier um den großen Traum unserer Protagonistin Bri, ein Rap-Battle im Ring zu gewinnen und als Hip-Hop-Star groß rauszukommen - den Traum zu verwirklichen, den ihr Vater alias der große Rapper Lawless, fast zu erreichen geschafft hätte, wenn er nicht erschossen worden wäre. Bri hat definitiv Talent im Rappen, doch auch als sie sich im Ring beweist und ihren Battle-Gegner Milez tatsächlich "killt", stehen ihre Chancen auf den großen Durchbruch eher schlecht. Zuhause wartet ein leerer Kühlschrank auf sie, im Briefkasten stapeln sich unbezahlte Rechnungen, ständig wird Strom oder Gas abgestellt und es droht der Rausschmiss aus der Wohnung. Denn obwohl ihr großer Bruder Trey einen Studienabschluss mit Auszeichnungen hat und ihre Mutter Jay rund um die Uhr arbeitet, reicht es nicht aus um über die Runden zu kommen. Der Grund ist: kommen aus Garden Heights, einem Ghetto-ähnlichen Stadtteil, der durch Gang-Gewalt und Drogenhandel ebenso bestimmt wird wie durch die florierende Hiphop-Szene. Und dieser Fakt gepaart mit der Farbe ihrer Haut (schwarz) reicht aus, dass Trey nur in einer Pizzeria arbeiten kann und Jay als ehemalig Drogenabhängige keinen Job mehr findet, als sie gekündigt wird. Bri soll sich also unbedingt auf die Schule konzentrieren und "etwas aus ihrem Leben machen" doch alles was sie will, ist rappen, damit ihrer Familie helfen und endlich nicht mehr unsichtbar sein. Und als sie alle Wut und Frustration in einem Song katalysiert wird sie tatsächlich über nach berühmt - doch schnell wünscht sie sich, wieder unsichtbar zu sein, denn sie gerät durch ein paar wütende Zeilen mitten in einen Streit, der zu eskalieren droht, mitten in die Fronten zwischen zwei wütende Gangs während sie in den Medien gleichzeitig als talentiert Newcomerin gefeiert und als gewaltbereite Anstifterin verschrien wird - und sie muss sich entscheiden, wer sie sein will und ob sie ihr "Come-Up" wirklich zu jedem Preis durchziehen will...


"Verdammt, all das, wovon ich geträumt habe, könnte wahr werden. Ich könnte es als Rapperin schaffen. Das ist nicht nur irgendein wildes Produkt meiner Fantasie. Das ist... möglich."


Mit Bris Leben in Garden Heights illustriert Angie Thomas leider die aktuelle Situation vieler Randgruppen und der dunkelhäutigen Bevölkerung in Amerika und erzählt eine authentische und erschreckende Geschichte über das Leben in verarmten Vierteln, Vorurteile, unterschwelligen Rassismus und offen ausgesprochenen Hass. Alltäglicher Rassismus wie skeptische Blicke des Verkäufers in einem Laden, doppelte Kontrollen durch Sicherheitsbeamte und abfällige Bemerkungen werden dabei genauso schmerzhaft ehrlich dargestellt wie die Gang-Gewalt, die ständige Bedrohung durch Waffen, der Handel mit Drogen, die hohe Arbeitslosigkeit und Verschuldung, die das Leben in der "Hood" kennzeichnen. Gerade auch diese unfassbare Armut und Perspektivlosigkeit der "Ghetto"-Bewohner geht ans Herz und zerfetzt die Idee des "Amerikanischen Traums" in der Luft. Durch Anspielungen auf Martin Luther King, die Bürgerrechtsbewegung, Malcolm X oder die Black Panther Party geht sie nebenbei auch auf den historischen Kontext ein, wobei nur wenig Hintergrundwissen erwartet wird und viele Erklärungen dem unwissenden Leser unter die Arme greifen. Auch Polizeigewalt und Willkür spielen hier wie in "The Hate U Give" eine Rolle, hier aber nur am Rande. So wird am Ende wohl jedem Leser eindrücklich klar, dass es auch nach 8 Jahre Obama-Präsidentschaft (und unter Trump nun sowieso) bittere Realität ist, dass dunkelhäutige Menschen in Amerika immer noch diskriminiert werden, im Durchschnitt ärmer sind, schlechtere Jobs, einen schwereren Zugang zu Bildung und dafür mehr Probleme mit Polizeigewalt haben.


"Jay seufzt. "Manchmal gelten für Schwarze andere Regeln, Baby", sagt sie. "Verdammt, manchmal spielen die Dame während wir in einer scheißkomplizierten Schachpartie stecken. Das ist eine beschissene Tatsache, aber es ist eine Tatsache."


Diese brutal ehrliche und ans Herz gehend konzipierte Gesellschaftskritik ist jedoch nicht Mittelpunkt des Romans und wird auch nicht mit Holzhammer-Methode in den Leser eingeprügelt. Im absoluten Fokus steht hier unsere Protagonistin Bri - ihre Träume, ihr Handeln, ihre Gefühle und ihr Instrument um die Stimme zu erheben: Hiphop. Eigentlich kann ich mit dieser Stilrichtung nicht besonders viel anfangen, da ich Gangster Rap immer als ziemlich lächerlich empfunden habe. Hier geht es jedoch um genau das: die Illusionen in der Szene, die Klischees um Drogen, Waffen und Gewalt, die aber eigentlich nichts anderes sind als ein wütender Hilfeschrei. Auch wenn die Musik einfach nicht meins ist, kann ich jetzt viel besser nachvollziehen, wie viel gerade diese Stilrichtung bewegen kann und dass es sich oft lohnt genauer hinzuhören.


"Dieser Kerl wird mit ein paar Lines dein Leben verändern." So war es. Seit Nas mir erklärt hat, die Welt gehöre mir, war nichts mehr so wie vorher. Nach diesem Gefühl bin ich süchtig. Es ist der Grund, warum ich rappe."


Um das Feeling zu bekommen, das Bri beschreibt, habe ich mir vor dem Lesen einige ihrer Top 5 Rapper mal angehört, was ich wirklich jedem Leser empfehlen kann, der noch nicht viel mit Rap zu tun hatte. Bris abgedruckte Freestyle-Raps und vor allem ihr Song "On The Come Up" sind kleine Kunstwerke mit Wortspielen, Reimen und viel spitzer Kritik, die die Geschichte unglaublich reicher machen und mit dem richtigen Beat im Ohr kann man gut nachvollziehen, was die ganze Welt so faszinierend an Hiphop findet. Doch es geht nicht nur um die Musik, en Rhythmus, die Message an sich sondern auch das ganze Milieu darum. Angie Thomas, die als Jugendliche selbst gerappt hat, lässt genügend Realität und eigene Erfahrungen aus der Hip-Hop-Szene miteinfließen, sodass die Rap-Welt authentisch scheint und beim Leser die Emotionen ankommen, die sie vermitteln will.


"Manchmal träume ich, dass ich ertrinke. In einem großen blauen Ozean, der so tief ist, dass ich den Grund nicht sehe. Aber ich sage mir, dass ich nicht sterben werde, egal wie viel Wasser in meine Lungen dringt oder wie tief ich auch sinke. Ich werde nicht sterben, einfach weil ich das sage. Plötzlich kann ich unter Wasser atmen. (…) Aber jetzt bin ich wach und dabei, zu ertrinken. Und ich habe keine Ahnung, wie ich auch nur irgendwas in den Griff kriegen soll."


Und da kam bei mir wirklich einiges an Emotionen an. Bris Schicksal und ihrem Kampf gegen die Ungerechtigkeit wohnt so viel Kraft, Leidenschaft, Ehrlichkeit, Authentizität, Schmerz und Angst inne, aber vor allem ist da sehr viel Wut und Enttäuschung, die direkt unter die Haut geht und einen nicht mehr loslässt. Dafür sorgt auch der jugendliche, direkte Schreibstil der Autorin, dem es mit erschreckend klaren Worten gelingt, dem Leser ein beängstigend eindrückliches Bild von der ganzen Situation zu vermitteln. Es ist wirklich erstaunlich, wie spielend leicht Angie Thomas es schafft, ein mir total fremdes Milieu sowie Probleme und Ängste, die absolut gar nicht meiner eigenen Realität entsprechen an mich heranzutragen, sodass ich erschüttert da sitze und unbedingt etwas tun will! Das kreiert eine eher bedrückende Atmosphäre und unterschwellige Spannung, doch so ernst, brutal und bewegend die Geschichte meist ist, wird sie dennoch auch immer wieder von Szenen unterbrochen, die einem ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Immer wieder scheint ein Hauch Humor durch Anspielungen auf "Nerd-Shit" wie "Black Panter" und der Wakanda-Gruß, Star Trek, Star Wars, Harry Potter und Mario Cart durch und man braucht nicht besonders genau hinzuschauen um zwischen all der Frustration und Wut mindestens genauso viel Kreativität, Liebe, Hoffnung und Wille, etwas zu verändern, zu finden.


"Du und dein Bruder, ihr seid mein wichtigster Traum. Der andere kann warten, bis ich weiß, dass es euch gut geht. So was machen Eltern manchmal."
"Du solltest das nicht müssen", wiederhole ich.
"Aber ich will es." Das macht es noch schwerer. Wenn sie es tun müsste, wäre das Verantwortung. Wenn sie es will, ist es Liebe."


Denn neben der spitzen Kritik und dem Hiphop gibt es noch ein anderes Standbein, auf dem die Geschichte fußt und das ist der Zusammenhalt zwischen Familie und Freunden. Wir werden nicht nur mit Rassismus und Ungerechtigkeit konfrontiert - das ist auch eine Geschichte über Mütter, die sich für ihre Kinder zurück ins Leben kämpfen, Geschwister, die füreinander alles aufgeben würden, Großeltern, die mit allen Mitteln ihre Enkel beschützen wollen und dabei auch mal übers Ziel hinausschießen, Tanten, die in ihrer Anstrengung leicht vom richtigen Weg abgekommen sind und schwer wieder darauf zurückfinden und Freunde (die "Unheilige Dreieinigkeit"), die sich zwar immer wieder streiten, sich jedoch auch jedes Mal zusammenraufen und sich blind verstehen.


"Es ist noch nicht lange her, dass meine Mom mich gefragt hat, wer ich bin. Langsam glaube ich, es zu wissen. (…) Wenn ich sonst nichts bin, bin ich wie meine Familie und sie wie ich. Das ist mehr als genug."


Mitten in all dem Durcheinander aus Hoffnung, Enttäuschung, Liebe und Hass steht die junge Bri, deren Entwicklung wundervoll mit anzusehen ist. Sie sucht sich selbst, rätselt, wer sie sein will, was sie zu sagen hat und auch wenn sie sich zwischendurch oft verläuft, findet sie den richtigen Weg. Mit ihrer starrköpfigen, selbstbewussten, impulsiven Art fährt sie sich das ein oder andere Problem ein, ihre Kreativität, Ehrlichkeit, Loyalität, ihrem Mitgefühl und ihrem ungezügelten Temperament ist sie mir jedoch sehr schnell ans Herz gewachsen. Sie wächst zur Identifikationsfigur für etliche Jugendliche heran und dient gleichzeitig dazu, eine wichtige Botschaft zu übermitteln, welche am Ende in der Danksagung der Autorin nochmal in Worte gefasst wird: "They can´t stop you, so get your come up". Angie Thomas ruft durch Bri dazu auf, unsere Träume zu verfolgen, sich nicht aufhalten zu lassen, Unrecht anzusprechen und brüllt der Welt ein ganz klares "NEIN" zu Rassismus entgegen! Aufgrund der vielen wichtigen Themen, die angesprochen werden, der starken Identifikationsfigur und der wundervollen Message denke ich, dass man diese Geschichte wunderbar als Schullektüre nutzen könnte um das Thema "Race Relations" zu behandeln - mich hat es auf jeden Fall tief bewegt, dazu gebracht, etliche Notizen zu machen und viele Zitate herauszuschreiben, zu recherchieren, mir Rapsongs herauszusuchen und es zum bisherigen Favorit des Jahres 2019 zu küren.


"You´ll never silence me and you´ll never kill my dream,
just recognize when you say brilliant that you´re also saying Bri."


Fazit:


Eine erschreckende, authentische, berührende und wichtige Geschichte über die bittere Realität von Armut, Vorurteilen, Rassismus und Gewalt in der es neben schmerzhaft aufrichtiger Gesellschaftskritik jedoch auch um Hiphop als Instrument um die Stimme zu erheben und den Zusammenhalt zwischen Familie und Freunden geht. Überquellende Emotionen, die direkt unter die Haut gehen, eine starke Identifikationsfigur und eine wundervolle Message machen die Geschichte zu einem absoluten Must-Read.

Unglaublich viel Wut und Enttäuschung aber mindestens genauso viel Kreativität, Liebe, Hoffnung und der Wille, etwas zu verändern - ein Roman, der genau den Nerv der Zeit trifft!