Gefangen im geheimnislosen Traum der Kinder des Borgo Vecchio (S. 24)
Die Kinder des Borgo VecchioLiteratur ist dann auch Dichtung, wenn sie es schafft, Realität so in Sprache zu verdichten und umzusetzen, dass sie an Bedeutung gewinnt und etwas Größeres ausdrückt, das wir Leser erkennen und erfahren ...
Literatur ist dann auch Dichtung, wenn sie es schafft, Realität so in Sprache zu verdichten und umzusetzen, dass sie an Bedeutung gewinnt und etwas Größeres ausdrückt, das wir Leser erkennen und erfahren können. Giosuè Calaciura gelingt dies mit seinem Roman „Die Kinder des Borgo Vecchio“: Das Elend armer Klassen in abgehängten Vorstädten wird lebendig in der bedauernswerten Kindheit von Mimmo, Cristofaro und Celeste. Im Borgo Vecchio fallen tiefe Schatten auf die Träume und Pläne eines jeden, denn Armut, Gewalt und der mangelnde Wille zur Veränderung verhindern den Aufstieg, den Ausbruch, die Erfüllung der Träume.
Calaciura ist ein großartiger Erzähler, der mittels weniger Worte, die zugleich aber poetisch dicht glänzen, die kleinen Geschichten, Absichten und Erlebnisse der drei Kinder lebendig werden lässt – wie auch das ganze Viertel. Der robinhoodeske Gauner Totò nimmt vor den Augen des mitfiebernden Lesers seinen Kampf gegen das System auf und begegnet dem Wolf im Menschen. Die Hure Carmela erschafft in ihrem Bett ein kurzes Paradies inmitten des Elendsquartiers, verliert jedoch nie ihre Würde.
Die plastischen Figuren agieren in einem höchst lebendigen, vignettenreichen Schauplatz, der auf 153 Seiten mehr Farben und Formen erhält als man für möglich hält. Sprache kann so vieles, wenn Calaciura und seine geniale Übersetzerin Verena von Koskull sie gekonnt einsetzen. Und wenn der Brotduft durch die Nüstern aller Gassen weht (S. 44 ff.), dann wird die Lektüre zum synästhetischen Erlebnis fast aller Sinne.
„Die Kinder des Borgo Vecchio“ erzählt eine bekannte Geschichte aus der Armut und der Kindheit, spart nicht mit Abenteuer und Verrat und führt vor Augen – wie gute Literatur es vermag –, dass vermeintlich undurchbrechbare Kreisläufe gesprengt und nicht alle Träume zum Scheirtern verdammt sind, nur weil die Welt so grausam ist, wie sie vor allem im klammen Griff des Elends ist.
Ich bin begeistert.