Sehr lesenwert!
Laura Wiesböck hat hier ein unglaublich interessantes, lesenswertes und äußerst unterhaltsames - ich möchte sagen: geradezu launiges - aktuelles soziologisches Buch geschrieben. Grob gesagt geht es darum, ...
Laura Wiesböck hat hier ein unglaublich interessantes, lesenswertes und äußerst unterhaltsames - ich möchte sagen: geradezu launiges - aktuelles soziologisches Buch geschrieben. Grob gesagt geht es darum, wie sich Menschen voneinander abgrenzen, um sich besser zu fühlen, bezogen auf acht unterschiedliche Bereiche (z.B. Arbeit, Politik, Konsum), die in jeweils zwei Unterkapiteln bestimmte Blickwinkel betrachten. Bevor ich näher auf mein Leseempfinden eingehen, möchte ich nochmals betonen, wie toll das geschrieben ist: Sachlich und wissenschaftlich fundiert, dabei aber sehr nahbar und "einfach", und das ist nicht abwertend gemeint - das Buch hat einfach unheimlich viel Spaß gemacht, was ein toller Bonus war.
Bei vielen Kapiteln habe ich Frau Wiesböck eifrig zugestimmt - sie trifft an vielen Stellen sehr gute Punkte, vor allem bei den Themen Geschlecht, Armut und Einwanderung bin ich ganz nah bei ihr. Andere Stellen haben mir neue Denkansätze offenbart, das fing gleich mit dem Auftakt "Arbeit" und dem Unterkapitel "Do what you love" an - ist das denn wirklich so erstrebenswert, sein allerliebstes zum Broterwerb zu machen, dadurch den "regulären" Feierabend zu verlieren und, sollte das Projekt scheitern, mit dem, was man liebt, eine Bruchlandung zu erleiden? Wäre nicht "Do what you do and turn it into a passion" empfehlenswerter? Total spannender Ansatz, den ich unter diesem Aspekt noch nie betrachtet habe. Außerdem: Frau Wiesböck zeigt, wie Neoliberalismus die Leidenschaft versklaven kann und den Blick weg von der Gemeinschaft wendet, z.B.:
Der individuelle Fokus auf die bestmögliche Entfaltung der eigenen Persönlichkeit geht auf Kosten des gemeinschaftlichen Engagements. Soziale Probleme werden zu persönlichen Fragen nach Selbstsorge und dem guten Leben. [...] Oder allgemein formuliert nach den Worten von Byung-Chul Han: "Burnout und Revolution schließen sich aus."
Quasi die 2000er Version von "Brot und Spiele". Anstatt als unterbezahlte Freelancerin gegen das System zu rebellieren, wird nach Feierabend der Yokakurs besucht, um abzuschalten. Im Kapitel "Arbeitslosigkeit" wird dieser Ansatz weiter aufgegriffen: Der Status wird als persönliches Versagen des Individuums, nicht als allgemeiner Fehler im System erkannt. Und die Abgrenzung wirkt hier nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Schicht, etwa wenn sich sozial Schwache gegenseitig voneinander abgrenzen, anstatt gemeinschaftlich für Besserung zu sorgen. Trash-TV-Formate und Boulevardmedien, die entsprechende Klischees bedienen, befördern diese Haltung weiter.
Einzig beim Kapitel "Konsum" habe ich an mehreren Stellen die Stirn runzeln müssen. Ganz selbstreflektiv betrachtet kann ich nicht sagen, ob die Ablehnung aus grundsätzlicher Überzeugung rührt oder eher daher, dass ich mich selbst etwas zu sehr angesprochen gefühlt habe. Denn auch ich habe mich bewusst einem möglichst nachhaltigem, ökologischem Lebensstil verschrieben. Frau Wiesböck sagt, dass dieses "Mindset" durchaus zu Selbstgerechtigkeit führen kann - indem man sich anderen, die sich z.B. kein Bioobst leisten können (oder wollen), moralisch überlegen fühlt. Da kann ich mich nicht ganz frei von sprechen, allerdings bin ich auch keine dogmatische Predigerin, sondern habe eher die Erfahrung gemacht, dass ich im ersten Schritt zur Rechenschaft gezogen werde und mir der moralische Vorwurf im weiteren Verlauf des Gesprächs gemacht wird.
Alles in allem also ein Buch, dem ich zu großen Teilen zustimme, das mich in neue Denkrichtungen gebracht hat, zum Schauen über den eigenen Tellerrand einlädt und das obendrein sehr unterhaltsam war - das hat volle fünf Sterne verdient, denn ich habe sehr gerne und mit viel Freude gelesen. So unterhaltsam kann Soziologie sein!