Eindringlich und vielfältig
Ich sag's mal so: Irgendwann, so nach ca. einem Drittel des Buches, habe ich angefangen, die Texte, die mir "richtig gut" gefallen haben, im Inhaltsverzeichnis mit einem Kreuz zu versehen. Jetzt bin ich ...
Ich sag's mal so: Irgendwann, so nach ca. einem Drittel des Buches, habe ich angefangen, die Texte, die mir "richtig gut" gefallen haben, im Inhaltsverzeichnis mit einem Kreuz zu versehen. Jetzt bin ich durch und habe wohl so rund 2/3 der Texte markiert. Die vorliegende Auswahl umfasst ein "Best of" aus verschiedenen Publikationen, für die Herr Yücel tätig war. Es gibt zahlreiche alte/ältere Texte, grob thematisch sortiert, einen (wirklich sehr eindringlichen) Themenblock über die Türkei während der 2013er Proteste und der Zeit danach (der Unterschied in Stimmung, Sprache und Intention zwischen den hoffnungsvollen, optimistischen Texten aus 2013, und den Texten nach dem Putsch ist schon bedrückend) sowie einige wenige Texte aus seiner Zeit im Gefängnis.
Er schreibt eindringlich, sehr vielfältig (sowohl, was die Themenauswahl als auch die Darstellungsform angeht) und mit einem mir sehr genehmen bissigen Humor (der, wie wir ja wissen, nicht von allen verstanden bzw. gerne auch mal instrumentalisiert wird - was dann, am wohl bekanntesten Beispiel des "kontroversesten" Textes dieses Bandes "Super, Deutschland schafft sich ab", eine wundervolle ironische Metaebene bekommt, wenn diese "Kritik" den Kern dieses satirischen Textes bestätigt...).
Grundsätzlich haben mir gerade diese Texte am besten gefallen, in denen er die Finger selbstkritisch in deutsche Wunden legt und/oder sich sozialen/gesellschaftlichen Themen zuwendet. Eines der Highlights war für dabei die Aufzählungen der Verfehlungen bisherigen Bundespräsidenten (Jasager, Ausrutscher, Saubermänner) - geschrieben zum Ende der "Ära Wulff", dem ja nachgesagt wurde, er habe "das präsidiale Amt beschädigt"... gut, dass Herrn Yücel da noch ein paar ganz andere Kaliber einfallen. Andere Highlights: Dieses verdammte, beschissene "Aber" (zur Instrumentalisierung der Charlie-Hebdo-Opfer durch rechte Individuen, denen linke Satire sonst am Allerwertesten vorbei geht, die aber am lautesten brüllen, wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, Flagge gegen Andersgläubige zeigen können) und "Lasst die Bälle hüpfen" - eine wunderbare Replik auf sexistische Berichterstattung im Frauenfußball. Sehr schön auch die satirisch-bösen Länderporträts, hier am Beispiel von Italien, Kroatien und Österreich.
Nun, Herr Yücel ist und bleibt wohl für viele ein Politikum mit hohem Aufregerpotenzial, was ja auch die teils völlig substanzlosen 1-Stern-"Kritiken" auf Amazon beweisen. Schön wäre es, sich bei einer Rezension von sowas etwas frei zu machen, oder es zumindest nicht zum einzigen Gegenstand der Rezension zu machen. Aber wer kann das schon? Ich selbst ja auch nicht, gebe ich ganz offen zu, denn ohne dieses ganze "Drumherum" wäre ich vermutlich gar nicht auf das Buch aufmerksam geworden - wobei, wer weiß, ob es ohne dies "Drumherum" überhaupt jemals veröffentlicht worden wäre.
Mir hat's jedenfalls sehr gut gefallen. Und ich freue mich, dass Herr Yücel wieder frei ist. Und hoffentlich bald wieder schreibt, seine Stimme wird gebraucht. Und die Mission geht sowieso weiter: #freealljournalists