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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 16.05.2019

Ein Roman, der mit den Erwartungen des Lesers spielt

Im Sog der Schuld
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Arden Arrowood kehrt heim. Nach Arrowood, dem verlassenen Anwesen der Familie in der Kleinstadt Keokuk, Iowa. Als alleinige Erbin. Historikerin, ohne Abschluss und berufliche Perspektive, noch immer geplagt ...

Arden Arrowood kehrt heim. Nach Arrowood, dem verlassenen Anwesen der Familie in der Kleinstadt Keokuk, Iowa. Als alleinige Erbin. Historikerin, ohne Abschluss und berufliche Perspektive, noch immer geplagt von einem traumatischen Erlebnis in der Vergangenheit. Ihre Zwillingsschwestern sind – unter ihrer Aufsicht – spurlos verschwunden. Entführt worden, glaubt sie. Oder etwa doch nicht? Sie ist gleichzeitig sicher und zweifelt doch auch an ihren Erinnerungen und dem Schluss, den sie vor vielen Jahren daraus gezogen hat. Damals war sie ein Kind, schockiert und verwirrt. In ihren Grundfesten erschüttert. Und noch heute nagt dieser Verlust an ihr, kämpft sie mit Schuldgefühlen und möchte nichts lieber, als den für die Entführung ihrer Schwestern Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Damit sie endlich abschließen und sich von ihren Schuldgefühlen befreien kann.

Vergangenheit und Gegenwart bekommen wir durch die Augen der Ich-Erzählerin Arden präsentiert, so dass wir uns nie ganz sicher sein können, ob das, was sie beschreibt, auch den Tatsachen entspricht. Deren Suche nach der Wahrheit präsentiert sich dem Leser äußerst vielschichtig. Und was anfangs eher behäbig und redundant daherkommt, entwickelt sich mit fortschreitender Handlung zu einer spannenden Familiengeschichte, einem faszinierenden Spagat zwischen Erinnerung und deren Interpretation, zwischen Wunschdenken und Realität, wobei die Autorin immer wieder die Erwartungen des Lesers ins Leere laufen lässt.

Ein gewisses Interesse an Mystery/Southern Gothic-Romanen sollte man für die Lektüre von Laura McHughs “Im Sog der Schuld” schon mitbringen. Obwohl die Geschichte in Iowa, Mittlerer Westen verortet ist, verströmt sie doch sehr viel Südstaaten-Flair. Die Schwere, die Trägheit des Mississippi River, der in seinem Flussbett langsam dahinströmt – dieses Empfinden zieht sich durch das gesamte Buch. Verstärkt durch die detaillierten und gelungenen Beschreibungen der Umgebung, den sich im Lauf der Story verändernden Blick zurück sowie die undurchsichtige Atmosphäre, die über allem liegt. Absolut entschleunigend!

Veröffentlicht am 22.04.2019

Ein ambitioniertes Vorhaben - weitgehend gelungen

Gott wohnt im Wedding
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Regina Scheer ist nicht nur Fachfrau für deutsch-jüdische Geschichte sondern hat sich auch intensiv mit der Historie Berlins beschäftigt. Und aus diesem Wissen speist sich ihr zweiter Roman „Gott wohnt ...

Regina Scheer ist nicht nur Fachfrau für deutsch-jüdische Geschichte sondern hat sich auch intensiv mit der Historie Berlins beschäftigt. Und aus diesem Wissen speist sich ihr zweiter Roman „Gott wohnt im Wedding“.

Der Wedding, schon immer ein Arbeiterbezirk, Heimat der kleinen Leute, multi-kulturell. Leben, Träume und Schicksale, die untrennbar miteinander über die Jahre verbunden sind.

Davon kann auch das Mietshaus in der Utrechter Straße ein Lied singen, dem Scheer in ihrem Roman eine Stimme gibt. Es ist aber nicht nur dessen wechselhafte Geschichte. Diese bildet lediglich den Rahmen. Es sind dessen Bewohner, gegenwärtige und ehemalige, die zu Wort kommen und den Leser an ihre Leben und ihren Erinnerungen teilhaben lassen. Und deren Wege sich immer wieder kreuzen.

Leo Lehmann, nach 70 Jahren mit seiner Enkelin aus Israel angereist. Gertrud Romberg, alt und krank, die schon immer dort gewohnt hat, Leo von früher kennt und auf die Hilfe von Laila Fiedler angewiesen ist, die nicht weiß, dass auch ihre Familie vor Jahrzehnten in diesem Haus gelebt hat. Individuelles Leben, dessen Gegenwart und Vergangenheit exemplarisch für Kapitel der deutschen Geschichte steht.

Scheers Roman zeichnet die gründliche Recherche aus (speziell zur Geschichte der Sinti und Roma) und hält sich nicht mit überflüssigen Sentimentalitäten auf. Aber sie widmet sich nicht nur historischen Fakten sondern möchte den Leser auch für aktuelle Themen wie Migration, Gentrifizierung und Verdrängung sensibilisieren.

Ein ambitioniertes Vorhaben, das weitgehend gelungen ist, aber durch die Themenvielfalt stellenweise etwas überfrachtet wirkt. Und auf die Zwischenkapitel aus der Sicht des Hauses hätte man auch verzichten können. Auch wenn durch diese Perspektive Distanz zu den individuellen Schicksalen geschaffen werden sollte, wirkten manche dieser „Kommentare“ doch sehr nichtssagend und schlussendlich damit überflüssig.

Veröffentlicht am 09.04.2019

Jede Menge Denkanstöße

GIER - Wie weit würdest du gehen?
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Ich mag Romane, die sich mit der gesellschaftspolitischen Realität auseinandersetzen und diese entsprechend belletristisch verarbeiten, weshalb mich die Ankündigung von Marc Elsbergs neuester Veröffentlichung ...

Ich mag Romane, die sich mit der gesellschaftspolitischen Realität auseinandersetzen und diese entsprechend belletristisch verarbeiten, weshalb mich die Ankündigung von Marc Elsbergs neuester Veröffentlichung „Gier“ neugierig werden ließ. Und wie bereits in den Vorgängern (Black Out, Zero, Helix) werden auch hier wissenschaftstheoretische Modelle mit einer fiktionalen Erzählung verquickt.

Die Welt steht vor einer neuen Wirtschaftskrise, die einmal mehr die „kleinen Leute“, die Abgehängten, ausbaden müssen. Für diese werden die Insolvenzen Massenarbeitslosigkeit und Armut nach sich ziehen, die Verursacher werden wie immer ungeschoren davonkommen. Wut keimt auf, es gibt Demonstrationen, Ausschreitungen. Bedeutende Wissenschaftler wollen bei einer Konferenz in Berlin nach Lösungen suchen. So auch Herbert Thompson, ein renommierter Nobelpreisträger für Wirtschaft, der seine Theorie vorstellen möchte, welche Wohlstand für alle verspricht. Ganz klar, dass daran nicht jedem gelegen ist, und so ist dessen gewaltsamer Tod auf der Hinfahrt nicht weiter verwunderlich. Sein im Sterben liegender Assistent kann jedoch dem zufällig zu dem Unfall hinzugekommenen Krankenpfleger Jan den Namen Fitzroy Peel zuflüstern. Jans Neugier ist geweckt, er macht sich auf die Suche nach Peel und findet sich bald in einem Szenario wieder, das jedem Regisseur von Verschwörungs- und Actionthrillern zur Ehre gereicht hätte…

Anhand dieser Ausgangssituation entwickelt Elsberg einen spannenden Plot, der sich mit wirtschaftspolitischen Theorien und Modellen auseinandersetzt, thematisch treffend in die heutige Zeit passend, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft. Man muss nur nach Frankreich schauen, wo sich aktuell die Wut der Massen auf der Straße entlädt. Gelöst werden könnten diese Konflikte nach Ansicht des Autors durch Kooperation anstatt Konkurrenz und (natürlich) einer gerechteren Verteilung des Wohlstands.

Es sind sehr interessante Ansätze, die Elsberg in „Gier“ anreißt. Allerdings wird das Tempo immer wieder durch theorielastige Erläuterungen ausgebremst. Das kommt oft sperrig und informationsüberfrachtet daher, und wird mit Sicherheit Leser, die einen spannenden Thriller erwarten und nicht an langatmigen Erklärungen von Zusammenhängen interessiert sind, unzufrieden zurücklassen wird. Mir hat der Roman auf alle Fälle viele Denkanstöße geliefert, und ich habe selten so viel gegoogelt wie nach dem Lesen des informativen Nachworts.

Veröffentlicht am 27.03.2019

Melancholie und Reflexion zur Natur des Menschen

Kaffee und Zigaretten
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187 Seiten, 48 Abschnitte. Biografisches, Erinnerungen an Begegnungen, an Gelebtes und Gelesenes. Sehnsüchte, Reflexionen. Über allem ein Hauch von Melancholie. Die Natur des Menschen, im Guten wie im ...

187 Seiten, 48 Abschnitte. Biografisches, Erinnerungen an Begegnungen, an Gelebtes und Gelesenes. Sehnsüchte, Reflexionen. Über allem ein Hauch von Melancholie. Die Natur des Menschen, im Guten wie im Bösen. Erfahren in der eigenen Familiengeschichte.

Da ist zum einen die Herkunft aus sorbisch-deutschem Adel. Internatserziehung bei den Jesuiten und Ferienaufenthalte bei befreundeten Familien im Ausland. Der Großvater Baldur von Schirach, überzeugter Nationalsozialist, der die Deportation der Juden vehement verteidigt. Zum anderen die Ausbildung und Tätigkeit als Anwalt, der diverse Fallgeschichten seiner Laufbahn literarisch verarbeitet. Prägende Stationen eines Lebens.

Wie wir es aus seinen bisherigen Veröffentlichungen kennen, beschränkt sich Ferdinand von Schirach in "Kaffee und Zigaretten" auf das Wesentliche. Lakonisch, ja kühl und beiläufig, oft versteckt im Text, thematisiert er die Fragen zur Conditio humana, die ihn beschäftigen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob er sich Gedanken über das Rechtssystem oder über dessen zugrunde liegende Ethik macht. Ob er sich an Begegnungen und Beobachtungen erinnert oder beiläufige Kommentare zu Zeitgeschehen macht. Ob er seiner Verwunderung darüber Ausdruck verleiht, dass Erwachsene sich eher mit überteuerten Malbüchern aus dem Schreibwarenladen versorgen als in der Buchhandlung nebenan einen Roman von David Foster Wallace zu kaufen.

Manchmal eher trivial, oft aber philosophisch, bietet von Schirachs Blick auf sich und die Welt, auf die Vergeblichkeit der menschlichen Existenz, dem Leser jede Menge Anregung zum Nachdenken.

Veröffentlicht am 27.02.2019

Zwischen einst und jetzt oder Was würde Sherlock tun?

Der Mann, der Sherlock Holmes tötete
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Graham Moore, der mit einem Oscar ausgezeichnete Autor (für das Drehbuch zu The Imitation Game, 2015) findet die Inspiration für seine Werke in den Biografien interessanter Persönlichkeiten. Alan Turing, ...

Graham Moore, der mit einem Oscar ausgezeichnete Autor (für das Drehbuch zu The Imitation Game, 2015) findet die Inspiration für seine Werke in den Biografien interessanter Persönlichkeiten. Alan Turing, Nikola Tesla, Thomas Alva Edison und nun also Arthur Conan Doyle.

Die Handlung seines Romans „Der Mann, der Sherlock Holmes tötete“ (The Sherlockian, 2010) springt zwischen zwei Zeitebenen hin und her. Zum einen begleiten wir Arthur Conan Doyle in dem Zeitraum zwischen 1893 und 1900. Seines Protagonisten Sherlock Holmes überdrüssig, hat er diesen kurzerhand ins Jenseits befördert, nicht ahnend, welch schwerwiegende Konsequenzen dies auch für sein tägliches Leben haben würde – wobei Anfeindungen auf offener Straße noch die harmlosesten Reaktionen sind. Als eine Briefbombe in seinem Haus detoniert, weckt der Begleitbrief Doyles Neugier: ein Zeitungsausschnitt über einen Mord im East End, das Opfer offenbar nicht von Interesse für Scotland Yard. Gemeinsam mit seinem Freund Bram Stoker, Autor des „Dracula“, macht sich Doyle im viktorianischen London auf die Suche nach dem Mörder, nicht ahnend, dass die Tote im East End nur die Spitze des Eisbergs ist.

Im zweiten Handlungsstrang befinden wir uns im Jahr 2010, eine Zusammenkunft der Baker Street Irregulars, eine Vereinigung von Sherlock-Fans. Ein außergewöhnliches Ereignis steht bevor, hat doch Alex Cale, Mitglied und Experte des Zirkels, das lange verschollene Tagebuch Doyles gefunden, in dem die Zeitspanne zwischen Holmes Tod und dessen „Wiederauferstehung“ behandelt wird. Doch noch vor seinem Vortrag wird er ermordet. Und zum Leidwesen aller ist von dem Tagebuch keine Spur zu finden. Harold White, Die-Hard-Sherlockianer, ist überzeugt davon, den Mordfall mit Holmes‘scher Deduktion aufklären zu können und das Tagebuch zu finden. Unerwartete Unterstützung erhält er dabei von der Journalistin Sarah Lindsay, die notwendigen finanziellen Mittel für die Suche in Übersee stellt Doyles Urenkel Sebastian bereit.

Die beiden Handlungsstränge sind sauber getrennt und haben (mehr oder weniger) ihren eigenen Reiz, vor allem, was die Atmosphäre im „ Conan Doyle-Strang“ angeht. Einerseits London zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, mit seinen dunklen Gassen und den zwielichtigen Gestalten, sicherlich von besonderem Reiz für all diejenigen, die die heutige Metropole jenseits der Touristenpfade kennen. Andererseits die Schnitzeljagd von Harold und Sarah nach dem verschwundenen Tagebuch im Stile eines Dan Brown. Allerdings konnte mich diese Erzählebene nicht wirklich packen, das war mir zu konventionell heruntergeschrieben, sehr beliebig und ohne größere Überraschungsmomente.

Begeistert hat mich hingegen die Handlung rund um Conan Doyle, die mit zahlreichen Querverweisen zu bekannten Persönlichkeiten wie Bram Stoker, Oscar Wilde und Agatha Christie, einer detaillierten Schilderung der Lebensbedingungen im viktorianischen London sowie den sich anbahnenden politischen Veränderungen in Form der Suffragetten-Bewegung (hier vertreten durch die reale Emily Davison und Millicent Fawcett) punktet.

Als historischer Roman funktioniert das Buch, was mit Sicherheit daran liegt, dass sich Moore an historisch Verbrieftem orientiert und dies mit fiktionalen Elementen aufpeppt. Hier überzeugt der Roman mit wundervoll atmosphärischen Schilderungen und höchst interessantem Personal. Daran werden nicht nur die Fans des Meisterdetektivs Freude haben. Wobei es jenen mit Sicherheit großes Vergnügen bereiten wird, die diversen Anspielungen im Text zu entschlüsseln und in das Werk Arthur Conan Doyles einzuordnen.

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