Ein Leben am Abgrund, an dessen Ende nichts wartet
„Wen kümmern im Grunde die Fundamente, für die er sich so abgerackert hat. Wen kümmern die Stabilität, die sakrosante Aufrichtigkeit und abscheuliche Offenheit. Vielleicht, wenn er schwieg, würde es trotz ...
„Wen kümmern im Grunde die Fundamente, für die er sich so abgerackert hat. Wen kümmern die Stabilität, die sakrosante Aufrichtigkeit und abscheuliche Offenheit. Vielleicht, wenn er schwieg, würde es trotz allem halten. Sicher genügte es, die Augen zu verschließen.“
Inhalt
Für Adéle ist jeder Tag ein Spießrutenlauf, sie funktioniert mehr schlecht als recht in ihrem ganz normalen Alltag, zwischen ihrer Arbeit als Journalistin und der Rolle als Frau und Mutter. Doch insgeheim sehnt sie sich nach Extremerfahrungen, sie möchte körperliche Grenzen spüren, sich verlieren und ihr Dasein als Spießbürgerin abstreifen, ohne Rücksicht auf Verluste. Über die Jahre hinweg hat sie sich ein gut funktionierendes Doppelleben aufgebaut: sie trifft sich mit wildfremden Männern zum Sex, baggert ihre Kollegen an, findet ständig Möglichkeiten für ein schnelles sexuelles Abenteuer und kehrt im Anschluss wieder zurück in ihren routinierten Tagesablauf. Immer wieder möchte sie mit dieser Zwangshandlung aufhören, weil sie sich sehr bewusst ist, was sie dafür aufs Spiel setzt, doch sie ist eine Getriebene, ihren Obsessionen ausgeliefert und unfähig einen Schlussstrich zu ziehen. Erst als ihr Mann Richard durch bloßen Zufall das Ausmaß ihres Betruges aufdeckt und sie damit konfrontiert, gelingt es Adéle eine kurzfristige Entscheidung zu Gunsten der Familie zu treffen. Trotzdem steht sie kurze Zeit später erneut vor diesem Abgrund, an dessen Ende nichts wartet.
Meinung
Dieses Buch wollte ich unbedingt lesen, zum einen weil die Handlung sehr ungewöhnlich klingt, zum anderen weil mich die Autorin mit ihrem Werk „Dann schlaf auch du“ bereits von ihrer schriftstellerischen Arbeit überzeugen konnte. Und auch „All das zu verlieren“ hat sich definitiv gelohnt, denn obwohl es die Thematik Betrug innerhalb einer Partnerschaft anschneidet, ist es doch in erster Linie das Porträt einer gestörten Seele, ein Hilfeschrei, eine Auseinandersetzung mit Ängsten und Zwängen und sehr bald taucht man als Leser tief in das Seelenleben der Protagonistin ein.
Sprachlich trifft dieser Roman genau meinen Geschmack, es ist eine gelungene Mischung zwischen Erzählung, Selbstbildnis und objektiver Betrachtung. Gerade der leicht distanzierte Schreibstil aus der dritten Person Singular heraus, macht es mir sehr einfach, eine Grenze zwischen der Adéle im Buch und persönlichen Erfahrungen zu ziehen. Denn obwohl die Protagonistin äußert unangenehm auftritt, ich keinerlei gemeinsame Schnittpunkte oder Denkweisen ermitteln konnte, war es mir ein echtes Bedürfnis, diese Frau über die gut 200 Seiten der Geschichte zu ergründen und ihren Kern ausfindig zu machen. Gerade ihr innerer Zwiespalt zwischen der Sicherheit eines geregelten Lebens an der Seite von Mann und Kind und ihre geheimen Wünsche, die ihr trotz kurzer Erquickung keinerlei Halt schenken, haben mich sehr in ihren Bann gezogen.
Auch die Gliederung der Lektüre, die sich temporär auf eine Zeit vor der Entdeckung konzentriert, in der Adéle die Erzählrolle einnimmt und einer Zeit nach der Entdeckung, in der Richard, der gehörnte Ehemann zu Wort kommt, empfand ich sehr passend. Was zunächst wie eine große Paarkatastrophe anmutet entwickelt sich im Folgenden zum wahren Fiasko gleich mehrerer Leben. Denn das Wissen um die Obsessionen seiner Frau, höhlt Richard innerlich vollkommen aus, lässt ihn einen Ekel gegenüber der geliebten Person entwickeln und einen Kontrollzwang über all ihre Handlungen. Tatsächlich bringt ihm weder ein Umzug, noch ein Neuanfang jene Frau zurück, in die er all seine Liebe gesetzt hat, mit der er alt werden wollte und die er mehr schätzt als alles andere. Und so beginnt der Schrecken ohne Ende, nachdem es einfach nicht gelingen will, ein Ende mit Schrecken zu akzeptieren.
Fazit
Dieser Roman ist ganz nah dran an einem Lieblingsbuch, deshalb vergebe ich 4,5 Lesesterne. Er wirkt auf mich faszinierend, lädt mich ein, eigene Gedankengänge aufzunehmen in der Hoffnung, dem Wesen der Adéle näher zu kommen. Gleichzeitig ist es eine unbequeme, fordernde Lektüre, die sich wunderbar mit inneren Zwängen und dramatischen Abhängigkeiten auseinandersetzt. Trotz der Melancholie und Traurigkeit, die jenem Paar widerfährt, die viele Seiten des Buches regelrecht durchströmt, konnte ich nicht umhin ein eigenes Urteil über die beiden zu fällen und dieses ist jenseits jeder depressiven Phase angesiedelt.
Nur der Ausgang der Geschichte konnte mich nicht ganz überzeugen, da hätte ich mir wiederrum mehr Dramatik gewünscht, gerne auch einen großen Knall, der in allerlei Richtungen hätte gehen können. Leider verläuft diese spektakuläre Erzählung irgendwie im Nichts und mit ihr verblassen die Menschen, die so unfähig sind Entscheidungen zu treffen und Konsequenzen zu tragen. Die nächsten Bücher der Autorin kommen ganz gewiss auf meine Wunschliste, denn sie vermag es ausgezeichnet, die menschliche Natur und diverse Seelenqualen einzufangen und in lesenswerte Texte zu verpacken.