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Veröffentlicht am 19.09.2019

Bildgewaltige Naturbeschreibungen, eine berührende Geschichte & große Emotionen!

Der Gesang der Flusskrebse
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Als Kind wird Kya von ihr Familie verlassen, weil der Vater gewalttätig ist: Zuerst verschwindet ihre Mutter, dann ihre Geschwister, schließlich der Vater – bis sie irgendwann ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Als Kind wird Kya von ihr Familie verlassen, weil der Vater gewalttätig ist: Zuerst verschwindet ihre Mutter, dann ihre Geschwister, schließlich der Vater – bis sie irgendwann ganz alleine und auf sich gestellt ist. Inmitten von unberührter Natur kämpft sie, besonders am Beginn, um ihre Existenz. In der nahen Küstenstadt wird Kya gehänselt und gemieden; jahrelang leidet sie unter großer Einsamkeit, immer wieder wird sie von Menschen enttäuscht. Viele Jahre später wird ein junger Mann – der Star der Stadt – tot aufgefunden. Für viele EinwohnerInnen von Barkley Cove ist klar: Es kann nur das Marschmädchen gewesen sein…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: hanserblau
Seitenzahl: 464
Erzählweise: Allwissender Erzähler, Präteritum
Perspektive: hauptsächlich weibliche Perspektive (Kya); innerhalb der Kapitel wechselt immer wieder die Perspektive, sodass wir auch Einblicke in die Gedanken anderer Figuren erhalten, was mir sehr gut gefallen hat
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: +/- Kya lebt im Einklang mit der Natur, versucht die Tiere in ihrer Umgebung nicht zu stören und füttert die Möwen am Strand. Allerdings wird im Buch auch Fleisch gegessen, eine Frau tötet Schlangen mit einer Harke, es wird mit lebendigen Würmern gefischt, ein Vogel wird von seinen Artgenossen grausam getötet, und Kya fängt Muscheln und Fische, um sie zu essen. Meist ist das für sie überlebensnotwendig. Es werden im Buch keine Tiere gequält. Noch ein zusätzlicher wichtiger Hinweis: Im Roman wird eine Katze alleine gehalten. Da es sich hier um einen Freigänger handelt, ist die Einsamkeit nicht ganz so schlimm, weil sich die Katze draußen Freunde suchen kann, aber die Situation ist trotzdem nicht optimal, denn grundsätzlich gilt: Katzen sind alleine niemals glücklich (sind sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten.

Warum dieses Buch?

Auf dieses Buch wurden von Stars, Zeitungen, vielen LeserInnen und Institutionen im deutsch- und im englischsprachigen Bereich bereits Lobeshymnen gesunden. Die Durchschnittsbewertung auf der englischen Amazon-Seite liegt bei 4,8! Wenn alle von einem grandiosen Buch sprechen, macht mich das natürlich neugierig!

Meine Meinung

Einstieg (+/-)

"Marschland ist nicht gleich Sumpf. Marschland ist ein Ort des Lichts, wo Gras in Wasser wächst und Wasser in den Himmel fließt." E-Book, Position 23

Der Einstieg ist mir nicht ganz so leicht gefallen, weil die Geschichte eher langsam und sehr ruhig beginnt und weil Naturbeschreibungen dominieren. Erst viele Seiten später, als die Handlung ins Rollen gekommen und man Kya besser kennengelernt hat, habe ich wirklich in die Geschichte gefunden. Geduld lohnt sich bei diesem Buch auf jeden Fall!

Schreibstil (♥)

Den Schreibstil fand ich wunderbar! Einerseits ist er sehr einfach und angenehm zu lesen, andererseits punktet er gleichzeitig auch mit bildgewaltigen, sehr poetischen Naturbeschreibungen und sprachlichen Bildern, die ich so noch nicht gelesen habe. Egal ob es darum geht, Spannung zu erzeugen, eine dichte Atmosphäre zu kreieren oder Kyas Gefühle und Innenwelt nuanciert und intensiv zu beschreiben – und zwar so, dass man als LeserIn mitfühlt und mitleidet! – Delia Owens kann in all diesen Bereichen überzeugen!

„Herbstblätter fallen nicht, sie fliegen. Sie nehmen sich Zeit und genießen ihre einzige Chance, frei zu sein. Sie blitzten im Sonnenlicht, wirbelten und segelten und flatterten auf den Schwingen des Windes.“ E-Book, Position 1778

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Auch inhaltlich konnte mich die Geschichte fesseln und berühren: Es gibt zwei Zeitebenen – eine beschäftigt sich mit Kyas Kindheit und Erwachsenwerden, die andere mit dem Kriminalfall in der Gegenwart –, die sich einander eindrucksvoll immer weiter annähern, bis sie sich am Ende vereinen. Als Krimi-Fan interessierte mich zuerst natürlich die Aufklärung des Verbrechens mehr, lange Zeit dominieren jedoch Kapitel über Kyas Kindheit. Glücklicherweise ist es der Autorin bereits nach wenigen Kapiteln gelungen, dass ich diese Seiten ebenso gerne gelesen habe wie jene, die sich mit der Gegenwart beschäftigen. Kyas Geschichte ist herzerwärmend, wunderschön, aber stellenweise auch sehr traurig und Mitleid erregend. „Warum hilft diesem Kind denn niemand?“, fragt man sich immer wieder und möchte die engstirnigen EinwohnerInnen von Barkley Cove mit ihren vielen Vorurteilen am liebsten schütteln.

In ihrem Roman, der als Mischung aus Coming-of-Age-Geschichte, Roman, Liebesgeschichte, Gesellschaftskritik und Krimi betrachtet werden kann, rückt die Autorin Themen wie die Schönheit der unberührten Natur, Vorurteile einer Außenseiterin gegenüber, Einsamkeit, den Wunsch, dazuzugehören und geliebt zu werden, Freundschaft und Liebe in den Fokus und behandelt diese tiefgründig. Delia Owens hat in ihrem Buch eine kraftvolle Geschichte geschaffen, die einem lange im Gedächtnis bleibt. Die seltenen Längen im Mittelteil verzeihe ich gerne.

Im letzten Viertel des Buches kommt dem Kriminalfall, der noch einmal für eine große Portion Spannung sorgt, immer größere Bedeutung zu, bis er im Mittelpunkt der Handlung steht. Das Lesen der letzten Kapitel hat mir noch einmal großen Spaß gemacht, weil ich natürlich absolut mit Kya mitgefiebert habe. Am Ende überrascht uns die Autorin dann noch mit einer meiner Meinung nach gelungenen Enthüllung – auch wenn ich mir fast gewünscht hätte, dass die Geschichte etwas früher endet.

Protagonistin (♥)

„Bis irgendwann, in einem unbemerkten Moment, der Herzschmerz versickerte wie Wasser in Sand. Noch immer da, aber tief unten. Kya legte ihre Hand auf die atmende Erde, und die Marsch wurde ihr zur Mutter.“ E-Book, Position 481

Wie kann man Kya nach allem, was man gemeinsam mit ihr durchgestanden hat, nicht lieben? Ich glaube, es ist ganz und gar unmöglich, dass einem dieses naturverbundene, mutige, starke und zutiefst einsame Kind, das zu so einer beeindruckenden Persönlichkeit heranwächst, nicht ans Herz wächst! Ich habe es geliebt, Kya in der Geschichte zu begleiten, jeder ihrer Glücksmomente hat mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, jede Enttäuschung war wie ein Stich ins Herz. Liebevoller, dreidimensionaler und einmaliger kann man eine Protagonistin nicht zeichnen!

Figuren (+)

Auch die anderen Figuren sind durch die Bank sehr gut gelungen. Sie haben ihre Stärken und Schwächen, sind – ebenso wie Kya – nicht perfekt und manchmal auch schwer einzuschätzen. Manche habe ich geliebt (wie Tate, Jumpin‘ und Mabel), andere habe ich hassen gelernt. Was man auf jeden Fall sagen kann, ist, dass mich diese Geschichte und ihre Figuren nicht kalt gelassen hat.

Liebesgeschichte (♥)

Auch die Liebesgeschichte konnte mich (obwohl ich bei diesem Thema ja oft kritisch bin) überzeugen, sie wird so liebevoll und sanft beschrieben, dass man das Kribbeln zwischen den beiden Liebenden fühlen kann und bis zum Ende auf ihr gemeinsames Glück hofft!

Spannung & Atmosphäre (♥)

Auch wenn das Buch sich eher durch ruhige Momente und eine fast schon entschleunigende Grundstimmung auszeichnet und obwohl es im Mittelteil die eine oder andere Länge gibt (erst im letzten Viertel wird es richtig spannend), wurde mir beim Lesen nie langweilig. Ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht, habe die unheimlich dichte Atmosphäre und die wunderbaren Beschreibungen des Marschlandes (das ja generell viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt) auf jeder Seite genossen! Man fühlt sich fast, als wäre man selbst dort. Einzelne Gedichte tragen zusätzlich zur tollen Atmosphäre bei.

Feministischer Blickwinkel (+)

In der damaligen Zeit war eine traditionelle Rollenverteilung leider noch vorherrschend. Dass Frauen für die Kinder, die Küche und den Haushalt zuständig waren, war normal. Kya hingegen ist eine sehr starke, unabhängige Frau, die immer wieder Mut zeigt und sich auch verteidigt, wenn es sein muss. In ihrer späteren Beziehung scheinen sie und ihr Freund sich gleichberechtigt um den Haushalt und das Kochen zu kümmern, was mir sehr gut gefallen hat. Zudem wird Tate von seinem Vater zu einem sensiblen jungen Mann erzogen, der Gefühle zeigen und weinen darf. Sehr anschaulich, tiefgründig und einfühlsam werden im Buch außerdem traurige Themen wie Frauenfeindlichkeit, Machtmissbrauch und häusliche und sexualisierte Gewalt angesprochen. Kya wird unter anderem als „Schlam++“ bezeichnet, im Buch kommen sogar eine versuchte Vergewaltigung und ihre schwerwiegenden Konsequenzen vor.

Mein Fazit

„Der Gesang der Flusskrebse“ ist eine Mischung aus Coming-of-Age-Roman, Liebesgeschichte, Gesellschaftskritik und Kriminalgeschichte, die mich trotz ihres langsamen Beginns rundum überzeugen konnte. Der Schreibstil ist wunderbar: einfach und angenehm zu lesen und voller bildgewaltiger, poetischer Naturbeschreibungen und gelungener sprachlicher Bilder. Egal ob es darum geht, Spannung zu erzeugen, eine dichte Atmosphäre zu kreieren oder Kyas Gefühle und Innenwelt nuanciert und intensiv zu beschreiben – Delia Owens kann in all diesen Bereichen glänzen! Auch inhaltlich konnte mich die Geschichte fesseln: Es gibt zwei Zeitebenen – Kyas Kindheit und Erwachsenwerden und den Kriminalfall in der Gegenwart – die sich einander eindrucksvoll immer weiter annähern, bis sie sich am Ende vereinen. Kyas Geschichte ist herzerwärmend, wunderschön, aber auch stellenweise sehr traurig und Mitleid erregend. In ihrem Roman thematisiert die Autorin die Schönheit der unberührten Natur, Vorurteile, Einsamkeit, den Wunsch, dazuzugehören, Freundschaft und Liebe, aber auch häusliche und sexualisierte Gewalt tiefgründig und einfühlsam. Sie schafft eine kraftvolle Geschichte mit gelungenem Ende, die einem lange im Gedächtnis bleibt. Die seltenen Längen im Mittelteil des Buches verzeihe ich da gerne. Überzeugen kann auch die liebevoll ausgearbeitete Protagonistin: Ich habe es geliebt, Kya auf ihrem Weg zu begleiten, jeder ihrer Glücksmomente hat mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, jede Enttäuschung war wie ein Stich ins Herz. Ich glaube, es ist ganz und gar unmöglich, dass einem dieses naturverbundene, mutige, starke und zutiefst einsame Kind, das zu einer beeindruckenden Persönlichkeit heranwächst, nicht ans Herz wächst! Auch wenn das Buch sich eher durch ruhige Momente und eine fast schon entschleunigende Grundstimmung auszeichnet (erst im letzten Viertel wird es richtig spannend), wurde mir beim Lesen nie langweilig. Ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht, habe die unheimlich dichte Atmosphäre und die wunderbaren Beschreibungen des Marschlandes (das ja generell viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt) auf jeder Seite genossen! Man fühlt sich fast, als wäre man selbst dort. Fazit: „Der Gesang der Flusskrebse“ ist ein berührender Roman voller großer Emotionen, den ich euch nur wärmstens ans Herz legen kann!

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Sterne
Umsetzung: 5 Sterne
Worldbuilding: 5 Sterne
Einstieg: 3 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Liebesgeschichte: 5 Sterne ♥
Spannung: 3-4 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: +

Insgesamt:

❀❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir insgesamt fünf Lilien!

Veröffentlicht am 10.07.2019

Düsteres, atmosphärisches Meisterwerk - besser kann man einen historischen Krimi nicht schreiben!

1793
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In Stockholm, im Jahre 1793, wird eine vollkommen entstellte Leiche gefunden. Ihr fehlen Arme, Beine, Zähne und Zunge. Was ist bloß mit dieser armen Person geschehen? ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

In Stockholm, im Jahre 1793, wird eine vollkommen entstellte Leiche gefunden. Ihr fehlen Arme, Beine, Zähne und Zunge. Was ist bloß mit dieser armen Person geschehen? Ein ungleiches Paar – ein vom Krieg traumatisierter Stadtknecht und ein idealistischer Jurist, der an Tuberkulose leidet und dem nicht mehr viel Zeit bleibt, – schließt sich zusammen, um den grausamen Mord aufzuklären. Doch was sie herausfinden, ist noch viel schrecklicher, als sie befürchtet haben…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band 1 einer Dilogie / Reihe (?); laut Goodreads wird es auch eine Fortsetzung geben; „1794“ soll bereits in diesem September auf Schwedisch erscheinen
Verlag: Piper
Seitenzahl: 496
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präsens
Perspektive: männliche (Jean Michael, Cecil etc.) und weibliche Perspektive (Anna)
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: -! Für TierfreundInnen ist dieses Buch leider nicht immer leicht zu verdauen. Im Stockholm des 18. Jahrhunderts geht es ziemlich brutal zu, niemand (bis auf wenige Ausnahmen) scheint da ein Herz für Tiere zu haben. Es werden Tiere erschossen, geschlachtet und gegessen, es gibt Kettenhunde, die jahrelang keinen einzigen Sonnenstrahl zu Gesicht bekommen und tagelang hungern müssen, es wird von Hundekämpfen gesprochen, Rinder und Pferde verbrennen bei lebendigem Leibe, man erfreut sich an Tanzbären (die, wie jede/r mittlerweile weiß, sehr grausam ausgebildet werden) und es gibt einen Fall von furchtbarer Tierquälerei (jemand reißt Mücken die Flügel und alle Beine aus und lässt sie im Anschluss tagelang leiden), der mich unglaublich wütend gemacht hat.

Warum dieses Buch?

Diesem Buch konnte man in der letzten Zeit nicht entkommen! Überall (Instagram, Buchcommunitys) tauchte es auf und die ersten Rezensionen waren so begeistert, dass ich neugierig wurde - obwohl ich momentan eigentlich nicht so gerne Krimis und historische Romane lese. Aber der Klappentext, der Preis, den das Buch schon abgeräumt hat (Schwedischer Krimipreis), das Lob anderer Autoren ("Meisterwerk") und die schwärmerischen LeserInnenstimmen führten schließlich dazu, dass ich das Gefühl bekam, dass man sich dieses Buch auf keinen Fall entgehen lassen darf!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Die Geschichte beginnt ohne Umschweife mit dem Fund der grausam zugerichteten Leiche in einem Stockholmer See. Schon auf den ersten Seiten wird eine derart dichte Atmosphäre geschaffen, dass man sich schon mit Händen und Füßen dagegen wehren müsste, um nicht augenblicklich in die Geschichte hineingezogen zu werden.

Schreibstil (♥)

Daran ist sicherlich auch der grandiose Schreibstil schuld. Als ich das Buch begonnen habe, haben mich mehrere Dinge sehr überrascht: Erstens ist dieser historische Krimi im Präsens verfasst, und zweitens ist von einem altmodischen, schwülstigen Schreibstil in diesem Roman keine Spur! Im Gegenteil: Niklas Natt och Dag schreibt (bis auf wenige alte Wörter) sehr modern, weswegen ich sogar so weit gehen würde, zu sagen, dass ich ihn endlich gefunden habe – den historischen Roman für alle, die keine historischen Romane mögen! „1793“ liest sich wie ein moderner Krimi – nur dass das Setting nach Schweden ins 18. Jahrhundert verlegt wurde.

Meiner Meinung nach ist der Schreibstil eine der größten Stärken des Buches: Der Autor schreibt unglaublich angenehm, sehr anschaulich, kraftvoll, bildlich und atmosphärisch – ohne sich jedoch in Details zu verlieren. Einfache Sätze lassen einen durch das Buch rasen, gelungene Beschreibungen und sprachliche Bilder verwöhnen das LeserInnenherz, zahlreiche lebendige, glaubwürdige Dialoge lockern den Text auf. Egal ob es darum geht, Spannung zu erzeugen oder intensive Gefühle bei seinen LeserInnen auszulösen – Niklas Natt och Dag gelingt beides meisterhaft und scheinbar mühelos. Dass es sich bei diesem Buch um ein Debüt handeln soll, kann man kaum glauben!

Nur eine Kleinigkeit, die die Übersetzung betrifft, hat mich besonders am Beginn massiv gestört: Ich weiß nicht, warum man sich dazu entschieden hat, bei verschiedenen Orten, Brücken, Flüssen etc. den Originalnamen zu belassen, ohne zu erklären, worum es sich genau handelt. Da standen dann Sätze wie „Er ging zu XY (schwedisches Wort)“ - und ich hatte keinen Schimmer, worum es sich handelte! Das fand ich sehr mühsam und nervig! Man wollte hier vermutlich durch die übernommenen Worte eine gewisse schwedische Atmosphäre kreieren – leider ist das meiner Meinung nach hinten losgegangen. Gut hätte ich es gefunden, wenn man den Original-Namen mit der deutschen Bezeichnung für das Ding kombiniert hätte, z. B. „XY-Brücke“ oder „Straße XY“.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

„‘Was meinen Sie, Herr Winge – sind wir Menschen einander wie Wölfe, die nur auf die geringste Schwäche lauern, ehe sie zum Angriff übergehen?‘“ E-Book, Position 116

Niklas Natt och Dag wurde unter anderem mit dem Schwedischen Krimipreis ausgezeichnet; sein Buch wurde bereits in 30 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft – und ist somit bereits jetzt ein internationaler Erfolg. Der Hype ist auch in Deutschland und Österreich angekommen. „Jaja“, werdet ihr nun vielleicht sagen, „aber ist der Hype auch berechtigt?“ In einem Wort: Ja! Und wie! Der Autor, der übrigens ein Mitglied der ältesten Adelsfamilie Schwedens ist und daher eine starke persönliche Beziehung zur Geschichte des Landes hat, hat laut seinen eigenen Worten sehr genau recherchiert, bevor er diesen Roman geschrieben hat – und das merkt man auch bei jedem Wort. Die Menschen (viele basieren auf realen Personen), die Schauplätze, das Leben im damaligen Schweden wirken so echt und greifbar, als würde man sich selbst dort befinden.

Das ist übrigens gar nicht immer so angenehm und schön, wie man vielleicht im ersten Moment erwarten würde – Niklas Natt och Dags Geschichte ist nämlich schonungslos ehrlich, brutal und oft auch ekelerregend. Der Autor beschönigt nichts, sondern beschreibt auch das Unschöne bis ins Detail – den Gestank, der damals auf den Straßen herrschte, Seen voller Müll, Unrat und Fäkalien, eiternde Wunden, blutigen Auswurf und unglaublich grausame Hinrichtungen, die für mich beim Lesen kaum zu ertragen waren. Es ist daher ein Buch, das für sensible Seelen und empfindliche Mägen nur bedingt geeignet ist. Nach der Lektüre empfindet man jedenfalls große Dankbarkeit und schätzt die Sauberkeit der heutigen Straßen, die Erfindung der Kanalisation und die fortgeschrittene Entwicklung der Medizin mit neu entfachter Leidenschaft! Mich hat die Geschichte teilweise ein wenig an die Serie „The Alienist“ auf Netflix erinnert – Fans der Serie sollten sich dieses Buch keinesfalls entgehen lassen.

„1793“ ist äußerst interessant aufgebaut. Es ist in vier Teile unterteilt, die teilweise von ganz unterschiedlichen Personen handeln und manchmal auch Rückblenden beinhalten. Im ersten Teil begleiten wir den Juristen Cecil und den Stadtknecht Mickel bei ihren Ermittlungen, in Teil zwei werde wir mit einem Briefroman aus der Sicht einer ganz anderen Figur überrascht, der dritte Teil spielt in einem Spinnhaus, in dem Häftlinge erstmals durch harte Arbeit resozialisiert werden sollen, und im vierten Teil führt der Autor meisterhaft alle losen Fäden zusammen, sodass plötzlich alles einen Sinn ergibt. Am Beginn war ich von der Struktur nicht begeistert, weil mir der erste Abschnitt so gut gefallen hat, dass ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht, und weil ich durch den Wechsel etwas aus dem Lesefluss gerissen wurde. Doch dem Autor gelingt es, jeden Teil so interessant und spannend zu gestalten, dass ich am Schluss absolut begeistert war! Er hat in „1793“ einen komplexen, wendungsreichen Plot kreiert, der unvorhersehbar ist und einen von der ersten bis zur letzen Seite großartig unterhält!

Doch obwohl die Ermittlungen einen großen Teil des Buches ausmachen, vergisst Niklas Natt och Dag nicht, bei (oft auch schwierigen) Themen wie Freundschaft, Kriegstraumata, dem schwierigen Überleben im damaligen Stockholm und Krankheit in die Tiefe zu gehen, was dieses Buch von vielen anderen Krimis abhebt und nur noch großartiger macht! Das Ende (und seine Auflösung) war eines der besten, das ich dieses Jahr (vielleicht auch jemals!) gelesen habe: Es rundete die Geschichte so elegant und eindrucksvoll ab, spannte den Bogen so gelungen zum Beginn des Buches, dass ich das Buch (bzw. den E-Reader) mit einem absolut begeisterten, emotionalen und befriedigten Gefühl zuschlagen konnte. Ein rundum gelungener Roman, der mir sicher lange im Kopf bleiben wird – grandios von Anfang bis Ende.

ProtagonistInnen (♥)

Wer erwartet, dass wenigstens bei den Figuren etwas schiefgegangen ist, den muss ich leider enttäuschen. Die ProtagonistInnen der Geschichte sind unglaublich liebevoll ausgearbeitet, sie sind authentisch, lebendig, dreidimensional, unvergesslich und haben alle ihre Stärken und Schwächen, ihre Probleme und ihre Vergangenheit. Besonders die langsam entstehende Freundschaft zwischen Cecil und Jean Michael – zwei so unterschiedlichen Personen – hat etwas in mir berührt. Die beiden sind mir sehr schnell ans Herz gewachsen, ich habe mit ihnen intensiv mitgefiebert, mitgefühlt und mitgelitten.

Figuren (♥)

Auch die anderen Figuren sind rundum gelungen. Sogar wenn sie nur kleine Rollen im Buch einnehmen, bemüht sich der Autor sichtlich, sie möglichst gut auszugestalten und glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Spannung & Atmosphäre (♥)

„‘Mich täuschen Sie nicht. Natürlich sind Sie ein Wolf. Ich habe genug erlebt, um das zu erkennen, und wenn ich tatsächlich falsch liegen sollte, dann steht Ihnen die Verwandlung kurz bevor – denn niemand streift mit den Wölfen umher, ohne ihrer Art nachzueifern. […] Eines Tages wird Blut auf ihren Zähnen schimmern, und da werden Sie begreifen, wie recht ich hatte.‘“ E-Book, Position 116

Vielleicht ist aber auch die unheimlich dichte Atmosphäre die größte Stärke des Buches. Man fühlt sich sofort in die Vergangenheit versetzt. Die Lektüre hat sich wie das kribbelige Eintauchen in ein düsteres, brutales, aber absolut interessantes und spannendes Abenteuer angefühlt. Obwohl es sich hier nicht um einen Thriller handelt, wird es teilweise atemlos spannend, ich konnte diesen historischen Roman, der sich immer mehr zu einem Pageturner entwickelte, kaum zur Seite legen. Einmal wurde es sogar regelrecht unheimlich: Da gab es eine Szene, die hat mir eine Gänsehaut beschert, wie ich sie lange (auch bei Horrorfilmen) nicht mehr hatte. Für die, die das Buch schon gelesen haben – ihr ahnt bestimmt, welcher Moment es war, oder? Der mit dem Fuß! Ist es euch da nicht auch herrlich eiskalt über den Rücken gelaufen?

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Hier gibt es tatsächlich etwas zu kritisieren: Das Geschlechterverhältnis bei den Haupt- und Nebenfiguren (die mehr sagen als zwei Sätze) ist teilweise ziemlich unausgewogen, auch wenn es sogar eine weibliche Protagonistin gibt. Ich weiß natürlich, dass es damals eine andere Zeit war und manche Berufe nur von Männern ausgeübt werden konnten. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass wir im Folgeband auf mehr starke Frauenfiguren treffen werden. Andererseits ist die Protagonistin eine starke, intelligente Frau, die um ihr Leben kämpft, und Männer dürfen weinen und Gefühle zeigen. Dass in diesem historischen Roman sogar LGBTQ+-Aspekte thematisiert werden, ist ein weiterer Pluspunkt. Die oft frauenfeindliche Einstellung der Gesellschaft und die manchmal auch frauenfeindliche Sprache (Hu--, Miststück) mancher Nebenfiguren verzeihe ich, weil es sich hier eben um einen historischen Roman handelt, und alles andere (leider) wohl unrealistisch wäre.

Mein Fazit

Mit seinem Debüt hat Niklas Natt och Dag einen komplexen, wendungsreichen, rundum gelungenen historischen Krimi geschaffen, der meisterhaft und erstklassig unterhält. Der Schreibstil ist unerwartet modern, wunderbar angenehm, anschaulich und atmosphärisch und zieht einen schon auf den ersten Seiten in ein unglaublich düsteres, aber auch absolut interessantes und spannendes Abenteuer hinein. Das ist übrigens gar nicht immer so angenehm, wie man vielleicht im ersten Moment denken würde – Niklas Natt och Dags Geschichte ist nämlich schonungslos ehrlich, brutal und oft auch eklig. Der Autor beschreibt nämlich auch Unschönes (den Gestank, der damals auf den Straßen herrschte, Seen voller Müll, Unrat und unglaublich grausame Hinrichtungen) bis ins Detail. Es ist daher ein Buch, das für sensible Seelen und empfindliche Mägen nur bedingt geeignet ist. Obwohl die Ermittlungen einen wichtigen Teil des Buches ausmachen, vergisst Niklas Natt och Dag nicht, bei schwierigen Themen wie Kriegstraumata und Krankheit in die Tiefe zu gehen, was dieses Buch von vielen anderen Krimis abhebt und nur noch großartiger macht! Das Ende (und seine Auflösung) war eines der besten, das ich dieses Jahr (vielleicht auch jemals!) gelesen habe: rund, elegant, emotional, befriedigend, eindrucksvoll, erinnerungswürdig. Auch die Figuren sind absolut gelungen: Besonders die Protagonisten sind unglaublich liebevoll ausgearbeitet; sie sind authentisch, lebendig, dreidimensional, unvergesslich und haben alle ihre Stärken und Schwächen, ihre Probleme und ihre Vergangenheit. Besonders die langsam entstehende Freundschaft zwischen Cecil und Jean Michael – zwei so unterschiedlichen Personen – hat etwas in mir berührt. Vielleicht ist aber auch die unheimlich dichte Atmosphäre die größte Stärke des Buches. Obwohl es sich hier nicht um einen Thriller handelt, wird es teilweise atemlos spannend, weswegen ich diesen historischen Roman kaum zur Seite legen konnte. Lediglich was das Geschlechterverhältnis im Buch betrifft, würde ich mir im Folgeband mehr Ausgewogenheit wünschen. Kurz: „1793“ ist ein düsteres, atmosphärisches Meisterwerk, das den Hype und das Lob absolut verdient hat – besser kann man einen historischen Krimi nicht schreiben! Für mich ein absolutes Lesehighlight 2019! Unbedingt lesen!

Beim zweiten Band bin ich natürlich wieder mit an Bord – ich kann es kaum erwarten, wieder in diese düstere Welt einzutauchen!

Besondere Leseempfehlung: Niklas Natt och Dag schreibt (bis auf wenige alte Wörter) sehr modern, weswegen ich sogar so weit gehen würde, zu sagen, dass ich ihn endlich gefunden habe – den historischen Roman für alle, die keine historischen Romane mögen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
ProtagonistInnen: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Spannung & Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: +/-
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 21.06.2019

Grandioses, höchst unterhaltsames Debüt - eines der besten Bücher des Jahres!

Vater unser
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Eva Gruber landet in der psychiatrischen Abteilung des Otto-Wagner-Spitals in Wien. Hingebracht wird sich auf der Rückbank eines Polizeiwagens, weil sie nämlich behauptet, ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Eva Gruber landet in der psychiatrischen Abteilung des Otto-Wagner-Spitals in Wien. Hingebracht wird sich auf der Rückbank eines Polizeiwagens, weil sie nämlich behauptet, eine Kindergartenklasse im Zuge eines Amoklaufs getötet zu haben. Der Chefpsychiater Korb nimmt sich ihrer an und versucht, einen Blick hinter die von Eva sorgsam nach außen getragene Fassade zu erhaschen. Eine Suche nach der Wahrheit, die nicht nur für Korb, sondern auch für die LeserInnen dieses Romans zu einer Herausforderung wird…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Hanser Berlin
Seitenzahl: 284
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens & Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive (Eva)
Kapitellänge: eher kurz
Tiere im Buch: - Für TierfreundInnen ist dieses Buch nicht immer einfach zu ertragen: Es wird darin viel Fleisch gegessen, es werden Fische getötet, es gibt umherstreunende Bauernkatzen, unglückliche Tiere im Zoo, zerstampfte Regenwürmer, verletzte Käfer, es ist von kindlichen Tierquälereien die Rede (keine genauen Beschreibungen) und bei Vergleichen wie „wie ein verdroschener Welpe“ schwingt auch nicht gerade Tierliebe mit.

Warum dieses Buch?

Zuerst hat mich das auffällige Cover ja ehrlich gesagt ein bisschen abgeschreckt, doch als ich immer mehr begeisterte Leserstimmen vernahm und schließlich auch den Klappentext las, wusste ich, dass ich mir dieses Buch nicht entgehen lassen darf. Die unheimlich lustige, coole Art der Autorin auf Instagram hat mir dann sozusagen noch den Rest gegeben. Ich musste dieses Buch lesen – ich musste!

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Der Einstieg in den Roman ist mir wunderbar leicht gefallen, denn: Die Geschichte ist wirklich ein Lesegenuss – und dieser beginnt schon auf den ersten Seiten, als man Eva kennenlernt und neugierig verfolgt, wie die Geschichte weitergeht.

"Auf einem handbestickten Tischtuch liegt ein Rosenkranz neben einem gerahmten Porträtfoto von Jörg Haider. Darüber hängt ein kleiner Jesus auf einem Kreuz herum.
'Mein Gott' , sag ich, 'sind wir in Kärnten?'" E-Book, Position 37

Schreibstil (♥)

Der Schreibstil ist möglicherweise das Beste am ganzen Buch. Er ist einfach gehalten, anschaulich und unglaublich angenehm zu lesen – er zergeht einem fast auf der Zunge. Angela Lehner verzichtet auf prätentiöse Schachtelsätze und hochgestochenes Vokabular, sondern schreibt erfrischend klar, bodenständig, unaufgeregt, witzig und gnadenlos ehrlich. Sie verzückt das LeserInnenherz immer wieder mit originellen, sehr gelungenen Metaphern und Vergleichen. Die Suche nach schönen/gelungenen Zitaten für meine Rezension gestaltete sich so schwierig wie nur selten zuvor: Es gibt einfach viel zu viele davon!

Besonders toll finde ich am Schreibstil außerdem, dass die Autorin nicht versucht, das Österreichische aus ihrer Sprache zu tilgen, wie viele andere AutorInnen das machen. Im Gegenteil: Angela Lehner ist sich ihrer Herkunft bewusst und lässt auf charmante Weise österreichische Begriffe, Dialekte und den typischen „österreichischen Schmäh“ einfließen. Jedoch können sich auch Nicht-ÖsterreicherInnen ohne Angst vor Verständnisschwierigkeiten an dieses Werk heranwagen, da die österreichischen Begriffe niemals überhandnehmen. Ich fühlte mich jedenfalls sofort in diesem Buch zu Hause!

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

„Ich muss sagen, das ist gar nicht so schlecht: Den ganzen Tag in Gummizug-Hosen flanieren und zu den Fütterungszeiten im Aufenthaltsraum abhängen. Urlaub in Lignano ist auch nicht viel anders.“ E-Book, Position 172

Mit „Vater unser“ hat Angela Lehner ein unvergessliches, unheimlich originelles und wahnsinnig unterhaltsames Debüt mit zahlreichen unerwarteten Wendungen geschaffen, das zu recht mit Lob überschüttet und gehypt wird. Die stets unvorhersehbare Geschichte handelt von Eva Gruber, einer (wie sie sich selbst bezeichnet) „Verrückten“, die in der Psychiatrie versucht, sich ihrem schwer magersüchtigen Bruder wieder anzunähern und ihn zu beschützen. Sie hat auch schon eine Idee, weiß genau, was getan werden muss, um ihn zu retten: Der Vater muss durch ihre Hand sterben. In der Psychiatrie, zwischen familiären Diskussionen, Gesprächen mit ihrem Psychiater und Musiktherapie, feilt Eva an ihren Plänen für dieses Vorhaben. Immer wieder fragt man sich beim Lesen: Wie konnte es so weit kommen? Was ist mit Eva geschehen? Wie ist sie so geworden? Durch die zahlreichen Rückblenden in die Kindheit von Eva und Bernhard wird deutlich, dass irgendetwas passiert sein muss, das Eva schwer traumatisiert hat. Ein Trauma, von dem sich beide Kinder noch immer nicht erholt haben. Was genau vorgefallen ist, wirft Rätsel auf.

„Vater unser“ kann mit Sicherheit auch als eine Milieustudie betrachtet werden, die sich mit dem Alltag in einer Psychiatrie und der Kindheit in einem konservativen Dorf auf dem Lande beschäftigt. Dabei ist die Atmosphäre so dicht, dass man sich fast fühlt, als würde man selbst im Jogginganzug durch die Korridore des Otto-Wagner-Spitals schlendern. Zahlreiche (auch unschöne) Themen behandelt die Autorin eindrucksvoll und tiefgründig: Es geht um psychische Krankheiten, um Gewalt gegen Kinder, um die Frage nach unserer subjektiven Realität, um Familie, Schmerz, Verlust, Kindheit und unverarbeitete Traumata. Über weite Strecken bedenkt die Autorin Österreich mit liebevollem Spott, immer wieder wird ihre (Gesellschafts)Kritik aber auch schärfer, was für mich sehr gut funktioniert hat.

Dieses Buch kann trotz des über weite Strecken lockeren Tons keinesfalls nebenbei gelesen werden – sonst ist das Risiko, wichtige Hinweise zu verpassen, zu groß. Sehr viel steckt nämlich zwischen den Zeilen, wird nur angedeutet. Die Suche nach der Wahrheit in Evas Geschichten und Wahrnehmung gestaltet sich äußerst schwierig. Was ist real? Was ist wirklich passiert? Was existiert nur in Evas Einbildung? Was sagt sie, um die Menschen in ihrem Umfeld zu manipulieren? Man weiß es nicht – bis zum Schluss, der leider sehr vage bleibt. Hier hätte ich mir noch mehr Informationen gewünscht (vielleicht ein Kapitel aus einer anderen, neutraleren Sicht) – andererseits, vielleicht ist es auch gerade dieses kompromisslose, völlige Abtauchen in der Psyche dieser schwer verstörten Protagonistin, das dieses Buch so großartig macht!

Protagonistin (♥)

Eva im Gespräch mit ihrem Psychiater:

"'Ach, Frau Gruber', sagt Korb und seufzt, 'so klug sind Sie. Was hätte aus Ihnen bloß alles werden können, wenn Sie nicht so verrückt wären?'
Ich nicke. 'Ja', sag ich, 'wenn ich einfach nur ein bisschen blöder wär, hätt ich zum Beispiel Psychiater werden können.'" E-Book, Position 1550

Meiner Meinung nach ist Eva eine grandiose Protagonistin – so eine ungewöhnliche, komplexe und unvergessliche Frau habe ich selten in der Literatur gesehen! Ich stimme einer Rezension zu, die ich vor einiger Zeit gelesen habe: Eva ist jung, wild, stark, mutig und rebellisch – und lebt vielleicht manchmal genau das aus, was wir uns (oft auch aus nachvollziehbaren Gründen) nicht trauen. Gleichzeitig sind wir von ihr schockiert, fasziniert und beeindruckt. Eva ist widersprüchlich (mal höflich, mal derb), verletzlich, entwaffnend ehrlich, hochintelligent und sehr humorvoll.

Ihr Blick auf die Welt ist erfrischend: Sie hinterfragt das Alltägliche, unsere Regeln und Konventionen und bringt uns damit zum Nachdenken. Ihre Ausdrucksweise hat mich manchmal vage an die Hauptfigur in Thomas Bernhards Debüt erinnert. Manchmal wirkt sie auch sehr unberechenbar. Ist Eva gefährlich? Kann man ihr als LeserIn überhaupt vertrauen? Warum behauptet sie, eine Kindergartenklasse ermordet zu haben? Trotz des Misstrauens: Es geht gar nicht anders, man fühlt und fiebert zunehmend mit Eva mit. Man fragt sich, was diese arme Person durchgemacht hat, um so zu werden und möchte sie manchmal einfach nur in den Arm nehmen. Mir ist Eva jedenfalls mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen und ich liebte sie am Ende des Buches mehr, als man diese manipulative, „verrückte“ Narzisstin vermutlich lieben sollte!

Figuren (♥)

Egal ob Bruder, Mutter oder Psychiater: Auch die anderen Figuren sind sehr gut gelungen, sogar jene, die nur kleine Rollen haben. Auch die Nebenfiguren wirken sehr plastisch und „echt“. Es menschelt stark in Angela Lehners Debütroman, der sich übrigens überhaupt nicht nach einem Debüt anfühlt.

Spannung & Atmosphäre (♥)

Beim Lesen wurde auch ich langsam „verrückt“ – und zwar verrückt nach diesem Buch! Ich fand die Geschichte von der ersten Seite bis zur letzten unheimlich spannend. Das lag nicht nur am angenehmen Schreibstil, der dazu führt, dass man nur so durch die Geschichte rast, sondern auch an der Sogwirkung, die das Buch auf einen ausübt. Ich war so neugierig, wie es weitergeht, dass ich das Buch kaum auf die Seite legen konnte. Die überraschenden Wendungen, die Suche nach der Wahrheit, in die man sich beim Lesen irgendwie immer mehr hineinsteigert, und die kurzen Kapitel führen zu einem unglaublich hohen Lesetempo.

Den Humor und Sarkasmus im Buch fand ich großartig! Die Lektüre war absolut unterhaltsam und hat wirklich Spaß macht. Immer wieder musste ich schmunzeln, noch öfter jedoch habe ich laut aufgelacht! Dennoch gibt es auch sehr gelungene tiefgründige, ernste, düstere, verzweifelte und traurige Momente im Buch, die mich sehr berührt haben. Genau so muss das sein!

„Im Grunde unseres Herzens sind wir Menschen doch ewige Volksschullehrer mit Betragenslisten, auf denen wir den anderen Rot- und Schwarzpunkte geben.“ E-Book, Position 488

Feministischer Blickwinkel (♥)

Die Autorin bezeichnet sich selbst offen als Feministin – alleine das finde ich schon ziemlich cool. Noch cooler ist allerdings ihre starke, mutige Hauptfigur, die sich nicht viel sagen lässt und die gerne mal mit Geschlechterklischees bricht, z. B. wenn sie versucht, ihren schwachen und sensiblen Bruder zu schützen, oder wenn sie sich selbst als „Alpha-Tier“ bezeichnet. Nicht so gut gefallen haben mir die vereinzelten gegenderten Beschimpfungen (Fo---) und der Blondinen-Witz. Aber das verzeihe ich gern, wenn der Rest so großartig ist!

Mein Fazit

Mit „Vater unser“ hat Angela Lehner ein originelles, erfrischendes und höchst unterhaltsames Debüt geschaffen. Der Schreibstil ist unglaublich angenehm zu lesen und hat einen charmanten österreichischen Einschlag. Mit entwaffnender Ehrlichkeit, genialem Humor und sehr gelungenen sprachlichen Bilder entzückt die Autorin das Leserherz. Die Geschichte ist wendungsreich und unvorhersehbar und überzeugt mit einem interessanten Setting (einer schon etwas heruntergekommenen Psychiatrie) und einer manipulativen, hochintelligenten, komplexen, traumatisierten Protagonistin, die einem schneller ans Herz wächst, als es einem lieb ist. Zahlreiche (auch unschöne) Themen wie psychische Krankheiten, die Frage nach unserer subjektiven Realität, Familie, Schmerz, Verlust, Kindheit und unverarbeitete Traumata behandelt die Autorin eindrucksvoll und tiefgründig. Eines wird schnell klar: Dieses Buch kann nicht nebenbei gelesen werden, denn sehr viel steckt zwischen den Zeilen und wird nur angedeutet. Lediglich am Ende hätte ich mir noch mehr klare Antworten auf meine Fragen gewünscht – andererseits, vielleicht ist es auch gerade dieses kompromisslose, völlige Abtauchen in der Psyche dieser schwer verstörten Protagonistin, das dieses Buch so großartig macht. Auf mich übte die spannende Geschichte jedenfalls eine so große Sogwirkung aus, dass ich das Buch kaum beiseitelegen konnte. Kurz: Mit „Vater unser“ hat Angela Lehner ein unvergessliches Debüt geschaffen, das absolut zu recht mit Lob überschüttet und gehypt wird. Für mich eines der besten Bücher 2019! Unbedingt lesen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Humor: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: ♥
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf begeisterte Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 19.05.2019

Stiller, atmosphärischer, überraschend tiefgründiger Roman, der berührt

Alte Sorten
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Sie scheinen grundverschieden zu sein: Die junge, rebellische Sally, die aus einer Klinik ausgebrochen ist, und die ruhige, stoische, um dreißig Jahre ältere Liss, die ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Sie scheinen grundverschieden zu sein: Die junge, rebellische Sally, die aus einer Klinik ausgebrochen ist, und die ruhige, stoische, um dreißig Jahre ältere Liss, die zurückgezogen auf ihrem Bauernhof lebt. Als die beiden Frauen zufällig aufeinandertreffen und Sally Liss hilft, bietet diese ihr an, eine Nacht auf ihrem Hof zu verbringen. Aus dieser einen Nacht werden Wochen. Langsam entwickelt sich eine ganz besondere Beziehung zwischen den Frauen. Und bald wird klar, dass die beiden sich ähnlicher sind, als es auf den ersten Blick scheint…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: DuMont
Seitenzahl: 256
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive (Liss und Sally)
Kapitellänge: mittel bis kurz
Tiere im Buch: - Für TierliebhaberInnen ist dieses Buch nicht immer leicht zu ertragen, da das Leben auf dem Dorf oft damit einhergeht, dass Tiere verletzt oder getötet werden. Es gibt Rinder, die immer noch in Kettenhaltung leben, ein Reh wird angefahren und durch einen Schuss mit einer Pistole erlöst, ein Schwein wird geschlachtet und Hühner werden getötet. Immerhin zeigt sich Liss (bis auf einen Vorfall) als Tierfreundin, was positiv ist.

Warum dieses Buch?

Bei diesem Buch habe ich mich ins Cover und in die sehr vielversprechende Leseprobe verliebt. Sofort war mir klar, dass ich diese Geschichte unbedingt lesen musste! Ich wollte unbedingt wissen, wie es mit Sally und Liss weitergeht.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg fiel mir leicht. Es dauerte nur wenige Seiten, bis ich in der Geschichte angekommen war und ihre entschleunigende Wirkung beim Lesen gespürt habe.

"Auf den abgeernteten, von Stoppeln glänzenden Feldern stand der Weizen noch als überwältigender Geruch nach Stroh; staubig, gelb, satt. Der Mais begann, trocken zu werden, und sein Rascheln im leichten Sommerwind klang nicht mehr grün, sondern wurde an den Rändern heiser und wisperig." Seite 5

Schreibstil (♥)

Ewald Arenz hat einen unglaublich schönen, atmosphärischen, oft leisen, aber dennoch sehr eindringlichen Schreibstil. Er schreibt etwas anspruchsvoller (aber trotzdem flüssig und anschaulich) und verwöhnt seine LeserInnen mit unglaublich gelungenen sprachlichen Bildern und poetischen Formulierungen. Die kreativen Vergleiche und Metaphern zergehen einem auf der Zunge wie ein Stück reife Birne. Ich habe beim Lesen den Wind im Haar und die Hitze auf der Haut gespürt und den Geruch der reifen Früchte beinahe selbst gerochen. Es handelt sich hierbei um einen Schreibstil, der sowohl in ruhigen als auch in dramatischen, emotionalen und spannenden Momenten glänzen kann. Sehr gut gefallen hat mir auch, dass Ewald Arenz gefühlvoll erzählt, ohne dabei jemals pathetisch oder kitschig zu werden. Ein Balance-Akt, der dem Autor problemlos gelingt. Kurz: Es ist ein Schreibstil zum Hineinlegen und Genießen!

Ganz wunderbar fand ich auch, wie sich die Sprache den verschiedenen Persönlichkeiten der zwei Frauen in ihren jeweiligen Kapiteln anpasst. Das verleiht ihrer Erzählstimme große Authentizität. In sehr emotionalen Momenten zerfällt die geordnete Sprache auch mal in eine Art Bewusstseinsstrom, wird chaotisch und spiegelt die Gefühle der Figur eindrucksvoll wider. Großartig!

„Und dann spürte sie, wie es tief innen in ihr wild kratzte, wie das lange eingesperrte Tier in ihr zu toben begann und dann, wie ein plötzlich aufloderndes Feuer, die Wut in ihr hochschlug.“ Seite 83

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

„Alte Sorten“ ist ein sehr entschleunigendes Buch, das einem Kurzurlaub auf dem Lande gleicht. Das Leben auf dem Bauernhof hat etwas Beruhigendes. Es muss tröstlich sein, einen festen Tagesablauf ohne Überraschungen zu haben, am Tag hart körperlich zu arbeiten und am Abend müde ins Bett zu fallen. Viele verschiedene Arbeitsschritte werden dabei detailliert geschildert, ohne dass das Geschriebene jedoch je langatmig wird. Ganz nebenbei habe ich viel Neues (z. B. über Bienen) dazugelernt. Neben der interessanten Beziehung und Dynamik zwischen Sally und Liss wird auch das Dorfleben sehr gelungen porträtiert. Die schönen, aber auch die anstrengenden Seiten werden sehr treffend eingefangen – wodurch das Buch in geringem Maße auch Züge einer Milieustudie aufweist.

Was mich beim Lesen am meisten überrascht hat, ist die unerwartete Tiefe der Geschichte, die mich absolut begeistert hat. Es geht in „Alte Sorten“ um das Gefühl, nicht dazu zu passen, um gesellschaftliche Erwartungen, Engstirnigkeit, unerfüllte Träume, alte Verletzungen, Gewalt gegen Kinder, Einengung durch die Eltern, Suizidgedanken, psychische Krankheiten, Selbstverletzung und Einsamkeit. Alle diese Themen behandelt der Autor feinfühlig und tiefgreifend und hat so eine einzigartige Geschichte geschaffen, die mich berührt hat und die mir lange in Erinnerung bleiben wird. Das Ende hat mir ebenfalls sehr gut gefallen – ich mochte den hoffnungsvollen Unterton, der leise mitschwingt.

„Jede Frage und jede Antwort spann einen Faden zwischen dem Mädchen und ihr. Wenn man von jemandem alles wusste, dann konnte man ihn an tausend Fäden halten.“ Seite 49

Haupt- & Nebenfiguren (♥)

Die Figurenzeichnung ist ebenfalls sehr gut gelungen. Die wütende, rebellierende Sally und die ruhige, einzelgängerische Liss sind vielschichtige, komplexe Figuren, die beide ihr Päckchen zu tragen haben. Vereinzelt gibt es Rückblenden, die uns helfen, zu verstehen, wie Liss und Sally zu dem geworden sind, was sie heute sind. Beide sind auf ihre Weise sehr sympathisch, haben Schwächen und offenbaren nach und nach auch ihre verletzlichen Seiten. Mit jeder Seite sind mir diese zwei ungewöhnlichen Frauen mehr ans Herz gewachsen. Es ist erstaunlich, wie gut es dem männlichen Autor gelingt, sich in diese zwei Frauenseelen einzufühlen und wie nuanciert er ihr Innenleben einfangen kann. Vielleicht hat Ewald Arenz sein Beruf als Lehrer hierbei geholfen.

Es gibt nur sehr wenige Nebenfiguren, die eine Rolle in der Geschichte spielen – im Fokus stehen nämlich eindeutig die beiden starken Frauenfiguren. Jene Charaktere, die aber dennoch den Weg der beiden Frauen kreuzen, sind angemessen ausgearbeitet und wirken ebenfalls sehr glaubwürdig und authentisch. Am liebsten mochte ich hier Anni, diese beeindruckende alte Persönlichkeit, die es sich nicht nehmen lässt, auch im hohen Alter noch mit dem Rad durchs Dorf zu fahren.

„‘Und ich weiß, wie es ist, wenn dieses Gefühl, wenn diese Sicherheit, besonders zu sein, Stück für Stück kaputt geht wie ein Baum, den man in die falsche Erde gepflanzt hat, und ihn mit Stricken und Pfählen dazu zwingt, von der Sonne weg zu wachsen.‘“ Seite 157

Spannung & Atmosphäre (♥)

„Alte Sorten“ ist ein stiller, eindringlicher kleiner Roman, der mich fasziniert hat und absolut überzeugen konnte. Die entschleunigende, dichte Atmosphäre hat mir von Anfang an gut gefallen – und gerade in dem Moment, in dem ich mir dachte, dass ich etwas mehr Spannung vertragen könnte, bekam ich diese auch, weil einige unerwartete Wendungen und atemlos spannende, emotionale und dramatische Ereignisse folgten. Auch was den Spannungsaufbau betrifft, hat der Autor in diesem Buch also alles richtig gemacht.

Feministischer Blickwinkel (♥)

Ich finde es toll, dass zwei so starke, mutige Frauen im Zentrum dieser Geschichte stehen. Ewald Arenz zeigt, dass auch eine Frau alleine einen Bauernhof führen und die körperlich fordernde Arbeit erledigen kann. Es gibt zwar einige Momente, in denen frauenfeindliche Sprache und gegenderte Beschimpfungen vorkommen (Schlam--, Fo---), aber diese Wörter benutzt Sally, um in jugendlicher Manier zu rebellieren und möglichst zu schockieren, weswegen diese Ausdrücke einen Zweck haben und ich sie verzeihen kann.

Mein Fazit

„Alte Sorten“ ist ein stiller, eindringlicher kleiner Roman, der mich absolut verzaubern konnte. Ewald Arenz schreibt wunderschön, atmosphärisch, poetisch und feinfühlig. Die kreativen Vergleiche und Metaphern zergehen einem auf der Zunge wie ein Stück reife Birne. Es ist ein Schreibstil zum Hineinlegen und Genießen! Es handelt sich um ein entschleunigendes Buch, das aber trotzdem auch seine dramatischen, spannenden, berührenden und hochemotionalen Momente hat. Zudem behandelt der Autor Themen wie das Dorfleben, gesellschaftliche Erwartungen, Engstirnigkeit, unerfüllte Träume, alte Verletzungen und Einsamkeit unerwartet tiefgründig. Es ist erstaunlich, wie gut es Ewald Arenz gelingt, sich als Mann in seine beiden starken, vielschichtigen Heldinnen hineinzufühlen und wie nuanciert und mühelos er deren Innenwelt einfängt. Beide Hauptfiguren, die stoische Liss und die wütende Sally, sind sehr komplex, zeigen sich verletzlich, und sind mir mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen. Auch was die dichte Atmosphäre und den Spannungsaufbau betrifft, bin ich sehr zufrieden, denn: Gerade in dem Moment, in dem ich mir dachte, dass ich etwas mehr Spannung vertragen könnte, folgten einige unerwartete Wendungen und atemlos spannende, emotionale und dramatische Ereignisse. Kurz: „Alte Sorten“ ist ein rundum gelungener, tiefgründiger Roman, den ich euch nur wärmstens ans Herz legen kann.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 4,5 Sterne
Ende / Auflösung: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf begeisterte Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Geschichte
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Atmosphäre
Veröffentlicht am 11.05.2019

Beklemmende, atmosphärische, faszinierende Dystopie, die mich ganz in ihren Bann gezogen hat

Milchzähne
1

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die junge Skalde und ihre Mutter Edith wohnen gemeinsam mit ihren zwei Doggen in einem abgeschiedenen Haus neben dem Wald. Das abgelegene Stück Land, auf dem sie (und ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Die junge Skalde und ihre Mutter Edith wohnen gemeinsam mit ihren zwei Doggen in einem abgeschiedenen Haus neben dem Wald. Das abgelegene Stück Land, auf dem sie (und wenige andere Menschen) leben, ist von der Außenwelt abgeschnitten, seit vor Jahren die einzige Brücke über einen reißenden Fluss gesprengt wurde, um sich vor den drohenden Gefahren einer dystopischen Welt zu schützen. Das Leben dort ist hart, doch alles hat eine bestimmte, beruhigende Ordnung. Diese wird jedoch empfindlich gestört, als ein kleines Mädchen auftaucht und Skalde dieses mit nach Hause nimmt. Ihre Andersartigkeit und unbekannte Herkunft schüren die Angst der anderen DorfbewohnerInnen, die bald in Hass umschlägt. Skalde soll das Kind ausliefern…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Blumenbar
Seitenzahl: 256
Erzählweise: Ich-Erzähler, hauptsächlich Präteritum, selten Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: sehr kurz (weniger als eine Seite) bis mittel
Tiere im Buch: -! Dieses Buch ist für TierfreundInnen nicht leicht zu ertragen: Kaninchen werden geschlachtet und gegessen, ihr Fell wird zu Mänteln verarbeitet, generell wird viel Fleisch verzehrt, Rehe werden zusammengetrieben und erschossen, Insekten werden grausam in Klebefallen gefangen, Schnecken werden mit kochendem Wasser übergossen (bitte, haltet von solcher Tierquälerei Abstand und greift zu einer tierfreundlichen Methode im Kampf gegen Schnecken (z.B. Schnegel, Laufenten).) Edith hat in ihrem Haus eine Sammlung toter Schmetterlinge, streunende Katzen werden ertränkt, eine Streunerkatze wird sich selbst überlassen und Hunde werden aus Rache ermordet. Als mildernder Umstand kann, was die Schlachtungen angeht, angesehen werden, dass Skalde und Edith das Fleisch brauchen, um zu überleben – und dass kein Tier von ihnen absichtlich gequält wird. Zudem werden die Hunde von ihnen sehr liebevoll und gut behandelt.

Traurige Information an dieser Stelle, was das Ertränken von Katzen betrifft: Es passiert leider immer noch! Auch diesen Frühling werden wieder unzählige Katzenbabys grausam ihr Leben verlieren, weil sie ertränkt, erschlagen oder auf andere Weise getötet werden, weil schlechte Menschen sich die Kastrationskosten sparen wollen. Deshalb mein Appell an euch: Lasst nicht zu, dass so etwas weiterhin passiert, sondern klärt über die Wichtigkeit von Kastrationen auf und zeigt jene TierquälerInnen an – auch dann, wenn es sich dabei um eure NachbarInnen, FreundInnen oder sogar Familienmitglieder handelt.

Warum dieses Buch?

Bei diesem Buch haben mich die Leseprobe und der Klappentext sehr neugierig gemacht – ich wollte die Geschichte unbedingt lesen. Dass das Buch schon Lob von KritikerInnen erhalten hatte, hat mein Interesse nur noch verstärkt.

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Der Einstieg in die Geschichte ist mir sehr leicht gefallen, was nicht nur an den kurzen Kapiteln und dem gelungenen Schreibstil, sondern auch an der intensiven Stimmung liegt, die schon auf den ersten Seiten aufgebaut wird.

"Einige sagen, es hat ein Feuer gegeben. Die Trockenheit der Wälder. Ein einzelner Funke. Ungünstiger Wind. Ich stelle mir eine schwarze Ebene vor. Die Asche fällt wie Schnee." Seite 7

Schreibstil (♥)

Helene Bukowskis Schreibstil finde ich wunderbar. Er ist einfach, flüssig und angenehm lesbar, dennoch ist er niemals oberflächlich. Die Autorin schreibt sehr anschaulich, verliert sich jedoch nicht in Details. Teilweise wirkt die Sprache nüchtern, teilweise durch die tollen Vergleiche und Metaphern aber auch richtig schön und poetisch – und immer wohnt den kurzen, oft abgehackt wirkenden Sätzen eine unvermutete Intensität inne, die einen sofort in ihren Bann zieht.

„Mit dem Kind im Haus sind die Nächte heller geworden. Die Dunkelheit ist jetzt weich wie ein Mantel aus Pelz. Ich lege sie mir um die Schultern.“ Seite 43

„Der Himmel war von einem dunklen Blau, wie hundert Meter tiefes Wasser.“ Seite 210

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Mit „Milchzähne“ hat die junge Autorin eine erstaunlich düstere, schwermütige, beklemmende Dystopie geschaffen, die nicht immer einfach zu verdauen ist, die aber ohne Frage Faszination auslöst. Das Debüt wird durch die wenigen Figuren und die Einsamkeit im Wald zu einer Charakterstudie (fast schon zu einem Psychogramm) – Helene Bukowski nimmt sich Zeit, ihre Figuren in all ihren Facetten zu entdecken. Über allem hängt stets eine vage, nicht greifbare, unheilvolle Bedrohung. Die Welt scheint nämlich auf ihren Untergang zuzusteuern, während die DorfbewohnerInnen stoisch ihrem Alltag nachgehen. Es wird (durch den Klimawandel?) immer heißer, Tiere verlieren ihre Farbe und Obstbäume blühen das ganze Jahr, ohne Früchte zu tragen. Man erfährt nicht viel, die Fragen, die sich einem im Laufe der Lektüre stellen, werden immer drängender: Was passiert gerade auf der Welt? Warum wurde die Brücke damals gesprengt? Was befindet sich auf der anderen Seite? Doch genau diese Ungewissheit ist auch eine der größten Stärken des Buches (deshalb ziehe ich auch keine Sterne ab), denn man weiß nicht mehr als die Figuren darin, man erhält keine wissenschaftliche Erklärung – und das löst Unbehagen aus und macht Angst.

Vor allem zu Beginn handelt es sich bei diesem Buch um eine Aneinanderreihung verschiedener (mal bedeutender, mal alltäglicher) Momente der Kindheit und Jugendzeit von Skalde. Erst als Meisis, das unbekannte Mädchen, auftaucht und die bestehende Ordnung durcheinanderbringt, wird eine lineare Handlung erzählt. Helene Bukowski geht hierbei in die Tiefe, viel scheint zwischen den Zeilen zu stecken. Eine detaillierte Analyse der Symbole und verborgenen Bedeutungen würde vermutlich sehr interessante Erkenntnisse zutage fördern. Dabei ist der Roman von der Realität nur scheinbar weit entfernt – nach und nach treten Parallelen zu unserer Gesellschaft und aktuellen Lage (Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Angst vor Flüchtlingen) deutlich in den Vordergrund. Die Autorin befasst sich in ihrem Roman mit psychischen Krankheiten, Aberglauben, der Engstirnigkeit von Menschen, die nie ihren Geburtsort verlassen haben und mit der oft irrationalen Angst vor dem Fremden, die blitzschnell in Hass umschlagen kann. So wird die Dystopie an manchen Momenten zu einer Parabel und sehr gelungenen Gesellschaftskritik.

Der Schluss hat mir sehr gut gefallen, auch wenn die Geschichte meiner Meinung nach viel zu früh endet. So viele Fragen bleiben unbeantwortet – und während es einen Teil in mir gibt, der das gelungen findet, so gibt es auch einen Teil in mir, der sich wenigstens ein paar mehr Informationen und Antworten gewünscht hätte.

„‘Wieso haben sie Angst vor mir?‘, fragte sie.
‚Weil du nicht so bist wie sie'“, antwortete ich.“ Seite 78

Haupt- & Nebenfiguren (♥)

Die Figurenzeichnung ist sehr gut gelungen. Es handelt sich bei Skalde und ihrer Mutter Edith um zwei vielschichtige, dreidimensionale Figuren, die sehr liebevoll ausgearbeitet wurden und dennoch immer schwer greifbar und schwer einzuschätzen bleiben. Immer wieder entdeckt man als LeserIn neue, oft unerwartete Facetten an ihnen. Keine der Hauptfiguren ist eindeutig sympathisch oder unsympathisch, viel eher bewegen sie sich ständig auf dem Kontinuum dazwischen hin und her. Manchmal wirken sie labil, manchmal weiß man nicht so recht, ob man ihnen vertrauen kann. Skalde verliert sich z. B. oft in Mordfantasien über ihre Mutter. Trotzdem wachsen diese Menschen einem irgendwie, auf eine sich kompliziert anfühlende Weise, ans Herz. Besonders Edith fand ich sehr faszinierend, manchmal sogar unheimlich gezeichnet. Sie sperrt sich manchmal tagelang in ihrem Kasten ein, nimmt stundenlange Bäder, hat nie ihre Milchzähne verloren, scheint nicht zu essen und Hunde strömen von allen Höfen zu ihr, wenn sie nach ihnen ruft. Manchmal stellt sich unweigerlich die Frage: Ist Edith eigentlich menschlich? Ist sie real?

Die anderen Figuren haben nur kleine Nebenrollen, aber alle sind ausnahmslos sehr gelungen ausgestaltet. Sie wirken lebendig, eigenbrötlerisch, sehr authentisch. Dafür hat die Autorin ein großes Lob verdient!

„Ich möchte den Körper meiner Mutter nehmen, im staubigen Sand platzieren und darüber mit dem Pick-up meine Runden drehen.“ Seite 172

Spannung & Atmosphäre (♥)

Die beklemmende, dichte Atmosphäre in diesem düsteren Roman ist seine größte Stärke. Während man diese Geschichte liest, taucht man völlig in sie ab, ist wie gebannt, schwitzt mit Skalde und Edith in der Hitze und wartet darauf, dass etwas Schlimmes passiert. Manche Sequenzen wirken albtraumhaft, manchmal überträgt sich die träge, statische, trostlose Stimmung der heißen Sommertage auf einen selbst. Man fühlt sich zunehmend eingesperrt, ängstlich. Kryptische An- und Vorausdeutungen und so manche überraschende Wendung und dramatische Szene sorgen für zusätzliche Spannung und emotionale Momente, die mich nicht kaltgelassen haben. Hier hat Helene Bukowski meiner Meinung nach alles richtig gemacht!

„Der Wald ist ein anderer. Vielleicht wurden über Nacht die Bäume ausgetauscht, und nun stehen dort stattdessen Attrappen, deren einzige Funktion es ist, Verstecke zu sein, um das Auflauern zu optimieren.“ Seite 49

Feministischer Blickwinkel (♥)

Ich liebe die vielen starken, sturen, mutigen, manchmal merkwürdigen Frauen, die diesen Roman bevölkern. Der drohende Weltuntergang hat die alte Geschlechterordnung etwas durcheinandergewirbelt, Frauen jagen, verfallen dem Alkohol und kümmern sich ums Überleben – sie haben gelernt, sich durchzusetzen. Dennoch wäre es natürlich cool gewesen, wenn die Anführerin des Dorfes eine Frau gewesen wäre. Vielleicht ja beim nächsten Buch!

Mein Fazit

Helene Bukowski hat mich mit ihrer düsteren, beklemmenden Dystopie vollkommen in ihren Bann gezogen. Das liegt unter anderem an ihrem einfachen, aber sehr intensiven Schreibstil, und an ihren vielschichtigen, hochinteressanten Figuren, die immer wieder überraschen. Die Geschichte weist Parallelen zu unserer aktuellen Gesellschaft auf und kritisiert diese subtil. Die Autorin behandelt Themen wie Klimawandel, psychische Krankheiten, die Engstirnigkeit von Menschen, die nie ihren Geburtsort verlassen haben und die irrationalen Angst vor dem Fremden, die blitzschnell in Hass umschlagen kann, tiefgründig. Dabei wird auch mit Symbolen gearbeitet, viel steckt zwischen den Zeilen. Die größte Stärke dieses Debüts ist aber meiner Meinung nach die dichte, unheilvolle Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann. Dadurch und durch unerwartete Twists und kryptische Andeutungen entsteht eine ganz eigene Art von Spannung, bei der ständig eine vage Bedrohung im Hintergrund mitschwingt. Fazit: „Milchzähne“ ist ein einzigartiges, faszinierendes Debüt, das auch euch gefangen nehmen und erst nach der letzten Seite wieder loslassen wird! Unbedingt lesen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 4,5 Sterne
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: ♥
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf begeisterte Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!