Durch eine Leserunde auf wasliestdu.de bin ich auf dieses Buch aufmerksam geworden. Das Cover hat mich sofort gepackt, denn der Zaun im Vordergrund scheint etwas vor der Öffentlichkeit verstecken zu wollen. Ein Geheimnis. Ansonsten wirkt es etwas düster und bedrückend. Dafür sorgt schon der dunkle Himmel. Lediglich das Mädchen in dem roten Mantel, das auf einem geebneten, von Bäumen gesäumten Weg auf das alte Herrenhaus zugeht, bringt etwas Farbe in das Cover. Da sie aber hinter dem Zaun ist, hat sie bestimmt was mit dem Geheimnis zu tun.
Der Klappentext holt mich dann vollends ab. Er wirft spannende Fragen auf, deutet einen großen Konflikt an und verspricht Geheimnisse. Natürlich möchte ich wissen, was damals vor sich gegangen ist und wie die Vergangenheit mit der heutigen Zeit verwoben ist. Also, los geht’s.
Die Familiensaga gepaart mit Thriller-Elementen „Das Haus der Verlassenen“ von Emily Gunnis erschien am 18. März 2019 im HEYNE-Verlag und spielt in Sussex.
Ivy ist eine junge Frau, die an die Liebe glaubt und bitter enttäuscht wird, denn sie wird unehelich schwanger und in ein Heim für ledige Mütter verfrachtet. Trotz härtester, körperlicher Arbeit und schweren Misshandlungen hat sie Hoffnung, irgendwann ein glückliches Leben mit ihrem Kind und dem Vater des Kindes führen zu können. Doch nur sie scheint sich dieses Leben zu wünschen. Vor Ivy liegt eine schwere Zeit, die geprägt ist von Gewalt, Angst und tiefen Gefühlen und ihrem inneren Konflikt, weiter für das Leben und ihr Kind zu kämpfen oder aber dem Ganzen selbst ein Ende zu setzen.
In engem Zusammenhang mit Ivy’s Geschichte steht Sams Geschichte. Sam ist eine junge Journalistin, die zufällig auf einen Brief von einer Ivy stößt, die dem Vater ihres Kindes schreibt und diesen anfleht, sie und ihr Kind zu retten. Der Brief nimmt sie so mit, dass sie beginnt über St. Margaret’s zu recherchieren, wodurch die sie viel Grausames und furchtbare Geheimnisse erfährt, die eine blutige Spur bis in die Gegenwart ziehen und in direktem Zusammenhang mit ihrer eigenen Familiengeschichte zu stehen scheinen. Auch vor Sam liegt eine schwere Zeit, die geprägt ist von tiefen Emotionen über die Vergangenheit, aber auch der heutigen Zeit, mit allen Konsequenzen, die ihre Recherche provozieren.
Gut 4 Abende habe ich für dieses Buch gebraucht, das mich aufgewühlt, bedrückt und schockiert zurücklässt.
Beide Protagonistinnen Ivy und Sam sind sehr starke und mutige Frauen. Sie wollen etwas Bestimmtes erreichen und arbeiten hart dafür, wobei sie immer an das Gute in Menschen glauben, auch wenn sie die Realität zum Teil etwas anderes lehrt. Sie stehen beide allein da, weil ihre Männer sie im Grunde verlassen haben. Trotzdem ergeben sie sich nicht ihrem Schicksal, sondern kämpfen, solange es eine Aussicht auf ein gutes Ende gibt.
Beide Protagonistinnen sind sehr authentisch und ihre Schicksale wirklich realistisch dargestellt, d.h. auch jede in ihrer Zeit mit den Normen und Werten, die da vorherrschten. Beide haben ein konkretes Ziel, das die jeweilige Motivation gut verstehen und nachvollziehen lässt und beide machen eine beobachtbare Entwicklung durch. Sie sind dreidimensional, für mich nicht klischeehaft und sehr gut durchdacht. Wirklich großartig!
Die anderen Figuren sind auch alle wunderbar entwickelt, mit einem eigenen Ziel und einer eigenen Motivation.
Von der Handlung des Buches bin ich ebenfalls begeistert. Es gibt eine sehr gelungene Spannungskurve, die über das gesamte Buch stetig ansteigt. Man ist immer dabei und möchte nicht, nein, kann nicht aufhören zu lesen. Es gibt aus meiner Sicht auch immer wieder überraschende Wendungen bzw. neue Informationen, die einen in eine andere Richtung denken lassen. Man vermutet als Leser/in so einiges, wird aber durch die Autorin immer im Ungewissen gelassen, so dass wirklich erst am Ende alles aufgeklärt wird. Und wo wir gerade dabei sind. Auch das Ende ist wirklich sehr gelungen und ein bisschen anders als ich dachte.
Ganz besonders haben mich Ivy’s Briefe an den Vater des Kindes gepackt, die sehr emotional geschrieben waren und mich wirklich berührt haben.
Aber wie liest sich das Buch nun?
Es sind 46 längere Kapitel + Prolog und Epilog, die in der 3. Person Singular in der personalen Erzählform aus verschiedenen Sichten geschrieben sind, vorrangig aber aus der Sicht Ivys und Sams. Das gefällt mir sehr gut, denn man kann sich dadurch gut in die Figuren hineindenken und auch Situationen miterleben, bei denen man sonst nicht dabei wäre, z.B. der Todestag des Arztes aus Sicht des Arztes geschrieben. Das war sehr spannend und natürlich aufschlussreich. Aber ganz besonders packend und berührend sind einfach Ivy’s Briefe geschrieben, die dafür sorgten, dass ich immer am Ball blieb.
Das war mein erstes Buch von Emily Gunnis, so dass ich sehr gespannt auf ihren Schreibstil war und ich muss sagen, bis jetzt habe ich wirklich was verpasst. Er ist einfach grandios. Sehr flüssig, bildhaft und unheimlich emotional bzw. berührend. Auch die spannenden Abschnitte sind echt gut. Ich habe mit den Personen regelrecht mitgezittert und mitgelitten. Mit ihrer Art zu schreiben, schafft sie eine ganz besondere Atmosphäre/Stimmung, die einen nicht mehr loslässt. Auch nach dem Ende des Buches hat mich dieser Roman noch einige Zeit beschäftigt, denn Emily Gunnis ist es so wunderbar gelungen, so realitätsnah zu schreiben und den Leser/die Leserin tief zu berühren. Ich bin immer noch hin und weg und musste es auch noch ein wenig wirken lassen, bevor ich die Rezension schrieb.
Mein Fazit nach 392 Seiten im Taschenbuch:
„Das Haus der Verlassenen“ ist ein ergreifender Roman, der sehr emotional zeigt, wie schlecht es Frauen vor nicht allzu langer Zeit ergehen konnte, die unehelich schwanger wurden und wie man sich dieser Problematik entledigen konnte, wenn sie nicht ins persönliche Lebenskonzept passten.
Wer einen tiefgründigen, berührenden Roman sucht, der zum Teil in der Zeit um 1956 in Sussex spielt, der viele schwierige Themen wie uneheliche Schwangerschaft, die Rolle der Frau, aber auch das Thema Misshandlung thematisiert, dürfte mit diesem Buch gut beraten sein. Der Schreibstil von Emily Gunnis ist grandios und lässt alles sehr lebendig sein, so als wäre man dabei. Wirklich fantastisch!!!
Von mir erhält dieses Buch eine klare Kaufempfehlung (5/5 Sternen), weil die Figuren und so realistisch dargestellt sind und die Handlung mich wirklich aufgewühlt und nachdenklich gestimmt hat. Dieser Roman ist nach „Die Fliedertochter“ mein zweites Highlight in diesem Jahr. Manches ist wirklich bedrückend und man muss als Leser/in ganz schön schlucken und auch die Tränen verdrücken. Besonders Ivy’s Schicksal ist hoch emotional.
Insgesamt ist es ein mehr als gelungener Roman, den ich ganz klar weiterempfehlen kann.
Vielen Dank an Emily Gunnis für diese Geschichte.