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Veröffentlicht am 13.08.2019

Die tausendundein Einfälle des Kommissars Barudi

Die geheime Mission des Kardinals
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Rafik Schami ist als guter Geschichtenerzähler bekannt. Das stell er auch in „Die geheime Mission des Kardinals“ unter Beweis: Opulent, mit Charme und Witz gleitet die Geschichte dahin: Der damaszenische ...

Rafik Schami ist als guter Geschichtenerzähler bekannt. Das stell er auch in „Die geheime Mission des Kardinals“ unter Beweis: Opulent, mit Charme und Witz gleitet die Geschichte dahin: Der damaszenische Kommissar Barudi muss gemeinsam mit einem italienischen Kollegen den Mord an einem Kardinal aufklären, der sich aus zunächst unerklärlichen Gründen in den zerklüfteten Norden Syriens aufgemacht hat, um das Wirken eines Wunderheilers zu untersuchen.

Nach „Sophia oder Der Anfang aller Geschichten“ ist dies der zweite Roman, der im (nahezu) gegenwärtigen Syrien spielt, und erneut ist das Leben in der syrischen Diktatur das Leitmotiv des Roman: Wie sind Alltag, Beruf, Anständigkeit, Liebe und Meinungsäußerung in einer Diktatur möglich? Der „Kardinal“ bedient sich hierbei der Kriminalgeschichte, um den Machtapparat des Assad’schen Diktatur von innen darstellen zu können: Kommissar Barudi muss sich nicht nur mit dem Mord, sondern auch mit Geheimdiensten, Speichelleckern des Regimes und den allgemeinen Zwängen des Unrechtsstaates herumschlagen. Sein Begleiter, der italienische Kommissar Mancini, ist hier nicht Gegenspieler, sondern liefert komplementäre Probleme des von Mafia und Korruption versuchten italienischen Polizeiapparates. Beide Kommissare sind die anständigen Ausnahmen hierzu.

Erzählerisch bleibt Schami, der bisher nicht als Kriminalautor aufgefallen ist, bei seinem orientalischen Muster, vieles darzustellen, als würde es mündlich vorgetragen, In vielen Gesprächen – beim Friseur oder beim Essen – werden in Gesprächen Seitengeschichten erzählt, die das Bild des vergangenen und des gegenwärtigen Syriens zeichnen. Das hemmt zwar den Lauf der Handlung, die nicht unbedingt spannend ist, aber reichert die Lektüre ungemein an, denn man erhält ja nicht eine Geschichte, sondern „tausendundeine“.

Dennoch zeigt der Roman erhebliche Schwächen, die vor allem mit seiner Überfrachtung zu tun haben: Schami möchte Syrien am Vorabend des Bürgerkrieges zeigen. Dazu bedarf es der Rückblenden in das intakte Syrien, in die syrische Küche, das Gesetz der Gastfreundschaft, aber auch der Einblicke in den Machtapparat, den korrupten Sumpf, die Einschränkungen der Freiheiten; es braucht aber auch das Erstarken des Islamischen Staates in den Bergregionen, die ländliche Unzufriedenheit, den Wunderglauben. Man fragt sich mit Barudi: „Alles ist unwirklich: der Bergheilige, Sippenchef Scharif, die islamische Republik. Allmächtiger Gott, wie soll das enden?“ (S. 365) Die Frage ist berechtigt, denn es kommt auch noch ein Verbrecherclan hinzu, der seine Krakenarme über das Mittelmeer ausgestreckt hat, eine christliche Wunderheilerin mit Scharlatananhang sowie – besonders überzogen – eine vatikanische Intrige in unmittelbarer Nähe zu Papst Benedikt XVI. Schami verarbeitet hier sicher auch seine Erfahrungen als Teil der christlichen Minderheit in Damaskus, aber weniger wäre mehr gewesen: Es gar kein Kardinalsrang vonnöten, um die Handlung in Gang zu setzen, In einer Etage darunter lässt sich Schamis These auch vorführen, nämlich: „Aberglauben als Massenerscheinung gedeiht am besten in elenden oder übersättigten Gesellschaften.“ In diesem Gedanken berühren sich der Islamische Staat dort und die Fake News in der westlichen Welt – und das ist ein guter Einfall.

Ein Wort noch zu Kommissar Barudi: Die Figur des alten Kommissars, der unmittelbar vor dem Ruhestand seinen letzten Fall löst, ist so alt, dass er geradezu ein Stereotyp geworden ist. Diesen Mangel an Originalität gleicht Barudi aber selbst aus, denn seine Persönlichkeit wird so liebevoll, vielschichtig, warmherzig und menschlich erschaffen, dass sie problemlos über die Schwächen des Romans hinwegträgt. Es ist auch nicht schwer, in Barudi ein Alter Ego des Autors zu erkennen.

„Die geheime Mission des Kardinals“ ist nicht Rafik Schamis Meisterwerk und sicher auch nicht die beste literarische Verarbeitung des Assad-Regimes, aber ein sehr lesbares orientalisches, aufgeklärtes Kriminalstück.

Veröffentlicht am 07.06.2019

„Mars regiert die Welt“ (S. 47)

Ben Hur
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Wer „Ben Hur“ hört, denkt „Wagenrennen“ - umso erstaunlicher, dass das Wagenrennen auf den 356 Seiten meiner 1924 bei Neufeld & Henius in Berlin erschienenen Ausgabe keine 15 Seiten ausmacht. Plus Vorbereitung ...

Wer „Ben Hur“ hört, denkt „Wagenrennen“ - umso erstaunlicher, dass das Wagenrennen auf den 356 Seiten meiner 1924 bei Neufeld & Henius in Berlin erschienenen Ausgabe keine 15 Seiten ausmacht. Plus Vorbereitung und Training der Araberpferde Ben Hurs sind es kaum 30 Seiten. Wenn es nicht ums Wagenrennen geht, worum dann?

Lewis Wallace, Rechtsanwalt und General in den Vereinigten Staaten, ging es um die Christwerdung: Wie wird ein durch und durch edler Mensch, dem das Schicksal und die Menschen übel mitgespielt haben, zum Gläubigen, der von seinem Racheplan ablässt? Die Handlung des Romans spielt deshalb zur Zeit Christi - Ben Hur begegnet dem Heiland mehrfach und wird stark von ihm beindruckt, aber auch andere Figuren des Neuen Testamentes haben ihren Platz in der Handlung. Diese setzt ein mit der Begegnung der Heiligen Drei Könige in der Wüste auf der Suche nach dem eben geborenen „König der Juden“ und endet mit dessen Kreuzigung. Dazwischen spielt sich das Leben Judah Ben Hurs ab: Geboren in eine edle und reiche Familie, wird er von seinem Jugendfreund Messala verraten und für ein Verbrechen zur Galeere verdammt, das er nicht begangen hat. Seine Mutter und Schwester erleiden ebenfalls ein schweres Schicksal, und die Familie verliert ihr gesamtes Hab und Gut. Judah aber kann sich im Seekampf auszeichnen, wird von einem römischen Tribun adoptiert, gewinnt Ansehen und Vermögen und kehrt nach Antiochia zurück. Hier sinnt er auf Rache - an Messala und mit ihm an allen Römern. Im Laufe des Romans wächst der Hass auf die römischen Herrscher, der Freiheitskampf der der unterdrückten „israelitischen Nation“ gewinnt immer mehr Bedeutung. Es ist Christus selbst, der mit seiner Friedensbotschaft das Blatt wendet.

Kann man den Roman heute noch lesen?

Unbedingt ja, und ich frage mich warum. Der christliche Schwerpunkt der Handlung („A Tale of the Christ“ lautet der englische Untertitel) mag weniger gläubige Menschen abschrecken. Die Figurenzeichnung ist grob - gut ist gut und böse ist böse; lediglich Iras ist eine vielschichtige und starke Person. Die Handlung wartet mit einigen arg konstruierten Wendungen auf und mündet in ein rosarotes Happy End. Überdies ist die Sprache altertümlich und wirkt bisweilen angestaubt.

Aber vielleicht beginnt die Atmosphäre dieses Romans gerade bei der Sprache? Die Geschichte besitzt Strahlkraft und erzeugt eine dichte Stimmung, der man sich nicht entziehen kann. Die Komposition aus historischem Umfeld, aufbrechendem Konflikt und der rührenden Ernsthaftigkeit der Personen erschafft ein überzeugendes Bild.

Die Handlung weist erhebliche Parallelen zur Rachegeschichte des „Grafen von Monte Christo“ auf und birgt deshalb das Spannungspotenzial eines Abenteuerromans. Die Actionszenen - Galeerenkampf, Wagenrennen, Vorbereitung des Aufruhr - sind plastisch, spannend und exzellent gelungen - was umso mehr erstaunt, als „Ben Hur“ 1880 erschienen ist.

Also: Auch wenn Ben Hur oftmals zu hell strahlt und Messala ein chargierender und viel zu früh abgelegter Bösewicht sind, auch wenn „Hurs Sohn“ im Deutschen irgendwie unglücklich klingt und auch wenn die Greise alle weise und die Frauen alle lieblich sind, besitzt der Roman eine Kraft, die ihn auch heute noch lesenswert macht.

Veröffentlicht am 02.06.2019

Großmütterliche Groteske

Der Zopf meiner Großmutter
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Margarita Iwanowna hat es nicht leicht: Sie ist in einer deutschen Kleinstadt als russischer Kontingentsflüchtling gelandet, hat einen schweigsamen, fleißigen Mann und einen debilen, dem Tode nahen Enkelsohn, ...

Margarita Iwanowna hat es nicht leicht: Sie ist in einer deutschen Kleinstadt als russischer Kontingentsflüchtling gelandet, hat einen schweigsamen, fleißigen Mann und einen debilen, dem Tode nahen Enkelsohn, dessen schwacher Metabolismus jeden Augenblick den gefährlichen Keimen in Speiseeis, auf Kofferaußenseiten oder in Weihnachtskalenderschokolade erliegen könnte. Sie opfert sich lautstark, märtyrerhaft und unter Aufbringung aller russischen Raffinesse auf, um ihrem Enkel ein Überleben und ihrem Mann Tschingis ein menschenwürdiges Leben zu sichern.

Margarita sähe es vielleicht so. Aber der Roman ist aus er Sicht des Enkels Maxim erzählt, der sich auf 214 Seiten und über einige Jahre von der tyrannischen Umklammerung der Großmutter befreit und alles andere als debil, sondern sehr hellsichtig, die Affäre des Großvaters mit Nina kommen sieht, aus der ein Kind hervorgeht, das wie der Großvater Tschingis heißt und vom Tag seiner Geburt an der Onkel des Erzählers ist. Dieser skurrile Gedanke einer Patchworkfamilie wider Willen, die die Generationen durcheinanderwürfelt, ist beispielhaft für die ungewöhnlichen Einfälle der Autorin, für die im familiären Miteinander auftretenden Details des Mit- und Gegeneinanders.

Hauptfigur, ja: Fixstern des Romans ist die Großmutter, deren despotischer Irrsinn die Familie auf Trab hält und den Text mit grotesken Situationen, Sätzen und Überraschungen würzt. Margarita hat nicht nur einen Fimmel, sondern ausgewachsene Defekte, die sie an ihrem passiven Mann und dem anfänglich wehrlosen Enkel auslässt. Margarita ist zwar für den einen oder anderen Lacher gut, aber völlig ungeeignet, sich an ihr zu wärmen. Dass hinter ihrem Kontrollwahn eine tragische Geschichte steht, durchzieht den Text bis an sein Ende, versöhnt aber nicht mit der Übergriffigkeit der russischen Radauschwester.

Schnell ist klar: Es geht in dem Roman nicht um die Glaubwürdigkeit der Gesamtgeschichte oder ihrer Einzelteile, dafür sind die Elemente der Geschichte und die Personen zu stark überzeichnet. Vielmehr zeigt sich der Schmerz und die Liebe zum Kind im gegensätzlichen Verhalten der Großmutter, entwickelt sich ein Verständnis für die durchgebrannten Sicherungen der Alten zusammen mit der Emanzipation des erzählenden Enkels. Dann ist der Roman witzig, unterhaltsam und tragikomisch - und darin ein wortwitziger Genuss.

Gegen Margarita können die anderen Figuren nicht ankommen - und das ist schade. Nina Tochter Vera bleibt blass, Nina desgleichen, und die oft erwähnte Alterslosigkeit des Großvaters korrespondiert mit seiner nicht stattfindenden Entwicklung.

Noch problematischer empfand ich den Verlauf der Handlung, die gerade im ersten Drittel zugunsten der großmütterlichen Grotesken stark abnimmt und weniger durch Bewegung als durch Beschreibung in das Figurenleben einführt. Erst mit des kleinen Tschingis Geburt nimmt die Handlung wieder Fahrt auf, um sich zum Ende hin in ein abnormes Tempo zu steigern, bei dem man sich eigentlich gewünscht hätte, dass die Autorin sich mehr Zeit gelassen hätte.

Vor allem ist der Roman eine vergnügliche Lektüre mit einigen tiefen Einblicken in den Menschen hinter dem Wahnsinn.

Veröffentlicht am 10.05.2019

„Nie hast du Mama zu mir gesagt.“ (S. 145)

Barbarische Hochzeit
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Einer Liebe kann sich jeder Mensch gewiss sein: der Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Doch was ist, wenn diese Mutterliebe ausbleibt? Wenn ein Kind von Mutter und Großeltern abgelehnt wird und die Liebe ...

Einer Liebe kann sich jeder Mensch gewiss sein: der Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Doch was ist, wenn diese Mutterliebe ausbleibt? Wenn ein Kind von Mutter und Großeltern abgelehnt wird und die Liebe des Kindes unbeantwortet bleibt, weil es die Frucht einer „Barbarischen Hochzeit“ ist - der schwer erträglichen Vergewaltigung einer kau selbst erwachsenen Dreizehnjährigen durch drei besoffene Soldaten?

Yann Queffélec hat für seinen Roman über den ungeliebten Ludo 1985 den Prix Goncourt erhalten - zu Recht. Er lässt den Leser teilnehmen an diesem schrecklichen Leben Ludos, an seinen Qualen und Torturen unter dem Dachboden der herzlosen Großeltern, an den Demütigungen durch die Mutter in seinem neuen Zuhause beim Stiefvater und schließlich an der Erniedrigung als vermeintlich Verrückter unter Irren im Heim für Waisen.

„Nie hast du Mama zu mir gesagt. Weißt du denn wenigstens, daß ich deine Mutter bin?“, fragt Nicole auf Seite 145 - und man würde gerne zurückbrüllen: „Weißt du es denn?“ Oder mit Ludos immer wiederkehrenden Worten: „… und du?“

In der „Barbarischen Hochzeit“ wird schmerzlich deutlich, wie aus dem ersten Verbrechen der Vergewaltigung eines schwärmerischen Mädchens weitere Verbrechen entstehen - und man weiß nicht, welches am schlimmsten ist. Das erste oder das letzte? Ludo ist ein vollkommenes Opfer, ein liebebedürftiger Verlorener, auf dessen Seite man bis zum bitteren Ende steht, als er endlich „Mama“ sagt.

Ein schweres Buch, trotz der naiven Leichtigkeit, die der Roman durch Ludos Blickwinkel auf das Geschehen einnimmt.

Veröffentlicht am 20.02.2019

Grundsolide Fantasy, stärker als Band 1

Acacia 2
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Acacia kommt nicht zur Ruhe: Auch unter Königin Corinn, die ein bestens eingeführtes Hassobjekt ist, ist das Reich der Herrscherdynastie bedroht, sowohl von „Übeldingen“ (das sind magisch pervertierte ...


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Acacia kommt nicht zur Ruhe: Auch unter Königin Corinn, die ein bestens eingeführtes Hassobjekt ist, ist das Reich der Herrscherdynastie bedroht, sowohl von „Übeldingen“ (das sind magisch pervertierte Monstrositäten) als auch von einer gärenden Revolte der arbeitenden Klasse sowie den Auldek aus der „Unbekannten Welt“.
Wie im ersten Teil ist man beim Lesen überrascht, dass der eigentlich ausgefeilte Plot mit seinen vielfältigen Figuren, fantastischen Ideen und exotischen Orten im Grunde genommen so langweilig ist. Es hat wahrscheinlich damit zu tun, dass viele Details altbekannte Ideen der Fantasyliteratur sind, die hier neu gemixt wurden, so dass die recycelten Elemente in ihrem Arrangement nicht ganz so umhauend wirken.
Dennoch ist der zweite Band eindeutig besser als sein Vorgänger. Insbesondere der Handlungsstrang es königlichen Bruders Dariel hat gehörig Tempo und einen Sympathieträger, mit dem man (endlich mal!) mitfiebert. Auch die Machenschaften der Gilde, die in diesem Teil der Erzählung besonders deutlich werden, sind spannend. Allerdings liegt gerade hier auch ein schwerwiegendes Manko in der Grundkonzeption des Romans: Die Gilde hat zum Ziel, mittels Handels die ganze Welt zu beherrschen und so Macht und Reichtum ohne Grenzen anzusammeln. Wer dieses Ziel verfolgt, darf nicth das am weitesten entwickelte Volk auf Mann und Maus auslöschen. Denn ohne Beherrschte ist Macht inexistent, ohne Handelspartner Handel unmöglich und ohne wissenschaftlichen Fortschritt kein Progress der Produktionsmittel und Produkte möglich. Wer ein Volk auslöscht, vermindert den Reichtum der Welt.
Abgesehen davon muss man sich immer wieder durch die erste Hälfte des Romans antreiben, weil der Autor Epik bisweilen mit Langatmigkeit verwechselt.
Ich habe alle drei Bände gebraucht gekauft und weiß nun, warum der dritte Band (bisher) ungelesen war. Ich werde mich ihm nun widmen, was der Vorbesitzer offenbar unterlassen hat.