Spannend und durchdacht, auch für Nicht-SF-Fans empfehlenswert
MyzelMit „Myzel“ habe ich mich in ein Genre – Science Fiction – gewagt, das normalerweise überhaupt nicht mein Fall ist. Die Buchbeschreibung hatte mich angezogen und ich habe es nicht bereut, hier mal etwas ...
Mit „Myzel“ habe ich mich in ein Genre – Science Fiction – gewagt, das normalerweise überhaupt nicht mein Fall ist. Die Buchbeschreibung hatte mich angezogen und ich habe es nicht bereut, hier mal etwas Neues ausprobiert zu haben!
Es beginnt recht harmlos mit einer Gruppe Studenten, die mit ihrem Professor eine Forschungsexkursion auf die Schwäbische Alb machen. Wie man dem Klappentext schon entnehmen kann, geht es nicht so harmlos weiter. Der Grund für die Exkursion sind unbekannte Kreaturen, die nicht nur die Studenten, sondern bald auch eine brutale Staatsmacht auf den Plan rufen. Wie wir im Buch recht schnell erfahren, befinden wir uns im Jahre 2060 und in Deutschland hat sich eine Menge geändert – es ist ein totalitärer menschenverachtender Staat geworden.
So begeben wir uns eigentlich auf zwei Entdeckungsreisen – die auf der Suche nach Informationen über die Kreaturen und die in eine gar nicht so ferne Zukunft. Beide Reisen sind spannend, vielseitig und machen Spaß. Stefan Lochner benutzt drei verschiedene Erzählperspektiven, so wechseln wir zwischen der Studentengruppe, der ehemaligen Prostituierten Angelique (die mit ihrer direkten Art auch für humorvolle Momente sorgt und mein Lieblingscharakter war) und der polizeilichen Einsatztruppe. Diese Perspektivwechsel sind von Anfang an gut gelungen und verständlich, ermöglichen zudem immer neue Blickwinkel und geben dem Leser – nach und nach – das komplette Bild.
Der Schreibstil ist flüssig, an manchen Stellen allerdings holprig. Es gibt einige Dialoge und Abläufe, die unklar und verwirrend sind, Schliff benötigt hätten. Einige Begriffe werden zu oft verwendet, einige Dinge mehrfach erwähnt/erklärt. Sehr anstrengend fand ich die – für die Geschichte nicht relevante – Eigenschaft aller Charaktere, sich umgehend von allen andersgeschlechtlichen Menschen angezogen zu fühlen. Es gibt so gut wie keine Unterhaltung zwischen einem Mann und einer Frau, ohne flirtende oder zweideutige Bemerkungen, was manchmal etwas Pubertäres hat. Bei den drei Hauptpersonen tritt dies so gehäuft auf, daß es die ansonsten so gute Geschichte leider richtig stört.
Ein erneutes Lektorat wäre nicht nur aus den o.g. stilistischen Gründen, sondern auch zur Fehlerkorrektur nötig, die Fehler sind im höheren zweistelligen Bereich und somit doch sehr oberhalb der Toleranzgrenze.
Das war es aber auch an Kritikpunkten, denen dann viel richtig Gutes gegenübersteht. Der Spannungsbogen ist hervorragend – auf über 370 Seiten durchgehend die Spannung zu halten, ist schon eine bemerkenswerte Leistung. Ich war nie gelangweilt, wollte immer gleich weiterlesen. Dies liegt zum einen an den immer neuen Wendungen und dem guten Erzähltempo. Der andere Grund ist die geschickte Art, in der der Autor Informationen einbaut und vermittelt. Es gibt keine langen erzählerischen Hintergrundabsätze, die die Handlung aufhalten, es kommt nicht zu Info-Dumping und der Autor hat Mut zur Lücke. Manche Dinge sind nicht sofort klar, manches muß man sich aus den Zusammenhängen selbst kombinieren. Das gefällt mir und zeigt Respekt für den Leser, der nicht alles vorgekaut auf einem Tablett serviert haben möchte.
Die Welt von 2060 hat noch genug uns Bekanntes, was gerade für mich als Nicht-SF-Fan sehr angenehm war und dieses Buch auch für Leser zugänglich und empfehlenswert macht, die mit fremden künstlichen Welten nichts anfangen können. Daneben gibt es aber eben auch die gravierenden Änderungen zu heute, die alle plausibel sind und wichtige Themen ansprechen. Überwachung durch den Staat und die Perfektionierung dieser durch Vernetzung und technische Möglichkeiten, die uns heute schon recht bekannt sind. Die Rücksichtslosigkeit einer totalitären Regierung, die ihren Einsatzkräften die Wertlosigkeit des Lebens und den Spaß am Töten einimpft (für die es in der Geschichte und Gegenwart der Menschheit leider nur zu viele Vorbilder gibt). Die Macht des Staates, die so schnell mißbraucht werden und vor der man sich nie komplett sicher wähnen kann. Es ist faszinierend, wie durchdacht dieses 2060-Umfeld entworfen und geschildert wird.
Zu den Kreaturen selbst möchte ich nicht zu viel verraten, das soll man sich im Buch erlesen (und es lohnt sich!). Auch hier stellen sich interessante, auch ethische Fragen und es macht Spaß, immer neue Puzzlestücke zu ihnen zu bekommen.
Das Ende dann hätte besser gar nicht gestaltet sein können. Dieses gut aufgebaute spannende Buch war eine Lesefreude für mich.