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Veröffentlicht am 04.08.2019

Traumhafte erste Hälfte, enttäuschende zweite Hälfte

Villa Europa
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Villa Europa hat mich angezogen, weil hier die Geschichte einer norwegischen Familie über mehrere Generationen ("von der Belle Époque bis zum Fall der Berliner Mauer") erzählt wird. Gerade der Blick auf ...

Villa Europa hat mich angezogen, weil hier die Geschichte einer norwegischen Familie über mehrere Generationen ("von der Belle Époque bis zum Fall der Berliner Mauer") erzählt wird. Gerade der Blick auf Norwegen hat mich gereizt, weil ich von der dortigen Geschichte sehr wenig weiß.

Die erste Hälfte des Buches ist ganz wundervoll, hat mich durch die herrliche Sprache, den eigenen Stil gefesselt. Es gibt keine überflüssigen Passagen, der Erzählstil ist konzentriert, zeigt manchmal schön trockenen Humor ("Nicht viel später begann auch Onkel Eilif zu sterben. Er starb nicht so schnell und gekonnt wie Onkel Georg, aber er fing zumindest damit an."). Wir lernen einen angenehm überschaubaren Kreis an (teils skurrilen) Charakteren kennen, das Haus "Villa Europa" tritt fast als eigener Charakter dazu. Hier sind die einzelnen Zimmer nach europäischen Ländern benannt und entsprechend eingerichtet, was im Laufe der Geschichte zu gelungenen kleinen Anspielungen auf die politische Situation führt. Warum das Haus so eingerichtet ist, wird im ersten Kapitel erzählt, aber natürlich gibt es einen Hintergrund. Einige der Räume wurden mir irgendwann so vertraut, daß ich sie vor mir sah.

Gerade die ersten beiden Kapitel sind von Charakteren und Handlung her so ungewöhnlich, daß sie ihren ganz eigenen Zauber ausüben. Während ich manche Gedanken und Aktionen der Charaktere nicht nachempfinden konnte, waren sie doch so interessant, daß ich gerne weiterlas und mich daran erfreute, wie sich Haus, Hauseinwohner und Weltgeschichte ineinander verflochten. Die Weltgeschichte spielt zu Beginn eher eine Nebenrolle, fließt ab und an in Andeutungen ein. Erst ab den Jahren um den Zweiten Weltkrieg herum bestimmt sie Erzählung und Handlung stärker. Hier gibt es ausgesprochen interessante Informationen über Norwegen in dieser Zeit.

Gedankenwelt und Handlungen der Charaktere werden weiterhin gut dargelegt, differenziert geschildert, eine Fülle lesenswerter Themen gab es zu entdecken.

Leider fiel der Zauber des Buches mit der zweiten Hälfte abrupt und unwiderbringlich weg. Während die in der Weltgeschichte so interessanten 60 Jahre zwischen Belle Époque und Nachkriegszeit mit ihren Umwälzungen und Änderungen in der wunderbaren ersten Hälfte des Buches recht rasch behandelt werden (oft hätte ich mir hier mehr Ausführlichkeit gewünscht), ist die zweite Hälfte des Buches den etwa 25 Jahren zwischen Mitte der 60er und 1989 gewidmet. Und das wird leider ziemlich langweilig (wobei ich zugebe, daß mich diese Epoche per se nicht sonderlich interessiert). Die herrliche Sprache, die Konzentration aufs Wesentliche weicht quälend detailfreudigen Dialogen, bei denen man sich oft wie auf einer linken Studentenparty fühlt, so ausgiebig und klischeehaft wird doziert. Die Charaktere haben wenig mehr zu tun, als um sich selbst zu kreisen und sich selbst zu finden. Die psychologische Finesse der ersten Buchhälfte, die spannenden historischen Ereignisse weichen Beziehungsgezacker, politischen Vorträgen und sehr vielen Belanglosigkeiten. Ich hatte teilweise das Gefühl, zwei verschiedene Bücher in einem zu haben. Auch das vorher so präsente originelle Haus, die immerhin namensgebende Villa Europa, tritt in den Hintergrund und das ganze herrliche Geflecht des ersten Teils wird aufgeweicht, dazu noch durch viel zu viele neue, kaum eindrückliche, Charaktere zerfasert.

So sehr ich die erste Hälfte innerlich bejubelte, so sehr ärgerte ich mich über die zweite Hälfte.

Veröffentlicht am 06.07.2019

Die Umsetzung dieses interessanten Themas war leider nicht mein Geschmack

Die Luftvergolderin
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In "Die Luftvergolderin" widmet sich Jeannine Meighörner einer wenig bekannten historischen Persönlichkeit, nämlich Anna von Ungarn, die im 16. Jahrhundert ein ungewöhnliches und interessantes Leben führte. ...

In "Die Luftvergolderin" widmet sich Jeannine Meighörner einer wenig bekannten historischen Persönlichkeit, nämlich Anna von Ungarn, die im 16. Jahrhundert ein ungewöhnliches und interessantes Leben führte. Es ist eine gute Idee, die Biographie dieser Frau zu erzählen, denn erzählenswert ist sie, und ich kann vorab sagen, daß ich durch das Buch viel über Anna von Ungarn gelernt habe.

Die Autorin wählt den Weg, das auf auf dem Titel gezeigte Brautportrait Annas in die Geschichte einzubinden, gewissermaßen als roten Faden für das Buch zu nehmen. Das ist ein origineller Ansatz und von der Idee her gut, geht aber leider doch sehr auf Kosten des eigentlichen Themas. Es wurde mir leider fast durchweg zu viel auf Nebenschauplätzen verweilt. Die ersten hundert Seiten führten uns in die Hintergründe von Annas Situation als junge Frau ein - sie wurde fast noch als Kind mit Kaiser Maximilian von Österreich vermählt, der hier als Stellvertreter für seine Enkel agierte, die zu dem Zeitpunkt noch zu jung waren, um Anna selbst zu heiraten (ja, zwei Enkel, wer nun Anna letztlich tatsächlich heiratet, ist zu dem Zeitpunkt noch nicht raus). Nach Maximilians Tod sitzt Anna erst mal herum und wartet darauf, daß einer dieser Enkel sie heiratet. Dies ist der Zeitpunkt der Entstehung des erwähnten Bildes und ihre Sitzungen mit dem Maler Hans Maler bilden in jenen ersten 100 Seiten eine Art Rahmenhandlung. Es werden immer einzelne Sätze aus verschiedenen Dialogen und Sitzungen der beiden herausgenommen, was auf mich ziemlich ungeordnet wirkt und auch zu mehreren Wiederholungen führt. So findet keine Unterhaltung statt, sondern man liest eben immer nur herausgerissene Sätze, die dann von ausführlichen erklärenden Absätzen unterbrochen werden. In diesen Absätzen erinnern sich sowohl Hans Maler wie auch Anna selbst an das bereits Geschehene. So erfahren wir über Annas Kindheit und Herkunft, über die kurzen Jahre der Ehe mit Maximilian und können uns Stück für Stück - passend zum roten Faden - ein geistiges Bild malen. Das ist an sich keine schlechte Methode und gerade Annas Erinnerungen und die persönlichen Einblicke in Maximilians Persönlichkeit, sind interessant. Leider aber gibt es auch sehr detailverliebte historische Informationen, die für die Geschichte oft gar keine Relevanz haben. Nun liebe ich Geschichte, lese sehr gerne darüber, aber es muß schon im Zusammenhang stehen und wenn die historischen Ausführungen die Handlungen ständig und lange unterbrechen, dann macht sogar mir das Lesen über Geschichte keinen Spaß mehr. Die Sprunghaftigkeit, die langen Einschübe ohne Relevanz für die Geschichte, die Wiederholungen...all das machte es schwierig und unerfreulich, sich durch diesen ersten Teil zu arbeiten. Fünfzig Seiten dieses ersten Teils sind dann einer ausführlichen Beschreibung der Kindheit und Jugend Hans Malers gewidmet, inklusive fast handbuchartiger Erklärungen zur Farbherstellung. An der Stelle habe ich den Klappentext noch mal konsultiert, weil es hier einfach so weit vom Thema entfernt war, daß ich dachte, ich hätte im Klappentext etwas übersehen. Nach diesen ersten 100 Seiten haben wir über Anna ziemlich wenig und über Hans Maler viel zu viel erfahren. Ich war an dieser Stelle kurz davor, das Buch abzubrechen und ohne Leserunde hätte ich das auch getan.

Der Mittelteil ist dann wesentlich erfreulicher und da hat sich das Weiterlesen doch gelohnt. Es geht hier endlich wirklich um Anna und ihre Ehe zu dem Maximiliansenkel Ferdinand. Hier wird der sich vorher fast wie ein Sachbuch lesende Roman auch etwas mehr zu Roman, mit Szenen, die sich vom rein Beschreibenden wegbewegen und Emotionen zeigen. Leider sind diese Szenen auch immer wieder mit langen Einschüben voller Hintergrundinformationen unterbrochen. Insgesamt las sich das gesamte Buch über weite Strecken eher wie ein Sachbuch, nicht wie ein Roman. Der Schreibstil an sich ist sehr gut, man merkt, die Autorin kann mit Sprache umgehen, schreibt auf gehobenem Niveau und es war erfreulich zu lesen. Nur hätte sie sich vielleicht entscheiden sollen, ob sie nun einen Roman oder ein Sachbuch schreiben möchte, denn so ist es doch eine etwas unbefriedigende Mischung aus beidem geworden. Einige der Romanszenen sind richtig herrlich, gerade Annas Sterbeszene bewegt zutiefst und ist literarisch ein Vergnügen. Von solchen Szenen hätte ich mir viel mehr gewünscht und bei einem solchen Umgang mit Sprache hätte das hier ein absolutes 5-Sterne-Buch sein können. Anna und auch ihr Mann Ferdinand nehmen Kontur an, die Beziehung zwischen ihnen ist facettenreich und lebendig geschildert, die Szenen mit ihnen beiden zusammen sind die besten des Buches. Sehr berührend, farbig, die historischen Namen werden zu Menschen.

Weniger gut gelungen ist weiterhin die Vermittlung der Hintergrundinformationen. Die langen sachbuchartigen Einschübe habe ich bereits erwähnt, wobei mir diese noch lieber waren, als das häufig verwendete Dialog-Infodumping. Die Autorin greift hier vorwiegend auf Dialoge zwischen Anna und ihrer Kinderfrau Jeanne zurück - diese Dialoge (eigentlich eher Monologe Annas, unterbrochen von einzelnen Ausrufen Jeannes) dienen ausschließlich dazu, uns geschichtliche Details zu berichten und wirken unecht, weil niemand solche Dialoge führen würde. Besonders deutlich wird es, wenn auch noch erwähnt wird, daß Jeanne das, was Anna ihr erzählt, schon weiß oder unzählige Male gehört hat. Ich fühle mich als Leser dann immer nicht ernst genommen, wenn dieses Dialog-Infodumping angewendet wird. Hinzu kommt, daß einige dieser in den Dialogen beschriebenen Dinge wundervoll farbige Romanszenen abgegeben hätten anstatt so lieblos heruntererzählt zu werden.

Im letzten Teil des Buches springt die Autorin dann überraschend in die späten 1930er und berichtet uns in ziemlicher Detailfreude von einem Jungen aus einer Familie, der das Brautportrait nun gehört. Damit greift sie zwar ein wichtiges Thema auf, nämlich das der Beutekunst, aber abgesehen davon, daß einem die starke Verbindung des Jungen zu dem Gemälde nicht nachvollziehbar erscheint, daß vierzig Seiten lang viel Belangloses berichtet wird, das nichts mit dem Gemälde und Anna von Ungarn zu tun hat, paßt dieser Teil meines Erachtens nicht ins Buch. Da wäre vielleicht ein sachliches Nachwort sinnvoller gewesen, denn so wundert man sich, warum man minutiös über die Tagesabläufe eines Jungen, das Berufsfeld und den Werdegang einer Kaltmamsell und anderes liest. Insgesamt sind von den knapp über 300 Seiten ungefähr 100 Seiten Nebenhandlungen gewidmet, die mit Anna von Ungarn letztlich nichts zu tun haben. Wen das nicht stört, der kann mit diesem Buch durchaus glücklich werden, denn der Schreibstil an sich, die vielen historischen Informationen und die gute Recherche sind erfreulich. Ich war aber leider doch etwas enttäuscht.

Veröffentlicht am 16.06.2019

Gemächliches Sittengemälde

Der Fall Hildegard von Bingen
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In "Der Fall Hildegard von Bingen" nimmt Edgar Noske die Ereignisse um die Gründung des Klosters Ruprechtsberg durch Hildegard von Bingen und webt sie in eine Mischung aus historischen Fakten und Fiktion ...

In "Der Fall Hildegard von Bingen" nimmt Edgar Noske die Ereignisse um die Gründung des Klosters Ruprechtsberg durch Hildegard von Bingen und webt sie in eine Mischung aus historischen Fakten und Fiktion ein. Klappentext, Titel und Untertitel ("Ein Krimi aus dem Mittelalter") sind irreführend und unpassend. Es ist alles andere als ein Krimi (was auch völlig in Ordnung ist), sondern ein Sittengemälde der geistlichen Welt des 12. Jahrhunderts und ein Roman, der uns Hildegard von Bingen als Mensch nahebringt.

Viel Spannung sollte der Leser deshalb nicht erwarten. Die im Klappentext erwähnten gefundenen sterblichen Überreste sind zwar der Aufhänger für Hildegard von Bingen, aus ihrem Leben zu berichten, aber das "Geheimnis" ist keineswegs so "düster", wie es uns der Klappentext weismachen will. Eine in diesem Zusammenhang gemachte Aussage aus dem Buch faßt es gut zusammen: "Ich muss gestehen, ich war auf ein schlimmeres Geständnis gefasst." Ich auch. Mich hat es zwar nicht gestört, daß der Fokus des Buches ein anderer war, aber solch irreführende Vermarktung ist immer wieder ärgerlich.

Letztlich geht es in der ersten Hälfte des Buches um die Schwierigkeiten, die Hildegard von Bingen hatte, um Erlaubnis und Mittel für ihr eigenes Kloster zu erlangen. Die zweite Hälfte beleuchtet Bau und erste Zeit des Klosters. Die Rahmenbedingungen und der Großteil der Charaktere sind historisch belegt, die Details und diverse Charaktereigenschaften entspringen der dichterischen Freiheit. Edgar Noske hat die historischen Fakten mit einem farbigen, detailfreudig ausgearbeiteten Bild gefüllt, Namen mit Persönlichkeit versehen und so diese Zeit recht gut aufleben lassen. In manchen Fällen (wie bei der Dämonisierung des Abtes Kuno) gerät das Ganze ein wenig zur Karikatur; gelungene humorvolle Einschübe wechseln mit einigen platten Albernheiten. Die Detailfreude ist oft erfreulich, weil sie Geschehen und Umgebung greifbar macht, an anderen Stellen zieht sie die Geschichte zu sehr in die Länge.

Das Erzähltempo bleibt im ganzen Buch insgesamt gemächlich. Der erste Teil ist handlungsreicher und auch spannender. Im zweiten Teil häufen sich leider zu viele irrelevante Alltagsbegebenheiten, langatmige Dialoge, es gibt einige Wiederholungen. Der letzte Teil wirkte mir zu krampfhaft darauf bedacht, noch ein aufregenderes Ende hinzulegen.

Interessant war der Blick in die farbig geschilderte Klosterwelt jener Zeit und die gelungene Einflechtung historischer Gegebenheiten und der Probleme, denen Hildegard von Bingen sich stellen mußte. Auch Hildegard von Bingen hier als Menschen nahegebracht zu bekommen war eine lohnende Leseerfahrung. Hätte das Buch sich auf diese Stärken konzentriert und die Spannung durch straffere Erzählweise, nicht durch künstlich wirkende "Krimi"-Elemente geschaffen, hätte es mir noch wesentlich besser gefallen.

Veröffentlicht am 14.06.2019

Tolstois Zeigefinger

Auferstehung
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Tolstois "Die Auferstehung" unterscheidet sich sehr von seinen anderen bekannten Romanen und das ist vom Autor auch durchaus so beabsichtigt. Er wollte mit diesem Buch nicht unterhalten, sondern seine ...

Tolstois "Die Auferstehung" unterscheidet sich sehr von seinen anderen bekannten Romanen und das ist vom Autor auch durchaus so beabsichtigt. Er wollte mit diesem Buch nicht unterhalten, sondern seine Gesellschaftskritik, seine Lehre verkünden. Das tut er auch und zwar leider mit schwer erträglicher Penetranz. Der erhobene Zeigefinger fuchtelt dem Leser die ganze Zeit vor den Augen herum und läßt diesen die Geschichte kaum noch erkennen.

Die Grundgeschichte – inspiriert von einem tatsächlichen Gerichtsfall – ist interessant und berührend. Der Adlige Nechljudow wird als Geschworener mit einer für ihn schon fast vergessenen Jugendsünde konfrontiert und erkennt, welche gravierenden Auswirkungen diese für die junge Katjuscha Maslowa hatte. Er hat sie Jahre zuvor verführt, dann sein komfortables Leben weitergeführt. Katjuscha wurde schwanger, von der Gesellschaft verstoßen, stürzt ab, wird zur Protituierten und steht nun wegen eines vermeintlichen Tötungsdeliktes vor Gericht. Die Geschichte dieser beiden, die unterschiedlichen Gefühle, Lebenswelten und Auswirkungen einer Nacht werden berührend geschildert, Katjuscha ist dem Leser sehr nahe, ist eine beeindruckende Persönlichkeit, deren Seelenleben einen kaum kalt lassen kann. Auch Nechljudows Wandlung vom unschuldigen, ehrlich verliebten Jüngling zu einem jungen Mann, der sich zu leicht von seinem gesellschaftlichen Umfeld korrumpieren läßt und gar nicht richtig versteht, was er Katjuscha antut, liest sich gut, wenn seine Motivationen auch ab und an etwas zu ausführlich erklärt werden.

Beeindruckend ist, wie farbig das Gerichtsverfahren beschrieben wird, mit welch guter und spitzer Beobachtungsgabe Tolstoi seine Charaktere darstellt. Der Einblick ins Justizsystem des zaristischen Russland ist aufschlußreich, umfaßt im weiteren Verlauf des Buches noch Beschreibungen vom Gefängnisalltag, Gefangenentransporten nach Sibirien, Einblicke in die Organisation des Strafvollzuges. Sehr schön aufgezeigt ist ebenfalls, wie sehr menschliche Schwächen juristische Entscheidungen beeinflussen können und wie viel man erreichen konnte, wenn man nur die richtigen Leute kannte. Soweit die Stärken des Buches.

Wie anfangs erwähnt, ging es Tolstoi nicht um das Unterhalten, sondern um seine Botschaft. Er nutzt hier Nechljudow, der durch das Schicksal Katjuschas nicht nur sein eigenes Fehlverhalten erkennt und gutmachen möchte, sondern eine radikale abrupte (und dadurch unglaubwürdige) 180-Grad-Wendung vom gedankenlosen Adligen zum Social Justice Warrior macht. Man bekommt den Eindruck, Nechljudow möchte im Alleingang das Justizsystem verändern, er erinnerte mich ein wenig an die ???-Bücher meiner Kindheit. ("Wir übernehmen jeden Fall!") Uns werden nun zahlreiche, kaum noch auseinanderhaltende Schicksale präsentiert, und Nechljudow will ihnen allen helfen, denn natürlich sind sie alle unschuldig. Der zweite Teil des Buches besteht aus sich sehr ähnlichen Beschreibungen von Nechljudow, der einflußreiche Menschen aufsucht und sie um Intervention zugunsten von Strafgefangenen ersucht. Das ist für den Leser, der mit Namen, äußerlichen Beschreibungen und Fallgeschichten geradezu überschwemmt wird, viel zu viel.

Hinzu kommt, daß Tolstoi, eigentlich ein begnadeter Erzähler, sich hier in plumper schwarz-weiß-Malerei ergeht und dies auch noch mit ungeschickten Erzählmitteln. Das vermittelte Weltbild ist von schmerzhafter Schlichtheit: alle Reichen sind böse, hartherzig, unehrlich und etwas beschränkt. Alle Inhaftierten sind unschuldig. Die Armen sind ehrlich, gutherzig und edel. Etwas Differenzierung hätte Tolstois Botschaft, die im Grunde ja gut und sinnvoll ist, stärker gemacht. So tut er das, was er den Reichen im Buch vorwirft: er ergeht sich in Pauschalurteilen. Das ist anstrengend, verkauft den Leser für dumm und schwächt die Botschaft.

Im dritten Teil widmet sich das Buch wieder etwas mehr der Kerngeschichte zwischen Nechljudow und Katjuscha, wird auch an vereinzelten Stellen ein (klein) wenig differenzierter. Das Ende dieser Geschichte ist gut konzipiert. Das Ende des Buches ist leider zum politisch-religiösen Flugblatt (inklusiver extensiver Bibelzitierung) geworden.

Hätte Tolstoi sich auf seine Kerngeschichte konzentriert, eventuell noch ein oder zwei weitere Nebenschicksale eingebaut, hätte er seine Aussage differenzierter und weniger platt vorgebracht, wäre dies ein bemerkenswertes Buch mit wichtigen Überlegungen zu Justiz, Menschlichkeit, Macht und Gerechtigkeit geworden. So ging es einem leider zum Großteil auf die Nerven.

Veröffentlicht am 08.06.2019

Erfüllte nicht ganz die Erwartungen

Die Krankheitensammlerin
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In „Die Krankheitensammlerin“ begleiten wir Fiona, die, wie der Titel schon verrät, gleich mit mehreren chronischen Krankheiten zu kämpfen hat. Die Diagnose einer Schilddrüsenunterfunktion ist für sie ...

In „Die Krankheitensammlerin“ begleiten wir Fiona, die, wie der Titel schon verrät, gleich mit mehreren chronischen Krankheiten zu kämpfen hat. Die Diagnose einer Schilddrüsenunterfunktion ist für sie der zündende Moment, ihr Leben zu ändern. Das fand ich von der Thematik her sehr interessant, denn ich kenne sonst keine Romane, in denen es um Schilddrüsenkrankheiten geht und ich war gespannt, wie Fiona ihr neues Leben, ihre Vorsätze, angehen würde. Der Klappentext verrät, daß sie dabei ziemlich unbarmherzig mit sich selbst ist. Leider ist der Klappentext irreführend, denn letztlich geht es sehr stark um Manie und Psychose. Ein großer Teil des Buches beschreibt Fionas Abgleiten in dieselben. Es wäre sinnvoll gewesen, diesen Fokus im Klappentext nicht gänzlich unerwähnt zu lassen, denn so gehen die Leser mit falschen Erwartungen an das Buch und Leser, die sich eher für die in „Die Krankheitensammlerin“ behandelten Themen interessieren, werden nicht durch den Klappentext angesprochen.

Ich wollte Fiona auf ihrer Reise begleiten, lesen, wie sie mit der Diagnose zurechtkommt, wie ihre radikalen Vorsätze sich gegen die Realität behaupten müssen und was sie dadurch ändert. Eine solche Reise gibt es aber leider nicht. Die detaillierten Beschreibungen ihrer manischen Phasen, ihrer durch die Psychose beeinflussten Gedanken fand ich anstrengend. Das spricht allerdings auch für die Autorin, denn solche Beschreibungen sollen auch anstrengend sein, sonst würden sie am Thema vorbeigehen. Überhaupt ist der Schreibstil eigentlich erfreulich. Es blitzt trockener Humor hindurch, es ist gerade am Anfang noch eine gewisse Leichtigkeit vertreten, es kann aber auch die Verzweiflung und eben auch die Manie gut vermittelt werden. Einige Stilmittel (wie zB recht sinnlose und halbherzig umgesetzte Namensdoppelungen) waren allerdings nicht mein Fall.

Fiona ist keine sympathische Protagonistin, das soll sie auch gar nicht sein. Am Beginn und am Ende des Buches und in manchen Momenten zwischendurch kann man mit ihr mitfühlen, aber den Großteil des Buches über ist sie unangenehm. Es gibt unsympathische Protagonisten, über die man gerne liest, bei Fiona gleitet es aber zu sehr ins Enervierende ab. Das ist sicher zum großen Teil ihren Krankheiten geschuldet, aber für meinen Geschmack war es doch etwas zu viel Selbstmitleid, zu viel mangelnde Empathie, zu viel Herabsehen auf andere. Sie theoretisiert ausführlich zu diversen Themen, was mir ebenfalls zu viel war. Man hätte ihre Charakteristika meiner Meinung nach auch etwas weniger ausführlich und wiederholend vermitteln können, so daß die Botschaft angekommen, aber Fiona dem Leser nicht so sehr auf die Nerven gegangen wäre.

Die Gewichtung entsprach auch in anderen Punkten nicht meinem Geschmack. Während die für Fiona wichtigen Menschen und ihre Beziehung zu ihnen seltsam blaß bleiben, wird eine Zufallsbegegnung mit einem Obdachlosen sehr breit berichtet, nimmt eine meines Erachtens viel zu übertriebene Entwicklung, die für das Buch zu überfrachtet ist.

Manche Fragen blieben offen, versickerten in der Geschichte. Ein schwerwiegendes Thema wurde ganz am Ende in ein paar Sätzen kurz angesprochen, war – wie das Ende der Obdachlosengeschichte - für diese Nebenbeibehandlung viel zu gewichtig und für die Geschichte nicht relevant.

Oft hatte ich das Gefühl, daß alle mögliche Gesellschaftskritik unbedingt in die weniger als 200 Seiten hineingepreßt werden sollte, was zu Lasten der Geschichte und der Charaktere ging. Der an vielen Stellen so schöne trockene Humor mußte dann der trockenen Belehrung Platz machen, der Leser wurde im Vorbeigehen mit Themen konfrontiert, die sich nicht in einigen Absätzen nebenbei behandeln lassen.

Bei den ungünstigen Gewichtungen und generell hätte ein gutes Lektorat viel bewirken können. Eine sorgfältige Nachlektorierung des Buches wäre meines Erachtens ohnehin angebracht. Es sind zahlreiche Fehler vorhanden, darunter gleich mehrere störende Logikfehler.

Insofern bin ich zwiegespalten. Der Schreibstil ist überwiegend gut, das Thema ungewöhnlich und an vielen Stellen gelungen vermittelt (auch wenn es leider nicht das Thema war, das der Klappentext verspricht). Gerade der Anfang des Buches ist gelungen, nimmt den Leser gleich mitten in die Geschichte. Der letzte Teil ist berührend und beinhaltete das, was ich eigentlich von der Geschichte erwartet hatte. Die oben genannten Punkte haben aber leider mein Lesevergnügen stark beeinträchtigt.