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Veröffentlicht am 24.07.2019

May god have mercy on your soul

Der letzte Pilger (Ein Fall für Tommy Bergmann 1)
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May god have mercy on your soul, Gott sei deiner Seele gnädig, mit diesem Satz wird die junge Agnes während des Zweiten Weltkriegs von Großbritannien aus auf eine Mission nach Norwegen geschickt. Das Land ...

May god have mercy on your soul, Gott sei deiner Seele gnädig, mit diesem Satz wird die junge Agnes während des Zweiten Weltkriegs von Großbritannien aus auf eine Mission nach Norwegen geschickt. Das Land ist von den Deutschen besetzt und sie arbeitet im Widerstand. Agnes' verstorbener Vater war Norweger, die wiederverheiratete Mutter ist Engländerin, begeistert von Hitler wie Schwester und Stiefvater, zu Agnes' Entsetzen. Die junge Frau ist mit diesem Familienhintergrund prädestiniert für einen Einsatz als Spionin, soll sich mit Männern einlassen, um Informationen zu liefern, doch wünscht sich bald wichtigere Aufgaben. Mit dem Unternehmer Gustav Lande lernt sie einen wichtigen Partner der Deutschen und dessen kleine Tochter kennen. Als sich der Witwer mit ihr verlobt, obwohl Agnes heimlich einen anderen liebt, steckt sie bald tiefer in einem gefährlichen Spiel, als sie sich je vorstellen konnte. 2003 wird ebenfalls in Norwegen ein grausamer Fund gemacht. Die drei Leichen liegen seit Jahren dort, zwei Erwachsene und ein kleines Mädchen. Eine Leiche hat auf einem Ring eine Widmung mit dem Namen Gustav. Der Osloer Polizist Tommy Bergmann wird indessen zu einem aktuellen Mord geschickt. Carl Oscar Krug war ein bekannter Widerstandskämpfer und Unternehmer und wurde jetzt grausam ermordet mit einem Hitlerjugend-Messer. Tommy beginnt, Verbindungen zu sehen, und verbeisst sich in den Fall.

Ich bin gerade sehr begeistert vom Ende des Krimis, von den völlig unerwarteten Wendungen, mit denen ich so nie gerechnet hätte. Ab einem bestimmten Punkt glaubt ich, eine Ahnung vom Fortschritt der Handlung zu haben, und lag doch völlig daneben. Häufig liegt es bei Spannungsliteratur so, dass ich das Gefühl einer künstlich aufgebauten Spannung habe, im Sinne von "Wenn jetzt diese eine Person zur Abwechslung die Wahrheit sagte, könnte man sich das ganze Buch sparen - laaaangweilig". Hier jedoch ist die gesamte Handlung sehr komplex. Zuerst sah ich den Zusammenhang zwischen dem alten und dem neuen Mord nicht, dann gab es einen Zusammenhang, aber keine sinnvolle Erklärung. Dann hatte ich einen Mordverdächtigen, aber das Motiv passte mit der Tat nicht zusammen. Das ist so clever gemacht und so sinnvoll eingebettet in die reale Situation während der Besatzungszeit, dass der Autor wirklich großes Lob verdient.

Ich mag Krimis mit historischen Komponenten und hatte ganz durch Zufall kurz zuvor von Jo Nesbø "Rotkehlchen" gelesen mit einem ganz ähnlichen Plot, auch Norwegen, eine neuer und ein alter Fall, die durch eine Tat aus der Zeit von Besatzung und Widerstand miteinander verbunden sind. Nesbøs Roman ist eine Gangart härter (beim Pilger ist die Beschreibung des aktuellen Mordes die brutalste Situation am ganzen Buch - mit dem Messer gemetzelt und mit ausgestochenen Augen, schlimmer wird es später nicht; die Spannung speist sich stark aus den Ängsten Agnes'), dafür finde ich das Buch von Sveen deutlich logischer, realistischer hinsichtlich von Tat und Tatmotivation. Empfehlen kann ich beide. Bemerkenswert am "Pilger" war für mich, dass sich die Wechsel zwischen den Zeitebenen für mich gut anfühlten, üblicherweise ist mir so etwas zu künstlich voller Cliffhanger oder ich mag eine Ebene deutlich lieber oder man erzählt mir alles zu langsam. Hier ist das so mysteriös, das hat mich immer weiter getrieben.

Womit ich ein Problem hatte, war zu einem gewissen Zeitpunkt der Ermittler. Endlich einmal wieder kein "beschädigter" Typus - dachte ich. Ich fing an, den rauchenden Einzelgänger zu mögen, der sich vorsichtig in die Mutter von einem der Mädchen aus der Kindermannschaft, die er trainiert, zu verlieben beginnt - bis ich hören durfte, woran seine vorige Beziehung gescheitert war. Tommy hatte seine frühere Lebensgefährtin geschlagen, Besserung gelobt, es wieder getan. Uff. Das ist jetzt nicht so wirklich eine Identifikationsfigur und hätte beinahe zum Abbruch gehört, was schade gewesen wäre. Dennoch frage ich mich ernsthaft, welcher Autor sich gerade so etwas antut?? Und den Lesern?
Edit: das scheint wichtig zu sein für Band 2.

Ich habe den Krimi gehört gelesen von Detlef Bierstedt und bin von seinem Vortrag begeistert, die nuancierte Sprechweise mit sinnvollen Pausen half beim Verständnis des recht komplexen Texts, definitiv aber kein Hörbuch für nebenbei - seitdem jäte ich gerne Unkraut mit Hörbuch.

5 Sterne und direkt Griff zu einem der Folgebände, der schon kurz vorher hier lag, bis ich von den Vorgängern erfuhr.

Veröffentlicht am 24.07.2019

Es war nie langweilig

Schloss aus Glas
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Wie soll ich so ein Buch besprechen? Autorin Jeannette Walls beschreibt ihre eigene Kindheit, als zweites von vier Kindern von Eltern, die einen sehr anderen Lebensstil pflegten. Die Mutter hatte eine ...

Wie soll ich so ein Buch besprechen? Autorin Jeannette Walls beschreibt ihre eigene Kindheit, als zweites von vier Kindern von Eltern, die einen sehr anderen Lebensstil pflegten. Die Mutter hatte eine durch ihre eigene Mutter aufgezwungene Ausbildung zur Lehrerin, sah sich aber als bildende Künstlerin und trug nur unter großem Druck zum Lebensunterhalt der Familie bei. Der Vater trank, konnte keinen Job sehr lange behalten, hatte dabei aber hochfliegende Pläne wie den Bau des titelgebenden Schlosses aus Glas für die Familie. Die Eltern war so voller Träume und Ideen, wie Familienkasse und Mägen der Kinder meist leer waren.

Ich bin auf dieses Interview des jüngeren Bruders Brian gestoßen https://www.youtube.com/watch?v=enRzP7IGUME
Er erwähnt, dass er hauptsächlich die Fehler des Vaters sah, während seine Schwester ihn als den ersten Menschen wahrnahm, der an sie glaubte. Diese unterschiedliche Sicht der Geschwister spiegelt meine Reaktion auf den Roman wider, ich bin gleichzeitig entsetzt und angezogen. Die Kinder suchen teils im Müll nach Essen, haben aber diesen unglaublichen Zusammenhalt untereinander. Die Eltern und besonders die Schulden des Vaters nötigen die Familie immer wieder zu Umzügen, aber dennoch eignen sich die Heranwachsenden eine Bildung an. Der Vater zerlegt im Suff die Einrichtung, riskiert die Gesundheit seines Nachwuchses und liest sich parallel durch alle Bücher aus der Ausbildung seiner Tochter Jeannette.

Mich hat es fast „beruhigt“ zu lesen, dass der Vater neben dem Alkoholismus wohl bipolar gewesen ist, nicht einfach nur, was, nachlässig? Unzuverlässig? Eine Gefährdung für das Kindswohl? Was ist eine Mutter, die heimlich Schokolade isst, während die Mägen ihrer Kinder leer sind? Reicht das als Grund, während andere Eltern mit psychischen Problemen es hinbekommen? Oder spielte das, was man über die Großeltern erfährt, noch mit hinein? Ebenso schockierend aber auch „das System“, das sich eher nicht meldet zum Wohle der Kinder, während die „braven Bürger“ den „Läusekindern“ nur Ablehnung entgegenbringen. Selbst eine zarte Freundschaft der Erzählerin versandet, weil im letzten gemeinsamen Wohnort eine Freundschaft über die Rassengrenzen hinaus nicht möglich ist.

Umso beachtlicher, dass Walls inzwischen die Vermieterin ihrer Mutter ist – der Wohnstil scheint sich bei der Mutter nicht geändert zu haben.
https://www.nytimes.com/2013/05/26/magazine/how-jeannette-walls-spins-good-stories-out-of-bad-memories.html
Und auch die Mutter scheint und schien einfach schon nicht für sich selbst sorgen zu können, geschweige denn für Kinder.

5 Sterne, aber keine einfache Lektüre. Ich brauchte zwischendurch einige Tage Pause.

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Veröffentlicht am 11.06.2019

„It was many and many a year ago…”

Löwenzahnkind
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„Ich sehe eine dreiunddreißigjährige Frau, die gerne feiert, keine Lust auf Small Talk hat und die großartige Fähigkeit besitzt, Details im Ganzen und das große Ganze im Detail zu erkennen.“ S. 49 So charakterisiert ...

„Ich sehe eine dreiunddreißigjährige Frau, die gerne feiert, keine Lust auf Small Talk hat und die großartige Fähigkeit besitzt, Details im Ganzen und das große Ganze im Detail zu erkennen.“ S. 49 So charakterisiert ihr Kollege Anders Bratt sie, die Polizistin mit Psychologiestudium Charlie Lager, die gerne zu viel trinkt, zu viel raucht und in ziemlichem Chaos lebt, dabei aber hochintelligent ist und. vor allem, nichts von sich preisgibt. Beider Chef Challe schickt sie los, als die 17jährige Annabelle Roos verschwindet, ausgerechnet in Gullspång. Charlie ist dort aufgewachsen, bis sie vierzehn war. Sie wollte nie zurückkehren, wegen Betty und all der Dinge, die damals passiert sind.

Wer hier als "klassischer" Thrillerleser einsteigt, wird vermutlich enttäuscht sein. Das ist eher Psychodrama, Familienträgödie, Sozialkritik, als solche aber richtig gut und mitreissend geschrieben. Es passieren die Dinge, die Polizisten genau so sicherlich erleben – wenn auch wenig passiert im Sinne von „ermittelt, verhört, Täter gefasst“. Wer sich also darauf einlassen kann, findet einen meiner Meinung nach toll geschriebenen Roman. Allerdings ist das definitiv kein Wohlfühlbuch, eigentlich ist nur Lize Spit „Und es schmilzt“ härter. Es ist ein Buch über die Hoffnungslosigkeit in den heruntergekommenen Orten am gefühlten Ende der Welt, über Alkohol, die einzige Kneipe mit nur einem Gericht, über Tabletten, den Wunsch zu vergessen, den Wunsch, wegzukommen. Autorin Lina Bengtsdotter schreibt über Jugendliche, die nach Halt und Hoffnung suchen, aber letztlich ebenso allein sind wie die Erwachsenen.

Geschickt werden drei Handlungsstränge aufgebaut: in der Gegenwart ermittelt Charlie mit ihrem Kollegen und taucht bald tiefer in ihre eigene Vergangenheit ein, als sie jemals wollte. Parallel folgt man Annabelle bis zu ihrem Verschwinden – diese beiden Perspektiven entwickeln sich aufeinander zu. Doch da gibt es noch eine weitere Ebene um zwei beste Freundinnen. Ich hatte mit etwas ganz anderem gerechnet, war schockiert über die Wendungen und Erkenntnisse und froh, mich auf das Buch eingelassen zu haben.

Etwas ganz Eigenes, Anderes. 5 Sterne.

Veröffentlicht am 10.06.2019

Let it be done!

Whalerider
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An unexpected gem with a unique combination of cultural background on Maori-tradition, (Maori) myth, modern fairy tale and many more is what „The Whale Rider“ turned out to be for me. There was not much ...

An unexpected gem with a unique combination of cultural background on Maori-tradition, (Maori) myth, modern fairy tale and many more is what „The Whale Rider“ turned out to be for me. There was not much I had knowingly perceived about New Zealand, so when a book club challenge came along to read such a small book of only 144 pages – what might I lose? And that decision was made despite some profound aversion of mine to anything getting even close to „fantasy fiction“.

The story does include lots of myth along with lots of mythological elements which I rather really liked – I can go with myth, to me that has nothing to do with fantasy, I just mention as some readers might have different „no-go areas“. And 144 pages turned out to be no small task to read in this context – simply because the whole story is so rich I felt compelled to stop reading many times, literally stand back and consider. No wonder the book is often read at schools given the broad variety of tasks for interpretation on various levels. Still, even for the grown-up reader, those tasks come easily, rather force themselves upon you while reading: the story is about gender and family roles, traditions vs. modern life; cultural differences, clashes, prejudice and expectations; personal integrity and roots; family, society and individuals. The language is rich, but not hard to decipher like when the mythological founder Kahutia throws his spears which represent his live-giving sources or the heart-wrenching comment that „Under these conditions, the love which Kahu received from [her grandfather] Koro Apirana was the sort that dropped off the edge of the table, like breadcrumbs after everybody else has had a big meal.“ P 36f.

There is a constant change between first-person narrator – little Kahu’s uncle telling her story – and the third person usage for the portions of myth and about the whales which, again, demands for consideration about parallels and symbols in a very tantalising way. Author Witi Ihimaera uses Maori language in abundance – the translation follows in the next sentence (I had not been sure at first, so I checked some phrases). This and the proper names force the non-Maori experienced reader to both plunge into the culture and keeps the concentration high to not get lost – so in a whole, I ended up having been given the rare experience of interpreting myself through the text without that back-to-school feeling of having been forced to do it, the immersion comes rather natural. Go with the waves! Let it be done!

Autor: Witi Ihimaera

Veröffentlicht am 10.06.2019

Wenn sie nur geredet hätten

Die Bildermacherin
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Die dreißigjährige Fotografin Amalia ist gerade in Afrika, als sie vom plötzlichen Tod ihrer geliebten Oma „Zille“ (Cäcilia) erfährt, die sie nach dem frühen Tod ihrer Eltern liebevoll großgezogen hatte ...

Die dreißigjährige Fotografin Amalia ist gerade in Afrika, als sie vom plötzlichen Tod ihrer geliebten Oma „Zille“ (Cäcilia) erfährt, die sie nach dem frühen Tod ihrer Eltern liebevoll großgezogen hatte im kleinen Südtiroler Dorf Pfunders. Doch beim „Malile“, dem Leichenschmaus, muss sie zu ihrem Entsetzen erfahren, dass die rüstige 74jährige nicht etwa einen Unfall oder einen Infarkt gehabthat, nein, sie wurde erschossen. Was zuerst noch für einen Jagdunfall gehalten wird, muss bald als Mord eingestuft werden. Und so darf Amalia im Haus ihrer Kindheit ohne die Wärme der Oma eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen, widersprüchliche Kontakte mit alten Freunden und Bekannten erleben, aber auch Dinge aus der Vergangenheit Zilles erfahren, die sie sich nie hätte träumen lassen. Doch reichte das für einen Mord aus? Bald fühlt sich auch Amalia nicht mehr sicher.

Wow, das ist ein Kracher! Das ist so richtig gut geschrieben, der Plot ist originell, die Personen sind sehr gut gezeichnet. Mein Favorit ist ja Nanne, die jedes lokale Klatschblatt ersetzen dürfte. Aber auch die Jugendfreundinnen Amalie und Evi, die beide eigentlich zufrieden in ihrem Leben sind, sich aber doch gelegentlich einfach „mehr“ wünschen, fand ich sehr glaubhaft. Die gesamte Handlung ist mitreißend, ein typischer Whodunnit, aber mit fast thrillerhafter Dauer-Spannung (nur ohne irgendwelche Folterszenen oder Gewaltorgien). Dazu gibt es reichlich Humor (wie gesagt, Nanne), eine Prise Jugendliebe ohne Kitsch und viel Rückblick in die Südtiroler Geschichte, von der ich erschreckend wenig wusste. Auch die Landschaft machte einfach Lust auf mehr und Hunger bekomme ich von solchen Büchern auch recht gerne. Im Moment waren das dann zwar Bratkartoffeln, aber gut…

Geschickt finde ich den Aufbau, die Personen und Namen werden erst schrittweise eingeführt und verknüpft, dazu gibt es die Rückblicke aus Sicht der jüngeren Zille. Man kann sich die Situationen gut vorstellen. Interessant, dass mir eigentlich alle sympathisch waren – und dass ich völlig danebenlag mit meinem Verdacht. Gerne mehr!

Die Krimi-Entdeckung des Jahres von zwei Debütantinnen!
5 Sterne

P.S. Im Anhang ist ein Glossar, als nicht-Südtiroler ist das seeeehr hilfreich!

http://www.bildermacherin.net