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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 12.06.2019

Grandios! Doch von einer Düsternis, die kaum zu ertragen ist

1793
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Stockholm im Jahre 1793. In einer Stadtkloake wird der Torso eines jungen Mannes gefunden, dem bei lebendigem Leib Arme und Beine, Zunge und Augen entfernt wurden. Der geniale, schwer tuberkulosekranke ...

Stockholm im Jahre 1793. In einer Stadtkloake wird der Torso eines jungen Mannes gefunden, dem bei lebendigem Leib Arme und Beine, Zunge und Augen entfernt wurden. Der geniale, schwer tuberkulosekranke Ermittler Cecil Winge und Jean Michael Cardell, ein einarmiger Veteran, machen sich auf die schier aussichtslose Suche nach dem Monster, das einem anderen Menschen so etwas antun konnte.
Niklas Natt och Dag, der Autor, zeigt uns Lesenden in seinem Erstling die schwedische Hauptstadt, wie wir sie uns in unseren schlimmsten Träumen wohl nicht hätten vorstellen können. Der Grossteil der Bevölkerung lebt in bitterster Armut; Sauberkeit, Hygiene und medizinische Unterstützung gibt es nur für den Adel und die vermögenden Bürger. Der Rest kämpft täglich ums Überleben und wenn es sein muss, auch auf Kosten aller Andern. Es ist eine Gesellschaft voller Erbarmungslosigkeit, Gewalt und Bestialität, ein Menschenleben zählt praktisch nichts. Dennoch machen sich die zwei Protagonisten auf die Suche nach einem Mörder, der ihnen nichts ausser einem Torso hinterlassen hat.
Die Geschichte besteht aus vier Teilen, beginnend mit dem Fund der Überreste. Als der Punkt erreicht ist, an dem die Suche nach dem Mörder beendet sein könnte, setzt der zweite Teil zu einem früheren Zeitpunkt im selben Jahr ein. Man glaubt zu wissen, was kommen wird - und wird doch überrascht. Und wieder scheint ein Kapitel in einer Sackgasse zu enden, worauf der dritte Teil noch etwas früher, aber ebenfalls im selben Jahr beginnt. Hier braucht es etwas Zeit, bis sich die Handlungsstränge anfangen sich zu verbinden, doch das Erzählte ist eine eigene Geschichte wert. Wie durch Verleumdung Leben zerstört werden und Menschen zu Bestien werden, wenn sie glauben, unantastbar zu sein. Es ist kaum vorstellbar, welchen Leiden und Qualen Gefangene im damaligen Schweden (wie sicherlich auch im Rest Europas) ausgesetzt waren. Im schlussendlich letzten Kapitel wird der Fall zu Ende gebracht, wobei auch hier wieder einige Überraschungen zu erwarten sind. Weniger was den Täter anbelangt, als vielmehr der Umgang mit dem gesamten Fall.
Gut gefallen haben mir neben den intensiven Darstellungen auch, wie geschickt der Autor Zusammenhänge erstellt. Im ersten Kapitel sind die beiden Protagonisten in einem entsetzlichen Stockholm unterwegs: verdreckt, verroht, einfach widerlich. Doch die beiden Männer passen gut dort hinein: der eine blass wie ein Gespenst, hohlwangig, ständig Blut hustend. Der Andere verschmutzte Kleidung, Blessuren und Narben im Gesicht, roh und brutal aussehend wie die Stadt. Ganz anders der zweite Teil: ein gut aussehender Jüngling schreibt voller Liebe über Stockholm, die Schönheit der Stadt, der Häuser. Man könnte glauben, es handle sich um zwei verschiedene Städte.
Es ist ein überaus beeindruckendes Buch über eine Zeit, in der fast jeder Mensch des Menschen Wolf war. Und über die Frage, ob es sich überhaupt lohnt, sich auf die Suche nach einem Warum zu begeben.

Veröffentlicht am 11.05.2019

Liebenswerte humorvolle Kindheitsgeschichte, die eigentlich zum Weinen wäre

Der Zopf meiner Großmutter
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Mit knapp sechs Jahren kommen der kleine Max und seine Grosseltern als Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion in Deutschland an, wo sie in einem Auffanglager untergebracht werden. Von seiner Grossmutter ...

Mit knapp sechs Jahren kommen der kleine Max und seine Grosseltern als Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion in Deutschland an, wo sie in einem Auffanglager untergebracht werden. Von seiner Grossmutter ständig als Idiot tituliert, umsorgt und umhegt sie ihn dennoch (oder gerade deshalb) wie ein blindes Katzenjunges. Laut ihrer Meinung leidet er an chronischer Bronchitis, chronischer Sinusitis, chronischer Gastritis, mittelgradige Myopie, Allergien und noch vielem mehr. Und ausschliesslich ihrer aufopferungsvollen Pflege ist es zu verdanken, dass er heute noch lebt. Nur schweren Herzens lässt sie ihn in der Schule allein; sicher, dass er dort stets knapp am Rande des Todes steht. Aber wider Erwarten überlebt er diese Herausforderungen und registriert statt dessen immer öfter, dass seine Grossmutter doch nicht stets recht hat. Und dass sein Grossvater beginnt, noch ein anderes Leben zu führen.
Mäxchens Grossmutter ist die eigentliche 'Heldin' der Geschichte, auch wenn ihr Enkel hier als Ich-Erzähler fungiert und von seiner Kindheit berichtet. Seine Oma ist das Grauen in Person, drangsaliert ihr gesamtes Umfeld mit ihrem Rassismus, ihrer Rechthaberei, Unverschämtheit und Tyrannei, ihrem Reinlichkeitsfimmel und der ständigen Angst, ihrem Enkel könne etwas zustossen. weshalb sie ihn kaum aus den Augen lässt. Und trotzdem war ich ständig am Lächeln beim Lesen dieses Buches, denn Alina Bronsky gelingt das Wunder, diese eigentlich schreckliche Frau sowie die entsetzliche Atmosphäre trotz aller Widerwärtigkeiten in einen Hort des Mitgefühls und der Liebe zu verwandeln. Denn man mag es kaum glauben, auch die Grosseltern haben Gefühle. Während der Grossvater sie jedoch in sich verschliesst und nur sehr selten nach aussen dringen lässt, verwandelt die Grossmutter sie in lautstarkes Misstrauen und Beleidigungen. Man ahnt schnell, dass da mehr dahintersteckt als der Frust und die Trauer um die verlorene Heimat, doch erst am Ende offenbart sich in gerade einmal drei kurzen Sätzen das Drama, dass der Grund für die Reise nach Deutschland war.
Eine herrliche Lektüre, die nur einen Nachteil hat: Sie ist viel zu kurz

Veröffentlicht am 26.04.2019

Émiles erste große Liebe - eine wunderbare Geschichte

Der Sommer mit Pauline
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Émile, 15 Jahre, ist bis über beide Ohren verliebt. Er kann sein Glück kaum fassen, als seine Angebetete ihn einlädt, sie in Venedig zu besuchen, wo sie in einem Jugendorchester einen Auftritt hat. Doch ...

Émile, 15 Jahre, ist bis über beide Ohren verliebt. Er kann sein Glück kaum fassen, als seine Angebetete ihn einlädt, sie in Venedig zu besuchen, wo sie in einem Jugendorchester einen Auftritt hat. Doch zu seinem Entsetzen entschließt sich der Rest seiner Familie, die Gelegenheit zu nutzen und auf diese Weise gemeinsam einen Kurzurlaub in Venedig zu verbringen.
'Der Frühling mit Pauline' hätte als Titel deutlich besser gepasst als 'Der Sommer ...', denn die Geschichte spielt vom 12. März bis zum 30. April. Es sind Tagebucheinträge von Émile, der auf diese Weise versucht in Worte zu fassen, was ihn zur Zeit so beschäftigt und verwirrt: seine Gefühle für Pauline. Da er Klassenbester und ein Matheass ist (obwohl ihm nach eigener Auskunft Worte mehr liegen), sind seine Berichte entsprechend gut gelungen. Die Beschreibungen seiner Verzweiflung, wenn seine chaotische Familie sich mal wieder viel zu sehr in sein Leben einmischt, sind so herrlich amüsant übertrieben, dass das Mitgefühl für den jungen Mann schnell zugunsten der Heiterkeit verschwindet. "Mir war so schwer ums Herz, dass ich vor dem Einschlafen wieder zu heulen anfing. Ich wollte an diese Leidstelle beim Katastrophenschutz schreiben, damit sie sich um mein Elend kümmert, aber das ist bestimmt auch so eine Sache, die ich noch nicht darf. ... Das Bett nässe ich nicht mehr ein, aus dem Alter bin ich raus, nur noch das Kopfkissen. Keine Ahnung, ob das besser ist, immerhin trocknen Tränen schneller und stinken nicht, und man muss nicht groß Wäsche machen am nächsten Morgen."
Doch nicht nur seine Verzweiflungsausbrüche sind lesenswert, sondern auch seine fast schon philosophischen Überlegungen. Wie wohl beinahe alle Jugendlichen in diesem Alter stellt er sich Fragen und macht sich Gedanken zum Sinn und Unsinn des Lebens, die so wunderbar geschrieben sind, dass man sie aufschreiben und an die Wand hängen könnte: "Es müsste wirklich einen Minister fürs Innere geben, für innerliche Leere, Gefühle und Hemmungen überhaupt, der hätte alle Hände voll zu tun. Aber der normale Innenminister kümmert sich nur ums Außen. Am liebsten bringt er Leute aus seinem Land heraus, jeden in seine Heimat, auch wenn es die nicht mehr gibt. Aber dem Gesundheitsminister geht es ja auch eher um die Kranken. Diese Titel sollen den Feind verwirren, sagt mein Vater, und der Feind sind anscheinend wir."
Ein durchweg schönes und humorvolles Buch für Jugendliche und Erwachsene über die Zeit der ersten Liebe, die trotz aller Freuden auch ziemlich anstrengend sein kann.

Veröffentlicht am 26.03.2019

Eine Familienreise der etwas anderen Art

Rückwärtswalzer
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Die Prischingerfamilie ist ein liebenswerter, lebhaft-chaotischer Haufen, in deren Mittelpunkt die drei ungleichen Schwestern Mirl, Wetti und Hedi stehen. Als völlig unvermittelt der Lebensgefährte Hedis ...

Die Prischingerfamilie ist ein liebenswerter, lebhaft-chaotischer Haufen, in deren Mittelpunkt die drei ungleichen Schwestern Mirl, Wetti und Hedi stehen. Als völlig unvermittelt der Lebensgefährte Hedis stirbt, gibt es ein Problem: Willi wollte unbedingt in seinem Heimatland Montenegro beerdigt werden, doch die Überführung von Wien ist schlicht zu teuer. So verdonnern sie ihren Neffen Lorenz, der sich gerade in einer Drittel-Life-Krise befindet, sie alle incl. des tiefgefrorenen Willis nach Montenegro zu fahren.
Diese etwas skurrile Reise macht nur die eine Hälfte des Buches aus, wobei der andere Teil aber mindestens ebenso unterhaltsam und amüsant ist. Er beginnt Anfang der Fünfziger Jahre und erzählt in einzelnen Episoden den Lebensweg Willis sowie den der drei Schwestern, die jeweils einen ihnen nahestehenden Menschen verloren haben, über die man jedoch beharrlich schweigt. Dies ist ebenfalls eine Reise, wenn auch nicht im räumlichen Sinn, sondern eine durch die jüngere Vergangenheit unserer bzw. der österreichischen Geschichte. Immer wieder bricht der Weltenlauf in die Familien der Schwestern ein und jede schaut, wie sie auf ihre Weise damit zurecht kommt. Aber klar ist: Niemand wird zurückgelassen - die Schwestern bleiben und halten zusammen.
Es ist eine humorvolle und herzerwärmende Lektüre mit einem Hauch Melancholie, die ich nur schwer aus der Hand legen konnte. Die einzelnen Personen sind trotz ihrer Macken (oder vielleicht gerade deshalb ) überaus liebenswert sympathisch und selbst mit dem anfangs so selbstmitleidigen Lorenz empfand ich irgendwann Mitgefühl. Denn mit drei solchen Tanten ist es nicht ganz so einfach.
Ein rundum schönes und auf jeden Fall empfehlenswertes Buch!

Veröffentlicht am 08.03.2019

So ehrlich, dass es wehtut

Frau im Dunkeln
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Leda, 47 Jahre alt, hat offenbar jeden Grund, glücklich zu sein: Professorin an der Uni mit zwei wohlgeratenen Töchtern, die gerade ausgezogen und zu ihrem Vater nach Kanada gegangen sind. Sie gönnt sich ...

Leda, 47 Jahre alt, hat offenbar jeden Grund, glücklich zu sein: Professorin an der Uni mit zwei wohlgeratenen Töchtern, die gerade ausgezogen und zu ihrem Vater nach Kanada gegangen sind. Sie gönnt sich einen langen Urlaub am Meer, wo sie ihre Tage am Strand verbringt. Dort beobachtet sie eine neapolitanische Großfamilie, wobei sie von einer jungen Frau und deren kleiner Tochter fasziniert ist und dabei Erinnerungen an ihre eigene Vergangenheit als junge Mutter wieder lebendig werden. Trotz ihrer anfänglichen Sympathie für die Beiden lässt sie sich zu einer Tat verleiten, die insbesondere für das Kind schwer zu verkraften ist.
Nein nein, keine Sorge, hier geht es nicht um Gewalt und Brutalität, die Dinge geschehen wesentlich subtiler. Leda ist eine Frau, die wohl ebenso viel Sympathisches wie Unsympathisches in sich birgt und deren Innenleben hier schonungslos dargestellt wird. Vieles von dem, was hier beschrieben wird, trauen sich vermutlich die Meisten nicht zuzugeben. Neben all der Liebe gibt es da auch die Wut auf die eigenen Kinder, denen man sein Leben opfert; der Neid auf die Töchter, die immer mehr die Blicke der Männer auf sich ziehen, während man selbst zu verschwinden scheint; der Verzicht auf eine eigene Karriere. Über so etwas spricht man nicht, aber diese Gedanken und Gefühle sind dennoch vorhanden, sofern man nicht zu 100% mit sich im Reinen ist. Doch wer ist das schon? Und wer kennt nicht das Gefühl, aus einem Anfall von Neid heraus etwas Glückliches zerstören zu wollen, nur weil man es selbst nicht hat? So schändlich Ledas Tat ist (und das klingt jetzt schlimmer, als es tatsächlich ist), wirkliche Abneigung gegen sie konnte ich nicht entwickeln, zu verständlich fand ich ihr Verhalten, auch wenn ich es nicht gut finde.
Elena Ferrante versteht es meisterhaft, eine Protagonistin so erzählen zu lassen, als säße sie einem als leibhaftige Person gegenüber. Dies war schon in ihrer Neapolitanischen Saga so und auch hier gelingt es ihr wieder. So folgt man Leda in ihren Gedanken und Handlungen und fühlt sich ihr nahe, bis plötzlich wieder ein Satz oder Gedanke der Sympathie zu ihr einen Dämpfer versetzt. Als wäre das nicht schon genug des Guten kommt eine sich unmerklich entwickelnde Spannung hinzu, fast schon wie in einem Krimi, da sich Alles auf den Moment zubewegt, der erklärt, wieso das Buch mit diesem Anfang beginnt.
Toll gemacht und klasse erzählt!