Profilbild von yesterday

yesterday

Lesejury Star
offline

yesterday ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit yesterday über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 15.06.2019

Oslo-Berlin-Moskau: ein tödliches Dreieck

Die stille Tochter
0

Dieser Thriller ist Tommy Bergmanns vierter Fall, der für mich bisher “ruhigste”, wenn man das bei Bergmann sagen kann. Ich tendiere sogar dazu, ihn eher als Krimi zu bezeichnen, was nichts Schlechtes ...

Dieser Thriller ist Tommy Bergmanns vierter Fall, der für mich bisher “ruhigste”, wenn man das bei Bergmann sagen kann. Ich tendiere sogar dazu, ihn eher als Krimi zu bezeichnen, was nichts Schlechtes sein muss.

Gard Sveen widmet sich dieses Mal Norwegens Geschichte während der 1970er Jahre. Es war die Blütezeit der DDR, die Mauer wackelte nicht, Amerika misstraute Russland, Europa misstraute der DDR und Russland misstraute sowieso jedem. Überall wimmelte es von Agenten und Oslo bildete da keine Ausnahme. Tommy Bergmann war damals noch jung. Als er zu einem Leichenfund gerufen wird, ahnt er nicht, wie tief in den Kalten Krieg ihn dieser Fall noch führen wird.

Die Stimmung in den Episoden, die in der Vergangenheit spielen, und sich mit den aktuellen abwechseln, ist gut eingefangen. Gut ist auch, dass darauf verzichtet wurde, Zitate der russischen Agenten mit Akzent niederzuschreiben. Dies kann bei wenigen Malen authentisch wirken, aber bei längeren Texten wie so einem Buch doch auf Dauer sehr anstrengend zu lesen sein.

“Die stille Tochter” (auch wenn man Ende vermuten kann, worauf sich der Titel bezieht, der originale ist meiner Meinung nach treffender) ist ein durchwegs spannender skandinavischer Pageturner, der mich persönlich in zwei Aspekten ein wenig überrascht hat. In einem positiv, im anderen negativ.

Positiv: Wir erleben Tommy Bergmann hier öfter ratlos, über lange Strecken von anderen Ermittlern, von ihren Geschichten und Hinweisen zur damaligen Zeit, abhängig. Er hat wenige seiner sonst so prägnanten “Amokläufe”, verrückte Alleingänge, Geistesblitze, die vielleicht nicht immer ganz nachvollziehbar sind. Im Gegenteil - er wirkt geerdeter, liebt die Tochter seiner Lebensgefährtin mehr als er zugibt, recherchiert ganz klassisch und lässt sich überdurchschnittlich viel auf die Sprünge helfen.

Und hier sind wir auch schon beim negativen Aspekt. Ohne zu viel über die Auflösung zu verraten, sie ist zwar eine gute Wendung, aber kommt meiner Meinung nach am Ende etwas zu plötzlich daher. In dieser Form hätte es das einfach schon viel früher geben müssen, was natürlich zur Folge gehabt hätte, dass das Buch dann nur halb so dick geworden wäre.

Wie gesagt, der Twist und der Weg dahin sind durchaus spannend und ein Tommy Bergmann ohne “Superkräfte” oder viel Action ist ganz sympathisch, aber auf den letzten rund 20 Seiten geht es dann ein wenig schnell, als ob die Luft raus wäre.

Wer einen klassischen Skandinavien-Thriller-Einstieg ins Buch mag und das Abtasten und die Fallstricke zwischen den Protagonisten auf beiden Zeitebenen genießt, der wird aber dennoch an diesem Spionage-Krimi seine Freude haben.

Veröffentlicht am 15.06.2019

Viele Köche verderben den Brei, aber eine gut gewählte Charakterauswahl bereichert einen Krimi

Dreizehn Gäste
0

Dieser Krimi bietet gute Unterhaltung und das typische “whodunnit” für alle Fans des gepflegten britischen Detektivgenres. Die Zutaten sind klassisch: Eine Gruppe Menschen aus verschiedenen Gesellschaftskreisen ...

Dieser Krimi bietet gute Unterhaltung und das typische “whodunnit” für alle Fans des gepflegten britischen Detektivgenres. Die Zutaten sind klassisch: Eine Gruppe Menschen aus verschiedenen Gesellschaftskreisen trifft auf einem Landgut zusammen, um ein Wochenende des gepflegten Umgangs von 1936 (als der Roman von J. Jefferson Farjeon erschien) miteinander zu verbringen.

Doch die Tage scheinen von Anfang an unter keinem guten Stern zu stehen und so nehmen die rätselhaften Ereignisse ihren Lauf. Detective-Inspector Kendall ermittelt, tatkräftig unterstützt von zwei der geladenen Gäste, Leicester Pratt, Künstler, und Lionel Bultin, Journalist.

Man sollte definitiv mit der manchmal gewollt umständlichen Erzählweise damaliger Literatur vertraut sein oder sich unbedarft darauf einlassen können, um den Kriminalroman voll genießen zu können. Zudem ist der Stil auch den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen unterworfen, was für uns heutzutage verstaubt und eben umständlich wirken kann.

Dabei findet sich durchaus auch eine Prise Ironie unter den zu Beginn erwähnten Zutaten und damals wie heute gibt es Charaktere, die die Ordnung gerne etwas durcheinanderbringen, es mit Regeln nicht so genau nehmen.

Britischer Stil hin oder her, der Fall selbst ist solide gestrickt und kann mit einer schlüssigen, sogar recht ausführlichen Erklärung aufwarten. Erwähnenswert ist aber vor allem, dass die einzelnen Personen - einige mehr, andere weniger - gut gezeichnet sind und jeder mit seinen Skurrilitäten und Geheimnissen zur unterhaltsamen Atmosphäre des Buches beiträgt.

Wem glaubt man, wem nicht? Wen mag man, wen kann man nicht leiden? Als Leser sitzt man mitten unter den Anwesenden auf dem Landgut und sieht und hört so einiges, am Ende aber fehlen noch kleine Puzzleteilchen, sodass man nicht selbst schon vorher alles lösen kann und eine gewisse Spannung bis zur Auflösung erhalten bleibt.

Veröffentlicht am 21.05.2019

Ein Statement für den Zusammenhalt

Der Wal und das Ende der Welt
0

Was würdest du tun, wenn du befürchtest, dass die Ordnung der Welt innerhalb von wenigen Tagen und Wochen komplett zusammenbrechen wird? Nein, das ist kein Tweet von Donald Trump, sondern ein Aspekt dieses ...

Was würdest du tun, wenn du befürchtest, dass die Ordnung der Welt innerhalb von wenigen Tagen und Wochen komplett zusammenbrechen wird? Nein, das ist kein Tweet von Donald Trump, sondern ein Aspekt dieses Romans von John Ironmonger.

Da es ein Roman ist, der auch unterhalten möchte, ist nicht alles zu 100% logisch oder so wie es jeder erwarten würde, dennoch hat die Geschichte rund um den Londoner Joe Haak, der in das abgelegen 300-Seelen-Dorf St. Piran an der westlichen Spitze Cornwalls reist, viel Charme und auch Stoff zum Nachdenken.

Das Schöne an diesem Roman, der die Bedrohung durch eine aggressive Grippe-Version mit dem Wunsch nach Menschlichkeit und Zusammenhalt verbindet, ist, dass jeder Leser für sich eine Moral daraus ziehen kann. Der Autor stößt einen nicht mit Gewalt in eine Richtung, zudem kann man auch die Anwesenheit des im Titel erwähnten Wals verschieden deuten.

Joe kommt also in dieses Dorf und wird erst einmal mit den Unterschieden zwischen der funktionierenden Gemeinschaft und der anonymen Großstadt konfrontiert. Wie auch er tut sich der Leser mit der Fülle an Namen und Charakteren erst einmal schwer, aber dabei hilft das beigelegte Heftchen, wo die Figuren allesamt mit Namen und Funktion gelistet sind.

Dies ist vor allem hilfreich wenn man wie ich die Hörbuchversion kennt und somit vom Hören nicht unbedingt auf die Schreibweise schließen kann. Apropos: Johann von Bülow ist absolut der Richtige für dieses Hörbuch. Seine Stimme passt zur Stimmung und den Erzählstellen im Buch, zusätzlich gibt er den wichtigsten Personen eine eigene Stimme, was besonders bei Dialogen zwischen zweien von ihnen hilfreich ist.

Wer also einen leicht nachdenklich, british-eigenbrötlerischen Roman mit einer Prise Moral und Romantik sucht, ist hier gut aufgehoben.

Details zur Wertung: drei Sterne für den Roman, einen zusätzlich für Johann von Bülow.

Veröffentlicht am 19.05.2019

Eine musikalische, politische und intellektuelle Reise ins Paris der Nachkriegszeit

An den Ufern der Seine
0

Dieses über 500 Seiten starke Buch (darin inkludiert Einleitung und Anhang) braucht Durchhaltevermögen. Es ist wohl nur für sehr “parisophile” Leser zu empfehlen und solche, die sich stark für die damalige ...

Dieses über 500 Seiten starke Buch (darin inkludiert Einleitung und Anhang) braucht Durchhaltevermögen. Es ist wohl nur für sehr “parisophile” Leser zu empfehlen und solche, die sich stark für die damalige Zeit, also rund 1940-1950 und/oder für die Personen interessieren, die im Zentrum stehen. Zahlreiche Künstler, Philosophen, Schriftsteller, Autoren und viele ihrer (musikalischen) Wegbegleiter begegnen dem Leser im Verlauf dieses Romans.

“An den Ufern der Seine” ist kein Büchlein, das man eben schnell in wenigen Zügen durchlesen kann. Es ist nicht schwierig zu lesen, weil es schwierig geschrieben wäre, sondern weil so unheimlich viele Namen auf einen einprasseln und man mit der Zeit das Gefühl hat, jeder Dritte habe damals Jean geheißen. Zudem passiert mit den Personen und um die Personen herum so viel dass man auch das alles erst verdauen muss und immer wieder Pausen braucht.

Die sehr interessanten Nachweise und das praktische Namensregister zeugen davon, wie viel unglaublich akribische Recherche Agnès Poirier in “An den Ufern der Seine” reingesteckt haben muss. Nicht nur hat sie zahlreiche Briefe und Tagebuchaufzeichnungen der Protagonisten wie Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir oder Pablo Picasso gesichtet, sie scheint auch Dutzende Werke von und über die Genannten verschlungen zu haben.

Das wäre bei drei Hauptpersonen ja noch überschaubar, jedoch kommen rund 750 Namen im Register vor. 32 Buchseiten sind alleine nur für die sehr ausführlichen Anmerkungen/Quellenangaben reserviert.

Der Leser erfährt in diesem historisch also sehr ausführlich verankerten Roman nicht nur wann wer wen getroffen und wann wer welches Buch veröffentlicht hat (was relativ einfach nachzusehen ist heutzutage), sondern viele kleine Geschichten, Verstrickungen zwischen Namen, die man noch nie gehört hat oder wo man nie vermutet hätte, dass die sich gekannt oder getroffen hätten. Viele persönliche Gedanken und Tagebuchauszüge flicht die Autorin in aktuelle politische Vorgänge oder allgemein bekannte oder weniger bekannte Begebenheiten ein.

Hier auch nur ein paar Beispiele zu nennen, ist fast unmöglich und würde den Rahmen sprengen. Dank dieses Buches hat der Leser aber auch die Möglichkeit, mit den berühmten Namen zu wohnen, durch die französische Hauptstadt zu streifen und auch ein wenig hinter die Fassade zu blicken und zu erfühlen, wie diese “Popstars” des Paris von damals so gedacht und gelebt - und auch gearbeitet haben.

Ein wahrhaft ereignisreiches Jahrzehnt, das auch heute noch zum Nachdenken anregt. Zusätzlich bekommt man ungeheuer viele Buchtipps. Einerseits sind da die immer wieder erwähnten Werke, an denen die Autoren arbeiteten, Bücher, Stücke, Essays und vieles mehr. Andererseits kommen dann noch die Bücher aus den Quellenangaben hinzu. Genug Lesestoff für das nächste Jahrzehnt also.

Veröffentlicht am 19.04.2019

(Leider) realitätsnaher Thriller mit mutigem Ende

Der Patriot
1

Sehr flott durchgelesen habe ich diesen Schweden-Thriller. Auch wenn es zwischendurch und auch zur genaueren Einführung der Hauptpersonen kurze Stücke mit mehr “Länge” gibt, erhält sich die Geschichte ...

Sehr flott durchgelesen habe ich diesen Schweden-Thriller. Auch wenn es zwischendurch und auch zur genaueren Einführung der Hauptpersonen kurze Stücke mit mehr “Länge” gibt, erhält sich die Geschichte durch den häufigen Schauplatzwechsel doch eine durchgehende Dynamik.

Stockholms Journalisten geraten ins Visier von Rechtsradikalen, die sie für die Offenheit des Landes gegenüber Flüchtlingen machen. Das Thema ist brandaktuell (irgendwie schon seit Jahren und leider immer noch) und gut - teilweise beklemmend - umgesetzt. Eine komplett atemlose Spannung kann das Buch nicht halten, aber das ist vielleicht auch gut so. Man kann es mal weglegen ohne Albträume zu haben (als geübter Thrillerleser), findet aber immer sehr schnell wieder hinein und liest wenn möglich gerne ein paar Dutzend Seiten am Stück.

Der Erzählstil ist unaufgeregt und in manchen Details “typisch schwedisch” (oder es liegt an der Übersetzung). Die “Denke” der Rechten bekommt viel Platz und soll wohl den Lauf der Geschichte, die Taten irgendwie erklären, näherbringen. Dennoch kann man als vernunftbegabter Mensch die Risse in deren Argumentation gut erkennen.

Der Thriller ist aktuell, stellenweise packend und leider relativ realistisch, auch wenn der Faktor Glück hin und wieder mitspielt. Das Ende kann dann nochmal mit einem Knalleffekt aufwarten, sehr überraschend und auch berührend. Mutig.