Einen guten Thriller macht in meinen Augen aus, dass man viel von der Gedankenwelt der Protagonisten erfährt. Aber es ist auch wichtig, dass der Autor Bilder entstehen lässt, die einem Gänsehaut bereiten. Dieser Buch verbindet beides miteinander und zeigt: nicht nur das geschriebene Wort verursacht Kopfkino. Mitunter sind sogar die Dinge grausamer, die man nur zwischen den Zeilen lesen kann, oder sich selbst aus Andeutungen zusammenbastelt.
Die Hassliebe zwischen den Brüdern Reb und Michael Morrow steht hier im Mittelpunkt der Geschichte. Hört sich erst einmal nicht so spektakulär an, denn für die Grausamkeiten ist eine Figur zuständig, die sich meist am Rande herumdrückt und dennoch immer präsent ist: Momma.
„Das Haus wirkte in der Dunkelheit wie verflucht. Blasses Mondlicht spiegelte sich in den vorderen Fenstern. Der kalte weiße Lichtschimmer verlieh den verwitterten Dachschindeln einen fast schillernden Silberton.“ (Zitat S. 85)
Zurückgezogen leben die Morrows in einem abgelegenen Farmhaus. Michael stellt sich immer öfter die Frage, ob er hier sein Leben lang bleiben will und ihn die Morrows gehen lassen würden. Allen voran Reb, sein großer Bruder, vor dem alle Angst haben. Im Gegensatz zu Michael ist dieser schroff, brutal und herzlos. Liebe hat er nur für eine Person empfunden: für seine Schwester Lauralynn.
Als Michael dann Alice kennen lernt und sich in sie verliebt, möchte Reb ihn unterstützen, Alice' Herz zu gewinnen. Michael hofft nun auf die Beziehung zu seinem Bruder, die er sich von Anfang an gewünscht hat.
„Manche Dinge ergeben erst rückblickend einen Sinn. […] Du weißt nicht, was du dir ansiehst, bis du weißt, was als nächstes passiert. Dann musst du wieder an den Anfang gehen, um die Hinweise zu entdecken.“ (Zitat S. 142)
Die Entwicklung der Geschichte hat mich echt umgehauen. Nach und nach haben sich die Hinweise zwar zu einem Bild zusammengesetzt, aber so richtig gerechnet habe ich damit bis zum Ende nicht. Konkreter möchte ich nicht werden – das würde zu viel verraten. Ich habe auf einen Irrtum gehofft, auf einen Fehler in den Nachforschungen. Aber vergebens. Und doch hat es genauso gepasst, wie es war und wie es endet.
Obwohl mir vor Entsetzen manches Mal die Luft wegblieb, wollte ich unbedingt weiterlesen. Das war schon fast zwanghaft, weil ich ohnehin ständig an die beiden Brüder denken musste. An sich ist die Geschichte unterschwellig ruhig, doch es brodelt so viel unter der Oberfläche. Die Autorin hat einen unaufgeregten Schreibstil, der im Kontrast zur Handlung steht. Man hetzt nicht durch die Handlung, sondern wird mit ruhigen Worten durch die Grausamkeiten geführt. Das passt perfekt zu der beklemmenden und düsteren Atmosphäre, die das Haus und seine Bewohner umgibt. Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich an einige Passagen denke.
„Momma bekam, was Momma haben wollte.“ (Zitat S. 225)
Persönlich hätte ich es spannend gefunden, wenn man etwas mehr über Momma und Wade, und insbesondere über ihre Beziehung zueinander, erfahren hätte. Dennoch ist es durchaus konsequent, dass der Leser nur das weiß, was auch Michael weiß, weil er den Großteil der Geschichte erzählt. Ein paar Andeutungen lassen jedoch ein relativ gutes Bild davon entstehen, was Momma widerfahren ist.
Persönliches Fazit: Hohe Spannung bis zum letzten Wort und ein perfekt ausgearbeitetes Psychogramm – ein Tipp nicht nur für Fans des Genres, sondern für jeden, der gern in die tiefen Abgründe der menschlichen Seele abtaucht!
©Recensio Online, 2019