Wie es sich lebt, wenn die Seele getötet wurde
Das wirkliche LebenSeit einigen Monaten scheint es, als würden mich Bücher über mißbrauchte Kinder regelrecht von sich aus suchen. So auch der Debütroman von Adeline Dieudonné, "Das wirkliche Leben".
Es ist kein sexueller ...
Seit einigen Monaten scheint es, als würden mich Bücher über mißbrauchte Kinder regelrecht von sich aus suchen. So auch der Debütroman von Adeline Dieudonné, "Das wirkliche Leben".
Es ist kein sexueller Mißbrauch, der hier geschieht. Doch Mißbrauch ist so vielfältig wie das Leben selbst. In diesem Buch mißbraucht ein Ehemann und Vater seine Ehefrau und seine Kinder, damit er sich selbst gut fühlt und seine Gewaltbereitschaft sowie sein Frust ein Ventil haben.
"Bei uns zu Hause gab es vier Schlafzimmer. Meines. Das meines Bruders Gilles. Das meiner Eltern. Und das der Kadaver." So ist der Einstieg in diesen Roman. Die Protagonistin erzählt rückwirkend über das schwierige Familienleben in dem Haus ihrer Eltern in der Reihenhaussiedlung.
Ihren Vater beschreibt sie sehr anschaulich. Vor meinem inneren Auge entstand ein großer und massiger Mann, der sich als Alleinherrscher fühlte und seine Abende vorm TV-Gerät mit viel Alkohol verbrachte. Seine einzige Leidenschaft war die Jagd - vor allem das Großwild hat es ihm angetan. Das Trophäenzimmer welches die Kinder nicht betreten durften, in dem auch der Stoßzahn eines Elefanten lag, zeugte von seinen Erfolgen. Doch irgendwo in diesem Monster war auch eine zarte Seite. Manchmal legte er eine Schallplatte auf, hörte ein ganz bestimmtes Lied und heulte wie ein kleines Kind. Der Quäler hatte auch eine gequälte Seite. Leider erfahren wir bis zum Schluss nicht, was es mit diesem Lied auf sich hat. Seine Familie hielt er sich zu seiner Bequemlichkeit. Seine Frau, seine Kinder hatten ihm das Leben angenehm zu gestalten. Jederzeit, auch wenn er nicht anwesend war, stand er drohend im Hintergrund seiner Frau und den Kindern. Die Mutter wird Amöbe genannt. Jemand der nie richtig anwesend war, jedoch immer bereit, die Gewalt ihres Ehemannes zu ertragen, wenn er seine Wut ausleben wollte. Und das kommt recht oft vor, zeigte sich schon Tage im voraus. Wie ein Schatten ihrer selbst geht sie durch den Alltag. Nur ihre Ziegen im Garten hauchen ihr Leben ein. Dort fühlt sie sich, ist lebendig.
Die beiden Kinder stehen wie ein geparktes Auto zwischen allem. Sie sind da, spielen im Leben der Erwachsenen jedoch eine untergeordnete Rolle. Sie durften mal gerade eben den Raum ausfüllen, der noch übrig blieb.
Ein Unglück, das beide Kinder ansehen und durchleben mussten, brachte die Veränderung. Da die Eltern unfähig waren ihren Kindern Trost zu spenden, ihnen zur Seite zu stehen, übernahm die Schwester die Rolle von Vater und Mutter gleichzeitig. Sie nahm ihr eigenes Leben, als auch das ihres kleinen Bruders in ihre Hände weil sie erkennen musste, dass nur sie etwas zum Guten verändern könnte. Es war auch eine Sache des eigenen Überlebens. Doch wenn die Eltern so versagen, sind die Möglichkeiten eines jungen Mädchens begrenzt. Bei dem Unglück schien nicht nur der nette Eisverkäufer gestorben zu sein, sondern auch die Seele ihres kleinen Bruders. Seine Seele starb bei Anblick der Explosion, wogegen die Seele der Mutter schon eine lange Zeit zuvor unter den ewigen Schlägen und verbalen Mißhandlungen ihres Ehemannes verkümmerte, bis nichts mehr davon übrig war. Beide scheinen gleichermaßen leblos zu funktionieren.
Es ist schon eine sehr seltsame Familie, die uns die Autorin da präsentiert. An seinem Sohn bekam der übermächtige Vater erst ab dem Moment Interesse, als ihn dieser zu seinen Schießübungen begleiten konnte. Nach einiger Zeit war der Sohn treffsicherer als der Vater. Und als Leser erwartet man nach etwa 3/4 des Buches auf den großen Knall in dieser eigenartigen Familie.
Für mich bleibt die Frage, ist diese Familie tatsächlich ein Einzelfall? Da ich mich in letzter Zeit - angeregt durch einen Tatsachenbericht - mit Kindes/mißhandlung/ mißbrauch befasse, komme ich immer mehr zur Überzeugung, dass es mehr solcher schwierigen Familienverhältnisse gibt, als ich mir je vorstellen konnte. Dieser Roman beschreibt lediglich eine Art von Mißbrauch, der jedoch in vielen Facetten daherkommen kann.
Weshalb ich dann doch ein 3/4 Sternchen abzog liegt daran, dass es für mich hie und da eine Länge gibt, Dinge zwar kurz angesprochen, aber von der Autorin nicht weiter verfolgt wurden.
Auf jeden Fall ist dies ein lesenswerter Roman.