Wirft tiefgründige moralische & philosophische Fragen auf, aber insgesamt schwächer als Band 1
Spoilerfreie Rezension!
Inhalt
Nach fünf Jahren wacht Lila aus einem künstlich eingeleiteten Koma auf und findet sich in einem luxuriösen Internat für Häftlinge wieder. Sie hat fünf Jahre ihres Lebens ...
Spoilerfreie Rezension!
Inhalt
Nach fünf Jahren wacht Lila aus einem künstlich eingeleiteten Koma auf und findet sich in einem luxuriösen Internat für Häftlinge wieder. Sie hat fünf Jahre ihres Lebens verloren, die sie niemals wiederbekommt. Obwohl es im Internat Essen und Zerstreuung im Überfluss gibt, sind Lila die Regeln dort zuwider und sie fühlt sich wie eine Gefangene. Gemeinsam mit einem Mithäftling plant sie ihre Flucht. Dann findet sie etwas Schreckliches heraus: Ihr ehemaliger Freund Samson Freitag wird mittlerweile als Gott verehrt und herrscht über die Menschheit. Für Lila steht fest, dass er aufgehalten werden muss – und zwar von ihr…
Übersicht
Einzelband oder Reihe: zweiter Teil einer Dilogie; momentan sind keine weiteren Teile geplant, aber die Autorin hat in der Leserunde zukünftige Fortsetzungen nicht ausgeschlossen
Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 400
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum, selten Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive (Lila)
Kapitellänge: sehr kurz bis mittel
Tiere im Buch: ♥ Es werden im Buch keine Tiere verletzt, gequält oder getötet. Im Gegenteil, in der Optimalwohlökonomie ist es sogar verboten, Fleisch zu essen.
Warum dieses Buch?
Da mich der erste Band, „Die Optimierer“, vor einigen Jahren absolut begeistern konnte, war für mich die Fortsetzung natürlich ein Must-read, an dem kein Weg vorbeiführte!
Meine Meinung
Einstieg (♥)
Der Einstieg ist mir wieder schnell und gut gelungen, was zu einem großen Teil sicher am angenehmen, mir schon bekannten Schreibstil und an der Hauptfigur, die wir im ersten Band bereits kurz kennenlernen durften, lag. Ich habe das Internat auf den ersten Seiten gerne gemeinsam mit Lila erforscht und über die Erfindungen in der Zukunft gestaunt.
Schreibstil (♥)
Mit ihrem unglaublich angenehmen, flüssigen Schreibstil konnte mich Theresa Hannig wieder absolut überzeugen. Sie schreibt so anschaulich, prägnant und auf den Punkt, dass man nur so durch die Seiten fliegt und man trotzdem alles genau vor sich sehen kann. Dabei geht sie jedoch auch niemals zu sehr ins Detail. Gefühle werden eindrucksvoll und greifbar geschildert, so dass sie intensiv bei den LeserInnen ankommen. Viele glaubwürdige Dialoge lockern die Geschichte auf und sorgen für Lebendigkeit. Auch mit gelungenen Vergleichen und Metaphern kann die Autorin in diesem Band wieder punkten.
„Die zuckenden Schatten der Lampen ließen die Bäume lebendig erscheinen, als hielten sie nur still, solange sie beobachtet wurden, um sich im nächsten Moment auf die ungebetenen Gäste zu stürzen.“ Seite 116
Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)
„‘Es wäre nicht schlimm,‘ sagte er, ‚die Maschinen wie Maschinen zu behandeln, wenn sie nicht leiden würden wie Menschen.‘“ Seite 323
Leider schwächelt bei dieser Fortsetzung der Plot. Die Geschichte braucht lange, bis sie ins Rollen kommt und plätschert meiner Meinung nach über weite Strecken träge dahin, ohne dass etwas Nennenswertes passiert. Vieles war mir zu lang gezogen, die Geschichte scheint sich manchmal im Kreis zu drehen und nicht so recht vom Fleck zu kommen. Hier hätte ich mir gewünscht, dass das Tempo angezogen und manche Stellen gekürzt worden wären. Zusätzlich habe ich mir erhofft, dass die Unvollkommenen eine größere Rolle im Buch einnehmen, als sie es schlussendlich taten. Da meine Erwartungen sehr hoch waren, weil mich „Die Optimierer“ absolut überrascht und begeistert hat, hat mich dieser Band leider insgesamt enttäuscht. Meiner Meinung nach ist er definitiv schwächer als der erste Roman, was sehr schade ist. Wer den ersten Band noch nicht gelesen hat, dem würde ich diesen übrigens wärmstens ans Herz legen – den muss man – im Gegensatz zur Fortsetzung – auf jeden Fall gelesen haben.
Überhaupt nicht überzeugen konnten mich leider dieses Mal manche Entwicklungen im Mittelteil und vor allem das Ende. Es war zwar wieder überraschend (wie in Band 1), aber leider auf keine Weise, die mir gefallen hat. Der Schluss war mir viel zu offen, zu viele Fragen blieben unbeantwortet. Am meisten gestört hat mich jedoch, dass es sehr konstruiert, abgedreht und unglaubwürdig wirkte. Manche Figuren verhielten sich meiner Meinung nach unerwartet und unpassend – so als hätte ich 100 Seiten übersprungen und eine ganz entscheidende Charakterentwicklung überlesen.
Dennoch gab es natürlich auch wieder Aspekte, die mir sehr gut gefallen haben. Zum einen gelingt es Theresa Hannig wieder hervorragend, uns in eine faszinierende Welt in der Zukunft zu entführen: Roboter sind inzwischen von Menschen nicht mehr zu unterscheiden, selbstfahrende Autos bringen die Menschen sicher von A nach B. Gefühle lassen sich mithilfe von Emochips manuell einstellen, wodurch psychische Krankheiten wie Depressionen endlich „geheilt“ werden können. Immer wieder stellt man sich unweigerlich die Frage, ob es sich bei der „Optimalwohlökonomie“ um eine Dystopie oder eine Utopie handelt, da sie doch beides – wunderbare Sonnenseiten und erschreckende Schattenseiten – verbindet. Zahlreiche hochinteressante Details wollen entdeckt werden, kleine Anspielungen und „Easter Eggs“ versüßen den LeserInnen die Lektüre.
Bei der Behandlung ihrer Kernthemen geht die Autorin wieder in die Tiefe. Die größte Stärke des Buches sind auch dieses Mal wieder die spannenden philosophischen und moralischen Fragen, die bei der Lektüre aufgeworfen werden und die einen zum Nachdenken und Grübeln bringen. Was macht uns Menschen eigentlich menschlich? Sollen Roboter, die ein Bewusstsein entwickeln, Menschenrechte erhalten? Sind simulierte Emotionen „unechter“ als unsere natürlichen, auch wenn sie sich ebenso intensiv anfühlen?
Protagonistin (+/-)
Lila haben wir schon in Band 1 kennengelernt; auch in diesem Buch war sie mir wieder sympathisch. Sie ist eine starke, intelligente Frau, die für ihre Ideale kämpft. Ich fand sie gut ausgearbeitet, ihr Verhalten (meist) glaubwürdig und konnte ihre Gefühle gut nachvollziehen. Trotzdem war da zwischen mir und ihr ständig eine seltsame Distanz, die ich das ganze Buch über nicht überbrücken konnte. Deshalb fiel es mir auch schwer, mit ganzen Herzen mit ihr mitzufühlen und mitzufiebern.
Figuren (+/-)
„‘Einsamkeit ist wie eine Krankheit. Nur umgekehrt. […] Wer einsam ist, steckt andere an, indem er sich von ihnen fernhält.‘“ Seite 322
Auch viele der anderen Figuren blieben mir fremd (Anna und der Homunculus sind hier sicher eine Ausnahme, die beiden sind toll!), auch wenn sie an sich liebevoll gezeichnet sind. Mir fehlte eine bestimmte Wärme bei ihnen, sie wirkten seltsam unterkühlt. Besonders mit Eoin konnte ich mich überhaupt nicht anfreunden. Während er mir am Beginn noch latent unsympathisch war, konnte ich ihn am Ende des Buches nicht mehr ausstehen, weil er oft so unberechenbar und egoistisch ist und weil man bei ihm nie weiß, woran man ist.
Spannung & Atmosphäre (-)
Dieses Mal fehlten mir leider über weite Strecken diese kafkaeske Grundstimmung und die subtile Spannung, die „Die Optimierer“ durchzogen hat. Der Spannungsbogen wird zwar immer wieder in einzelnen Szenen / Abschnitten aufgebaut, bricht aber nach einigen Seiten stets wieder ein, was sehr schade ist. Aus diesem Grunde (und im Vergleich zum ersten Teil) fühlte sich das Buch deshalb insgesamt etwas langatmig an. Ich habe das Buch zwar gerne gelesen, aber ich konnte es auch immer wieder mal tagelang beiseitelegen, weil es keinen richtigen Sog auf mich ausgeübt hat. Leider!
Feministischer Blickwinkel (♥)
Hier gibt es nichts zu kritisieren. Im Gegenteil, Lila ist eine starke Frau und traditionelle Rollenbilder werden immer wieder gebrochen, zum Beispiel, wenn Eoin kocht und Lila sich bekochen lässt. Zudem erinnert uns die Autorin im Buch, dass das Wort "Klassiker" kein Synonym für "Literatur, die von Männern geschaffen wurde" ist. Das kann man schließlich schnell vergessen, denn: Frauen werden bei den Kanonbildung ja leider immer noch sehr gerne übersehen und außen vor gelassen. Das ist schade, weil uns auf diese Weise so viel entgeht!
Mein Fazit
„Die Unvollkommenen“ ist eine Fortsetzung mit Stärken und Schwächen, die insgesamt aber deutlich schwächer ist als der erste Band und mich deshalb leider etwas enttäuscht hat. Die Autorin punktet zwar mit ihrem unglaublich angenehmen, prägnanten und anschaulichen Schreibstil, durch den sich das Buch schnell lesen lässt, konnte mich jedoch mit ihrer Hauptfigur leider nicht erreichen. Obwohl Lila sympathisch und gut ausgearbeitet ist, war da eine gewisse Distanz zwischen ihr und mir, die ich bis zum Ende des Buches nicht überbrücken konnte. Die Nebenfiguren wirkten teilweise (nicht alle!) ebenfalls seltsam unterkühlt, weswegen ich nicht richtig mit ihnen mitfühlen und mitfiebern konnte. Das Buch wirft zwar hochinteressante moralische und philosophische Fragen auf, die einen zum Nachdenken bringen, enttäuscht aber leider mit einem zu offenen, abgedrehten und unglaubwürdigen Ende und einem Plot, der dahinplätschert und nicht richtig in Schwung kommt. Die Geschichte wirkte auf mich leider oft zu lang gezogen, die subtile Spannung und kafkaeske, düstere Stimmung des Vorgängers fehlten mir. Kurz: „Die Unvollkommenen“ ist eine faszinierende, tiefgründige, aber auch lang gezogene Dystopie mit Schwächen, die man (im Gegensatz zum brillanten ersten Teil!) nicht unbedingt gelesen haben muss.
Sollte ein weiterer Band der Reihe erscheinen, werde ich diesem sicher noch eine Chance geben – dass der aktuelle Roman nicht so richtig meinen Geschmack getroffen hat, finde ich nicht schlimm. Ich hoffe darauf, dass mir die Fortsetzung wieder besser gefällt!
Bewertung
Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 3 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 3 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Spannung & Atmosphäre: 2 Sterne
Ende / Auflösung: 1 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3 Sterne
Feministischer Blickwinkel: +
Insgesamt:
❀❀❀ Lilien
Dieses Buch bekommt von mir insgesamt drei etwas enttäuschte Lilien!