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Rico

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Veröffentlicht am 15.09.2016

Tess

Ich bin Tess (Buchvorlage zur Netflix-Serie Kiss Me First)
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Meiner persönlichen Meinung nach wollte Lottie Moggach mit „Ich bin Tess“ keinen Internet Roman schreiben. Mir scheint das Buch ist aus der Hauptfigur heraus entstanden und diese junge Frau setzt in ihrer ...

Meiner persönlichen Meinung nach wollte Lottie Moggach mit „Ich bin Tess“ keinen Internet Roman schreiben. Mir scheint das Buch ist aus der Hauptfigur heraus entstanden und diese junge Frau setzt in ihrer Schrägheit und tragischen Komik Maßstäbe. Denn mit anderen zu kommunizieren findet für Leila hauptsächlich vor dem Computer statt, ansonsten meidet sie Menschen. Leila versteht alles wörtlich, ist Empathie befreit, kennt keine Konventionen, verhält sich bisweilen unhöflich und wirkt ruppig im Umgang. Ihre Direktheit paart sich mit der Naivität einer emotional Unreifen, die im starken Kontrast zu ihrer Intelligenz steht.

Leila verdient ihr Geld mit ihrer Detailversessenheit, indem sie Softwarefehler findet und sagt was sie denkt, auch in den unpassendsten Situationen. Schließlich kennt sie nur schwarz und weiß. Ganz oder gar nicht. Was sich in endlosen World of Warcraft Spielen widerspiegelt. Das Alleinsein macht Leila wenig aus, ihre Scheuklappenmentalität ist denkwürdig. Zudem ernährt sie sich miserabel, ist übergewichtig und Bekleidungsfragen hält sie für deutlich überbewertet. Keine Protagonistin von der Stange, also. Ihre Verkopftheit, die soziale Interaktion führt manchmal zu peinlichen Situationen. Oft trifft sie irrationale Entscheidungen aufgrund zwischenmenschlicher Missverständnisse. Dabei hat sie einen so klaren Verstand, der auf Logik und Sachbezogenheit aufbaut.

Gerne möchte Leila ihr rationale Seite und ihr Wissen mit Gleichgesinnten teilen und so sucht sie sich nach dem dahinscheiden der Mutter ein Internetforum auf, dessen User sich philosophischer Fragen verschrieben haben. Hier findet Leila zum ersten Mal in ihrer Außenwelt Anerkennung. Sie tritt sogar mit dem ominösen Gründer der Gruppe in direkten Kontakt. Von Angesicht zu Angesicht stellt ihr Adrian die seltsame Frage, ob sie bereit wäre einer sterbewilligen Frau ein verlängertes Leben im Internet zu schenken, damit Freunde und Verwandte von ihrem Ableben unbehelligt bleiben. Wozu Ihnen Kummer machen?

Geschmeichelt von Adrians warmen Worten stimmt Leila dem Ansinnen zu. Sofort beginnt die Tu- und Denkmaschine mit der Arbeit. Ohne Tess zu kennen, forscht sie deren soziales Umfeld aus. Tess ist in vielem das genaue Gegenteil von Leila. Schön, beliebt und erfolgreich. Die Männer lieben Tess. Doch kapitulieren sie vor der bipolaren Störung, die Tess beseelt. Sie will unbedingt sterben. Leila nennt den Todeszeitpunkt ganz in ihrer rationale Denktradition: „Das Auschecken“ und ein Spiel der Identitäten im Internet beginnt, in der Leila ihre seelische Leere mit dem Leben einer ihr im Grunde Fremden aufzufüllen beginnt: Tess, die bald darauf verschwindet. Aber ist Tess auch wirklich tot?

Mit „Ich bin Tess“ hat Lottie Moggach ein außergewöhnliches Romandebut vorgelegt. Dabei geht sie mit der „Ich“-Erzählerin Leila ein enorm hohes Risiko ein. Denn Leila ist anders, fast scheint es, sie befände sich mit ihrer beziehungskillenden Ader auf dem falschen Planeten. Leilas Eigenwilligkeit spiegelt sich natürlich auch im Erzählstil wieder, der auf Emotionen lange Zeit verzichtet und etwas sprunghaft daher kommt. Dafür ist er eben authentisch.

Hätte der Verlag gut daran getan, den Leser mit einem psychologischen Etikett für die Protagonistin vorzuwarnen? Vielleicht. So werden viele Uneingeweihte anfänglich durch den Roman stolpern, um die üblichen Fixpunkte eines Romans wiederzufinden. Also Gefühle und Spannung. Den zweiten Punkt liefert das Buch im Übermaß. Gefühle gibt es in der Schlussphase. Die Szene, als Leila versucht einen im Grunde unbekannten Mann mit rationalen Argumenten versucht an sich zu binden und eine peinliche Abfuhr erlebt hat mich wirklich berührt. Da habe ich die ganze Tragik Leilas begriffen, sie gefühlt, miterlebt und erlitten.

Insgesamt konnte mich das Buch überzeugen. Ich habe selten in Romanform eine so genaue Charakterstudie über Menschen, wie Leila gelesen. Ihre Entwicklung, dieser Sog, den die Internetaktivitäten auf den weiblichen Computer Nerd Leila hat, das immer stärkere Vergessen des eigenen, schwach ausgeprägten „Ich‘s“ und das bereitwillige Auffüllen der eigenen Leere mit dem Leben einer Lebensmüden kommt authentisch daher und ist hervorragend geschrieben.

„Ich bin Tess“ ist dabei viel weniger ein Internet Roman, als ein psychologisches Abenteuer, dass so nur durch das Internet stattfinden kann. Hier wird manipuliert, betrogen und gelogen. Die eigene Identität mutiert im virtuellen Raum zur Knetmasse oder einem Rettungsring in der Beziehungslosigkeit. Ganz nach Belieben. So ergeht oder gestaltet es auch Leila, die von sich und ihrer tiefen Entwicklungsstörung weniger weiß, wie von dem Ausgehverhalten und dem Männergeschmack einer wildfremden Frau.

Ich habe dem Roman im Grunde wenig vorzuwerfen. Das Leben der Hauptfigur hat mich einfach gepackt. Allerdings wird durch die gewählte „Ich“-Erzählperspektive Potenzial bei dem meiner Meinung nach nicht minder interessanten Tess und Adrian verschenkt. Lottie Moggach hat es anders entschieden und mir einen sehr unterhaltsamen Roman geschenkt.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Kreuzfahrt

Kreuzfahrt
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Mireille Zindels Roman „Kreuzfahrt“ beginnt am Meer, wo alle guten Geschichten anfangen. Die vier menschlichen Inseln -Meret, Dres, Jan und Romy treffen an der italienischen Küste aufeinander. Die „Ich“ ...

Mireille Zindels Roman „Kreuzfahrt“ beginnt am Meer, wo alle guten Geschichten anfangen. Die vier menschlichen Inseln -Meret, Dres, Jan und Romy treffen an der italienischen Küste aufeinander. Die „Ich“ Erzählerin Meret ist verheiratet mit dem schönen, aber etwas mundfaulen Dres. Die Esoterikerin Romy ist per Trauring mit Jan verbandelt. Es ist klar, was in diesem Buch einfach passieren muss. Meret nähert sich, dem beruflich erfolgreichen Jan an. Das Buch richtet sich an Jan, was das Buch manchmal etwas „Du“ lastig macht. Aber das macht Mireille Zindel locker durch ihren Schreibstil und eine interessante Frauenfigur wett, nämlich Meret.

Die Mutter zweier Kinder ist etwas spröde gezeichnet, fast glaubt man, sie nähme mein Erzählen eine gewisse Distanz zu sich selbst ein. Emotionen, gar echte Leidenschaft sind ihr prinzipiell fremd, die Pragmatikerin schätzt die Zuverlässigkeit ihres Gatten, die vielen zusammen verbrachten Jahre schweißen sie aneinander. Das andere Pärchen zieht bald zu ihnen ins Haus. Romy, von Beruf Alles-abrecherin und von Berufung „Medium“ treibt Marathonläufer Jan mit der ihr eigenen trantütigen Unabsichtlichkeit in Merets Arme. Oder ist das gar Absicht? Romy setzt Maßstäbe in ihrer Unberechenbarkeit und Schwäche. Und was geschieht zwischen Jan und Romy? Das Unvermeidliche, das von einem Unglück abgelöst wird. Das Besondere an „Kreuzfahrt“ ist die unspektakuläre, fast leichtfüßige Erzählweise und das üppige Ausloten ehelicher Untiefen. Das moderne Sittengemälde gelangweilter Großstadtbürger kommt dabei ungeheuer authentisch rüber. Bisweilen liest sich der Roman allerdings auch einfach nur nett und gefällig, zu harmlos im Aufbau und zu Nichtssagend im Abgang. Aber immer hart an der Realität von Wohlstandsbürgern, die zum Fremdgehen noch nach Paris fahren müssen. Im Großen und Ganzen hat mir „Kreuzfahrt“ gut gefallen. Sicher ist das Buch eher auf Frauen zugeschnitten. Es wird sicherlich viele Leserinnen finden.

Veröffentlicht am 16.02.2017

Traumland

Das geträumte Land
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Jende Jonga lebt als als illegaler Einwanderer in New York. Obwohl er einen Asylantrag im Land der begrenzten Möglichkeiten gestellt hat, würde sich Jende sicher nie als Flüchtling betrachten. Denn Kamerun ...

Jende Jonga lebt als als illegaler Einwanderer in New York. Obwohl er einen Asylantrag im Land der begrenzten Möglichkeiten gestellt hat, würde sich Jende sicher nie als Flüchtling betrachten. Denn Kamerun hat es nie besonders schlecht mit ihm gemeint und Jende mag sich auch nicht in der Opferrolle sehen. Amerika ist ein magischer Kontinent, der Zukunft und Glück verheißt. Das findet auch seine Frau Neni. Gemeinsam wollen die beiden mit ihrem Sohn ihre Träume verwirklichen und da kommt die Stelle als Fahrer für Jende gerade recht. Sein Vorgesetzter Clark Edwards arbeitet für die Lehmann Brothers, wir befinden und kurz vor dem Börsencrash von 2008 und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Nach einer gewissen Zeit beginnt auch Neni für die sehr wohlhabende Edwards Familie zu arbeiten und wird bald die rechte Hand der etwas labilen Ehefrau Cindy.

Zu Beginn hatte ich etwas Anlaufschwierigkeiten mit dem Romananfang. Zu schablonenhaft schienen mir das Einwanderpaar in seinem Gut und Nett sein gezeichnet. Von neurotischen Himmelsstürmern in Brot und Arbeit gehalten, wie ein Sklavenpaar in schlechten alten Zeiten. Der brave Jende Jonga und die talentierte zukünftige Apothekerin Neni auf dem Weg ins Glück über den Umweg der stets unglücklichen Oberschicht Mischpoke inclusive rebellischen und sinnsuchenden Jungspund auf dem Weg zum meditierenden Späthippie. Aber diese Geschichte bekommt eine Wendung mit der ich nun überhaupt nicht gerechnet habe und das gibt dem Buch schon eine besondere Note. Dafür und nicht nur dafür gehört der Autorin mein Respekt! Imbolo Mbue vefügt über eine gefällige und unterhaltsame Schreibe und sie hat die Fähigkeit den Alltag von Einwanderen gekonnt darzustellen. Schwächen sehe ich vor allem darin bisweilen die Handlungsweisen ihrer Protagonisten nicht richtig zu untermauern. Ich persönlich konnte auch keine emotionale Bindung zu Jende oder Neni aufbauen. Aber das soll kein Urteil sein und wird sicherlich bei vielen anderen Menschen ganz anders sein, könnte ich mir zumindest gut vorstellen. Ein Buch das ich gerne gelesen habe!

Veröffentlicht am 14.01.2017

komisch und tragisch

Sweetgirl
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„Sweetgirl“von Travis Mulhauser erinnert mich ein bisschen an Lana del Rey Songs über den amerikanischen Traum, den White Trash und das abgehängt sein in unendlich großen Landschaften, die von Waffenschwingenden ...

„Sweetgirl“von Travis Mulhauser erinnert mich ein bisschen an Lana del Rey Songs über den amerikanischen Traum, den White Trash und das abgehängt sein in unendlich großen Landschaften, die von Waffenschwingenden Lonesome Wolf Kauzen und drogensüchtigen Wracks nur so wimmelt. Die sechzehnjährige Percy rettet ein halb erfrorenes Baby aus dem Haus eines Drogendealers. Keine gute Idee, wie sich herausstellt. Denn mit Shelton ist nicht gut spaßen. Der durchgeknallte Kerl macht sich auf das Kind zurückzubekommen, möglichst bevor die Mutter der Kleinen wieder halbwegs runterkommt von dem Zeug, dass er ihr vertickt hat. Eine abgedrehte Story. Shelton ist die geborene Null und zu allem fähig. Percy dagegen ist in der Hauptsache einfach nur gut, was in all dieser hoffnungslosen Michigan-Tristesse durchaus wohltuend und auch glaubhaft ist. Diese junge Frau ist geradlinig und gerechtigkeitsliebend. Ihre Mutter ist selbst drogensüchtig und mit dem entsprechend schwachen Charakter geschlagen. Percy ist auf der Flucht vor Shelton und auf der Suche nach sich selbst, ohne davon zu ahnen. Ihre Schutzengel heißen Wolfdog und Portis, der aus jeder Pore nach Whiskey riecht und mit seiner Knarre verwachsen scheint.

Travis Mulhauser nutzt den ganz typischen amerikanischen Schreibstil mit dem ebenfalls typischen Zungenschlag, der einfach nie Langeweile aufkommen lässt. Die Männer sind hart im Nehmen und noch härter im Austeilen. Die Frauen sind verlorene Seelen, bis auf Percy, die einfach nicht aufgeben kann und darf. Bei Sheltons Verfolgungsjagd musste ich manchmal an T.C. Boyle ähnliche Figurenzeichnung und Geschehnisse denken. Allerdings zielt„Sweetgirl“ sicherlich auf eine etwas jüngere Zielgruppe. Percy und das gerettete Baby sind die Garanten für einen spannenden Roman, der für meinen Geschmack allerdings eine Spur mehr dramatische Ereignisse vertragen hätte. Ich hatte beim Lesen immer wieder das Gefühl, dass der Autor beim Schreiben immer schön den Mittelweg genommen und so sorgt bei mir das Buch nicht unbedingt für viel Nachhall. Ansonsten ein absolut lesenswerter Roman.

Veröffentlicht am 18.11.2016

ein hartes Schicksal

Die Spionin
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Mata Hari, welch ein Name, welch eine Geschichte, was heute selbstverständlich ist, die Selbstverwirklichung der Frau war vor dem 1. Weltkrieg nicht einmal ein frommer Wunsch, eher eine Schreckensvorstellung ...

Mata Hari, welch ein Name, welch eine Geschichte, was heute selbstverständlich ist, die Selbstverwirklichung der Frau war vor dem 1. Weltkrieg nicht einmal ein frommer Wunsch, eher eine Schreckensvorstellung für die Herrschenden. Ein faszinierendes Leben. Ein fürchterliches Lebensende, als vermeintliche Spionin vor dem Erschießungskommando. Paulo Coelho ist das Wagnis eingegangen, die Zeit zurückzudrehen und in die Haut der frivol justierten Mata Hari zu schlüpfen, die mit ihrem wirklichen Namen Margarethe Zelle hieß. Doch diese junge Holländerin entschließt sich nach einem Aufenthalt auf Java sich neu zu erfinden. Dabei pflastern Männer ihren Weg. Sie treten als Förderer, Stolpersteine, Vergewaltiger, Gönner, Besserwisser und Halunken auf den Plan. Der aufziehende 1. Weltkrieg markiert eine tragische Wende in ihrem Leben, das halbseidene Leben hat sie mit Picasso und vielen anderen Berühmtheiten ihrer Zeit zusammengebracht, doch nun sinkt Mata Haris Stern, ein Picasso darf noch in hohem Alter den jungen Frauen hinterhersteigen und mag immer noch begehrt gewesen sein. Für Mata Hari besteht als Frau diese Möglichkeit nicht, die fühlt sich alt und welk, ist aber die begnadete Lügnerin ist immer noch tatendurstig und begeht einen Fehler aus dem es kein Entkommen gibt.

Paulo Coelho beginnt das Buch mit dem tödlichen Ende, ein kluge Entscheidung, nicht der Tod der Mata Hari stellt eine Überraschung für den Leser dar, sondern ihr Werdegang. Vieles in dem Buch ist natürlich Spekulation, aber die Fakten basierten Geschehnisse liefern auch reichlich Information. Paulo Coelho zeigt mit einigem Rechercheaufwand die facettenreiche Mata Hari in ihrer ganzen Tragik und einem unglaublichen Gestaltungswillen. Hier nimmt ein weibliches Nichts sein Leben in die eigenen Hände und wird vielleicht gerade deshalb zum Opfer eitler Herrenmenschen, die sich zwar an Mata Hari ergötzen, aber sie gleichzeitig voller Verachtung in den Tod stürzen. Mir hat das Buch insgesamt gut gefallen. Der Autor versteht einfach auf unnachahmliche Weise zu erzählen und er baut auch immer die eine oder andere Weisheit ein, was ja auch nicht schaden kann. Das Buch hat allerdings auch seine Schwächen, einfach weil der Autor einen Hang zur Oberflächlichkeit hat.