„Nie aufgeben!“
„Hannah und ihre Brüder“ ist ein historischer Roman von Ronald H. Balson, übersetzt von Gabriele Weber-Jaric. Er erscheint am 17.05.2019 im Aufbau-Verlag und ist in sich abgeschlossen. Er ist aber gleichzeitig der Auftakt zu einer Buchreihe um den Privatdetektiv Liam Taggart und die Anwältin Catherine Lockhardt.
Ben Solomon ist Jude. Er hat den Nationalsozialismus überlebt, ebenso seine Frau Hannah, aber niemand ihrer Familienangehörigen. Schwer lastet die vergangene Zeit auf ihnen, denn nicht nur die Grausamkeit an sich und den Millionen anderen Juden durch die Nationalsozialisten mussten sie ertragen, sondern zusätzlich den Verrat ihrer Familien durch Bens besten Freund Otto, der einst wie ein Bruder für ihn war.
Als Ben im Jahr 2004 durch einen Zufall erkennt, dass sein alter Freund Otto einer der geachtetsten Männer Chicago ist und sich als Jude ausgibt, beschließt er, ihn öffentlich als SS-Offizier zu beschuldigen. Aber ist Ben tatsächlich im Recht? Oder spielt seine Erinnerung ihm einen Streich und es liegt eine Verwechslung vor?
Mithilfe des Privatdetektivs Liam Taggart und der Anwältin Catherine Lockhardt begibt Ben sich auf eine nervenzehrende Beweissuche in die Vergangenheit.
„Hannah und ihre Brüder“ ist ein bemerkenswerter historischer Roman zu einem recht häufig aufgegriffenen Thema. Ronald H. Balson vermittelt zum einen eine Sicht auf die Judenverfolgung in Polen, von der ich bisher noch nicht viel gelesen habe, zum anderen zeigt er, dass diese Verbrechen nicht verjähren und niemals vergessen werden dürfen. Mich schockiert es immer wieder zu hören, was damals passiert ist und die Frage „Wie kann so etwas bloß passieren?“ beschäftigte mich beim Lesen permanent.
Im Roman wird die Verfolgung der Juden in Polen geschickt in eine Spurensuche in der Gegenwart eingewebt. Ben Solomon ist sich sicher, dass Elliot Rosenzweig nicht der ist, als der er sich ausgibt. Er ist kein vertriebener und verfolgter Jude aus Polen, sondern ein ehemaliger SS-Offizier, der entscheidend zur Judenverfolgung beigetragen hat. Die Beweislage für diese Beschuldigung allerdings ist dürftig und eine Klage gegen ein hoch angesehenes Mitglied der Gesellschaft nicht unbedingt leicht. Trotzdem beschließen Liam Taggart und Catherine Lockhardt sich auf die Suche nach der Wahrheit zu begeben und Ben zu helfen. Gemeinsam arbeiten sie Bens Vergangenheit auf und erfahren so aus direkter Quelle, wie es war, zur Zeit des Nationalsozialismus als Jude zu leben. Ein qualvoller und unglaublich schrecklicher Bericht aus Bens Erinnerung legt dar, was für Gräueltaten die Juden ertragen mussten. Schritt für Schritt arbeiten sie auf, was Ben erlebt hat und weswegen er sich sicher ist, dass Elliot Rosenzweig in Wirklichkeit Otto ist.
Die Gegenwart wird dabei geschickt um die Vergangenheit herumgebaut. Die Vergangenheit ist als Erzählung von Ben dargestellt und erfolgt somit immer aus der Ich-Perspektive. Diese Perspektive in der Vergangenheit ermöglicht die Schilderung von Gefühlen und Gedanken, aus direkter Sicht des jungen Bens. Sie bringt sehr nahe, was ihm zugestoßen ist und was er erleiden musste.
Die Gegenwart hingegen wird mittels des personalen Erzählers beschrieben, die Perspektive wechselt klassisch zwischen den Figuren hin und her.
Durch die Trennung der Erzählperspektiven ist immer klar, in welcher Zeit der Leser sich befindet und ermöglicht eine einfachere Orientierung in der Geschichte.
Bens Bericht wird immer wieder durch den Sprung in die Gegenwart unterbrochen. Dies ermöglicht sowohl dem Leser, als auch der Anwältin eine Pause von den schrecklichen Ereignissen des Nationalsozialismus.
Ich lese viel und gerne diese Art der Romane. Der Zugang zur Geschichte ist in Form eines Romans einfacher, als in Form von Geschichtsbüchern oder Zeitungsartikeln. Der Bezug ist einfach leichter, die Vorstellung bildlicher. Ronald H. Balsons Roman ist aber etwas Besonderes, er weicht ab von einem klassischen historischen Roman und stellt nicht die Vergangenheit in den Vordergrund, sondern die Gegenwart. Die Judenverfolgung ist zwar Hauptthema des Buches, der Hauptkonflikt ist aber die Frage, ob Elliot Rosenzweig wirklich ein NS-Verbrecher ist, oder ob eine Verwechslung vorliegt. Dieser Frage wird effektiv nachgegangen, die Spannung bei den Ermittlungen kommt in keinem Fall zu kurz. Dieses wird unterstrichen durch die Aufteilung des Romans in drei Teile. Die Vergangenheit wird hauptsächlich im zweiten Buchdrittel beschrieben, während die Gegenwart überall ihren Platz findet.
Heimliche Hauptfigur des Buches ist für mich die sympathische Anwältin Catherine. Zu Beginn des Romans ist sie unsicher und zu stark durch ihre eigene Vergangenheit gehemmt. Nach und nach gewinnt sie aber ihr altes Selbstbewusstsein zurück und entwickelt sich wieder zu der fähigen und gewissenhaften Anwältin, die sie einmal war.
Gefallen hat mir außerdem, dass die Judenverfolgung nicht, wie häufig, in Deutschland beschrieben wurde, sondern die Hauptfiguren des Romans aus Polen stammten. Dieser Teil der Geschichte war für mich neu und bot somit einen weiteren Blickwinkel auf die Zeit von Adolf Hitler…
Der deutsche Buchtitel hingegen ist für mich nicht glücklich gewählt. Der Titel „Hannah und ihre Brüder“ stellt Bens Frau Hannah sehr in den Vordergrund. Letztlich hat Hannah aber nur eine Nebenrolle im Roman. Sie tritt in Bens Erzählung als seine Ehefrau auf und war die Liebe seines Lebens. Sie ist daher unzweifelhaft wichtig, aber nicht so zentral, dass sie für mich im Titel auftauchen müsste. Der Originaltitel „Once we were brothers“, passt für mich deutlich besser zur Handlung, da er einen Ausblick darauf gibt, dass Ben durch seinen besten Freund verraten wurde.
Mein Fazit: Dieser Roman hat mich begeistert, verstört, fasziniert und schockiert. Er hebt sich durch die Art der Erzählung von vergleichbarer Literatur ab und fasziniert durch den flüssigen Schreibstil und seine starken Charaktere. Ich vergebe 5 von 5 Sternen und empfehle ihn jedem Liebhaber von historischen Romanen.