Eigenständig lesbar, viele ereignisreiche Jahre beleuchtend, berührend
Das Mädchen aus AssamDer Klappentext lässt bereits erahnen, dass die Geschichte vom Meisterwerk „Stolz und Vorurteil“ inspiriert ist. Meine Befürchtung, es könne hiervon ein seichter, langweiliger Abklatsch sein, bleibt unbegründet.
Tatsächlich ...
Der Klappentext lässt bereits erahnen, dass die Geschichte vom Meisterwerk „Stolz und Vorurteil“ inspiriert ist. Meine Befürchtung, es könne hiervon ein seichter, langweiliger Abklatsch sein, bleibt unbegründet.
Tatsächlich schlägt die Handlung ohne zu große Zeitsprünge einen beachtlichen Bogen von 1904 bis 1919. Beleuchtet wird das farbenfrohe, weitläufige Indien und das graue Stadtleben Newcastles, mit Schwerpunkt auf England. Schnell offenbart sich für beide Welten, wie herausfordernd und von Armut und Ausgrenzung geprägt es zugehen kann und welche Lebensstile und Sorgen die bessere Gesellschaft prägen, wobei die Übergänge fließend verlaufen.
Besonders reizvoll finde ich die Ausführungen zur Freizeitgestaltung der armen Bevölkerung und zu den die Stellung haltenden Frauen während der kriegsbedingten Abwesenheit vieler Männer. Auch politische Strömungen (Wahlrecht, Emanzipation, Suffragetten, Journalismus) werden angerissen, was mir gefällt und einen Lerneffekt mit sich bringt. Begeistert dürften diejenigen sein, die sich für Teeanbau, -verarbeitung und -verkauf interessieren.
All das erfährt man beiläufig, während Familie, Beziehungen sowie Motive wie Stolz, Schuld, Selbstverwirklichung im Vordergrund stehen.
Alles ist aus der Perspektive der zur Frau heranwachsenden Clarrie wiedergegeben. Man könnte meinen, dass der Erzählstil einseitig und langweilig wirkt. Das ist aber nicht der Fall. Die Autorin hat diesen Charakter als liebenswürdig und als gute Beobachterin, mit wachem Verstand und gut nachvollziehbaren, tiefgründigen, zu Herzen gehenden Gedanken und Gefühlen ausgestattet. Über die Ziele der anderen Figuren kann auf diese Weise herrlich spekuliert werden. Ich gewinne den Eindruck, dass es sich so zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgespielt haben könnte. Die Handlung ist glaubhaft und gleichzeitig schwer vorhersehbar. Ich mag die Wendungen und Überraschungen.
Negativ aufgefallen sind sprachliche Ausdrücke, die auf mich melodramatisch wirken und wohl ein weibliches Publikum ansprechen sollen, z. B. das für einen Schlag aussetzende Herz. Gutmenschentum wurde mir streckenweise zu stark bedient. Solche Faktoren erschwerten mir punktuell das Mitfiebern.
Demgegenüber gibt es aber auch richtig schöne, allgemeingültige, zu Herzen gehende Zitate.
Bereichernd würde ein erklärendes Nachwort wirken. Vielleicht ergänzen das Autorin und Verlag irgendwann. Mich würde z. B. interessieren, ob Figuren historischen Vorbildern nachempfunden sind und wie sich die Teewirtschaft in dieser Epoche (vom fiktiven Beispiel losgelöst) entwickelte.
Das Werk bietet ein gelungenes, abgeschlossenes Ende. Alle Fragen werden zufriedenstellend beantwortet und dabei auch Nebenfiguren nicht vergessen. Die weitere Entwicklung bleibt der Fantasie überlassen. Nachfolgende Bände der Reihe (im Englischen bereits veröffentlicht) vereinen den Handlungsort Indien, stellen aber völlig neue Figuren und Gegenden in den Vordergrund.
Völlig ungezwungen möchte ich auch gern nachfolgende Bände kennenlernen.
Ich vergebe vier Sterne mit Tendenz zu fünf. Es lässt sich zum schlappen eBook-Preis von derzeit 2,49 € für viele Stunden tief in verschiedene Gesellschafts- und Familienformen des beginnenden 20. Jahrhunderts eintauchen. Meine Erwartungen wurden übertroffen. Ich fühle mich gut unterhalten und auch berührt und durfte einen Kenntniszuwachs mitnehmen.