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Veröffentlicht am 21.07.2019

Ein Mutmach-Buch

Wir von der anderen Seite
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Das in schwarz gehaltene, düster wirkende Cover mit dem stilisierten grün-blauen Eichhörnchen sollte auf gar keinen Fall vom Lesen des Buches abhalten, wozu ich fast schon versucht war. Es würde einem ...

Das in schwarz gehaltene, düster wirkende Cover mit dem stilisierten grün-blauen Eichhörnchen sollte auf gar keinen Fall vom Lesen des Buches abhalten, wozu ich fast schon versucht war. Es würde einem nämlich ein ganz, ganz wunderbarer Roman entgehen.
In ihn fließt ein Stück eigene Lebensgeschichte der als Drehbuchautorin („Keinohrhasen“, „Zweiohrküken“) bekannten Autorin Anika Decker. Ähnlich wie es ihr selbst ergangen ist, lässt sie ihre fiktive Berufskollegin, die 35jährige Rahel, ein Nierensteinproblem haben, das in der Folge zu einer Sepsis, multiplem Organversagen und künstlichem Koma führt. Rahel kämpft sich in einem langen Genesungsprozess zurück ins Leben. Als sei das noch nicht genug, sind krankheitsbedingt ihre gerade begonnene Karriere und ihre langjährige Beziehung zu ihrem Freund in Gefahr, dem das Zusammenhalten in den schlechten Tagen neben den guten schwer fällt. Hundertprozentige Unterstützung erhält sie auf ihrem schweren Weg stets von ihren Eltern und ihrem Bruder.
Dieses sehr berührende Thema um Krankheit und Tod ist mit sehr viel Humor und Situationskomik dargestellt, ohne dass jedoch auf Teufel komm raus Lacher erzeugt werden. Daher zieht es einen beim Lesen auch überhaupt nicht runter, mit derartigen Tabuthemen konfrontiert zu werden. Die etwas schräge Protagonistin muss man einfach ins Herz schließen, und so fiebert man mit jeder anstehenden weiteren Untersuchung und Behandlung mit und wünscht ihr positive Befunde. Ein interessanter Schachzug ist auch, dass Rahels Erinnerungsvermögen an die ihrer akuten Erkrankung vorausgehende Zeit und die damit verbundenen Umstände lange Zeit nicht vorhanden ist und ihre Familie sich darüber ausschweigt. Was für ein Geheimnis hier verborgen liegt, kommt erst allmählich zutage. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass auch dem Eichhörnchen vom Buchcover in der Geschichte eine bestimmte, passende Bedeutung zukommen wird.
Das Buch ist für mich ein absolutes Lese-Highligt.

Veröffentlicht am 18.07.2019

Überambitionierte Eltern

Überflieger
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Thematisch geht es um Kindererziehung. Doch auch für Leser ohne Kinder oder ohne Kinder im Schulalter ist dieses Buch höchst interessant und empfehlenswert.

Im Mittelpunkt steht die Akademikerfamilie ...

Thematisch geht es um Kindererziehung. Doch auch für Leser ohne Kinder oder ohne Kinder im Schulalter ist dieses Buch höchst interessant und empfehlenswert.

Im Mittelpunkt steht die Akademikerfamilie von Koppenstein. Mutter und Vater sind erfolgreich im Beruf und stolz auf ihren gut geratenen Nachwuchs. Die elfjährige Cordelia ist eine vermeintlich begabte Klavierspielerin, der fünfjährige Raffi seinen Altersgenossen geistig weit voraus, so dass er schon eingeschult wird. Genau damit beginnen die Schwierigkeiten. Raffi wird zum Lernverweigerer und nach Elternansicht liegt dies allein an der Lehrerin. Im ersten Jahr seiner Schullaufbahn experimentieren Claire und Niko nur mit ihm herum – Klassensprung, Wechsel zu einer privaten Schule, Fernhalten vom Unterricht. Schließlich gerät die Familie in die Fänge des Jugendamtes und erlebt einen schlimmen Alptraum.

Die Autorin stellt den Ehrgeiz heutiger Eltern, die ihre Kinder mit allen Mitteln fördern und fordern wollen und dabei sogar noch davon ausgehen, dass alles zum Kindeswohl ist, recht realistisch dar. Dabei kommt ihr sicherlich zugute, dass sie selbst Mutter ist und eigene Erfahrungen einflechten kann. Sie bedient sich eines sarkastischen, provokativen, durchaus humorigen Untertons, der darauf schließen lässt, was sie persönlich von solch überambitionierten Eltern hält. So nimmt es kein Wunder, dass bei den von Koppensteins alles den Bach runtergeht. Immerhin setzt bei den Eltern ein Lernprozess ein und sie denken darüber nach, ob sie ihre Kinder nicht möglicherweise verkannt und selbst evtl. nicht alles richtiggemacht haben. Das veranlasst auch den Leser zum Nachdenken und Lernen.

Ein gelungenes Debüt.

Veröffentlicht am 18.06.2019

Ein Leben gerät aus den Fugen

Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte
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Die Geschichte spielt in England abwechselnd auf zwei Zeitebenen – 1972 und in der Gegenwart.
Die elfjährigen Jungen Byron und James aus der upper class sind Schulfreunde. James ist etwas exzentrisch. ...

Die Geschichte spielt in England abwechselnd auf zwei Zeitebenen – 1972 und in der Gegenwart.
Die elfjährigen Jungen Byron und James aus der upper class sind Schulfreunde. James ist etwas exzentrisch. Doch Byron schaut zu ihm auf und hält ihn für den klügsten Jungen. Als James Byron erzählt, in der Zeitung gelesen zu haben, dass der Zeit zwei Sekunden hinzugefügt werden sollen, beunruhigt das Byron zutiefst. Ein Ereignis, für das nach Byrons Ansicht gerade diese beiden Sekunden verantwortlich sind, lässt sein bis dahin so perfektes Leben völlig aus den Fugen geraten. Dabei ist das Ereignis selbst gar nicht so katastrophal, sondern nur Byrons Wahrnehmung von ihm sowie wie er und James mit einem akribisch ausgearbeiteten Plan und seine Mutter damit umgehen. Das ist die eigentliche Crux dieser tragischen und ergreifenden Geschichte.
Der Mittfünfziger Jim ist ein früherer langjähriger Patient einer psychiatrischen Anstalt. Er ist besessen von täglichen Ritualen, ohne deren Einhaltung er sich nicht sicher fühlt. Trotz seiner Unbeholfenheit schließt er allmählich Freundschaft mit seinen Kollegen in dem Café, in dem er arbeitet.
Beide Geschichten verbinden sich gekonnt am Ende zu einer Einheit. Die Romanfiguren werden so dargestellt, dass man einfach nur Sympathie mit ihnen und Verständnis für sie haben muss: die sich so unzulänglich fühlende Mutter; Byrons Bedürfnis, seine geliebte Mutter zu schützen; Jims Versuche, normal zu sein. Psychische Erkrankungen wie Depressionen und Zwangsneurosen werden mit Humor dargestellt. Auch atmosphärisch gibt es Besonderheiten, die auf die beinahe schon prosaisch wirkende Erzählweise zurückgehen – der vergangene Sommer und der gegenwärtige Winter sind fast spürbar.
Ein Buch, das zu lesen ich nur empfehlen kann.

Veröffentlicht am 12.05.2019

Umbrüche in der Familie

Der Sommer meiner Mutter
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Vom ersten Satz an weiß der Leser, dass das Buch ein tragisches Ende hat – den Suizid der Mutter des 11jährigen Erzählers Tobias. Über die Gründe lassen sich im Lauf der Geschichte nur Vermutungen anstellen, ...

Vom ersten Satz an weiß der Leser, dass das Buch ein tragisches Ende hat – den Suizid der Mutter des 11jährigen Erzählers Tobias. Über die Gründe lassen sich im Lauf der Geschichte nur Vermutungen anstellen, die sich dann – nur so viel sei verraten - bestimmt als völlig daneben liegend erweisen werden. Bis dahin erhält man Einblick in das Leben der gutbürgerlichen, katholischen Kleinfamilie aus einem Kölner Vorort im Frühjahr/Sommer 1969. Scheinbar ist bei ihnen alles in Ordnung. Dass dem nicht so ist, tritt zu Tage, als sie neue Nachbarn bekommen, die so völlig anders sind – der Vater Philosophieprofessor mit politischem Interesse, seine Frau berufstätig, beide Kommunisten. Die Eltern freunden sich an ebenso wie Sohn und Tochter, die erste sexuelle Erfahrungen miteinander erleben. Und in der Nacht der Mondlandung der Amerikaner verändert sich für beide Familien alles …
Die Geschichte ist ruhig geschrieben. Wessen Kindheit in die 1960er Jahre fällt, der wird viele Details aus eben dieser Zeit wiedererkennen. Eine wichtige Rolle kommt der Emanzipation der Frau und ihrer sexuellen Selbstbestimmung zu. Weil der Autor studierter Astrophysiker ist, flicht er sehr verständlich die Umstände um die erste Mondlandung ein.
Dieses Buch sollte man nicht verpassen.

Veröffentlicht am 10.05.2019

Frau mit Doppelleben

All das zu verlieren
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In dem Roman geht es um das Doppelleben der schönen Adèle aus Paris. Einerseits führt sie ein bürgerliches Leben in ihrer Ehe mit einem Arzt und als berufstätige Mutter eines kleinen Sohnes. Andererseits ...

In dem Roman geht es um das Doppelleben der schönen Adèle aus Paris. Einerseits führt sie ein bürgerliches Leben in ihrer Ehe mit einem Arzt und als berufstätige Mutter eines kleinen Sohnes. Andererseits aber ist sie eine Nymphomanin und hat maßlosen Sex mit fremden Männern. Mit einer Affäre scheint sie dann zu weit zu gehen …
Die Thematik der Sexsucht ist für eine marokkanisch-stämmige Autorin ungewöhnlich, wird von ihr aber hervorragend umgesetzt. Ohne große Umschweife dringt sie in schier unvorstellbare Bereiche ein und bringt die dunklen Seiten ihrer Romanfigur hervor, ohne dass diese beim Leser an Sympathie einbüßt. Dabei bleibt offen, warum Adèle dermaßen sexsüchtig ist, obwohl die Autorin durchaus einige Erklärungsversuche einbringt: z.B. eine Reise nach Paris mit der Mutter in der Kindheit, wo die Mutter sie allein im Hotelzimmer ließ und sich mit einem Mann traf, oder die Kindheit in einem heruntergekommenen Zuhause, die sie selbst mehr vom Leben verlangen ließ. Dem Leser bleiben also genug Deutungsversuche, die sich dann auch auf das Ende der Geschichte erstrecken müssen.
Ein wirklich lesenswerter Roman.