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Veröffentlicht am 24.07.2019

Zeigt das, was eine Familie zusammenhält und was Heimat bedeutet - berührend und authentisch

Aber Töchter sind wir für immer
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Im Roman „Töchter sind wir für immer“ nahm Christiane Wünsche mich mit nach Büttgen, einer Ortschaft am Niederrhein, die zur Stadt Kaarst gehört. Weil ich nur etwas mehr als 30 km davon entfernt ebenfalls ...

Im Roman „Töchter sind wir für immer“ nahm Christiane Wünsche mich mit nach Büttgen, einer Ortschaft am Niederrhein, die zur Stadt Kaarst gehört. Weil ich nur etwas mehr als 30 km davon entfernt ebenfalls am Niederrhein wohne, fühlte ich mich hier gleich heimisch. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Familie Franzen mit ihren vier Töchtern, die im Bahnwärterhäuschen unmittelbar an den Schienen der S-Bahn zwischen Mönchengladbach und Düsseldorf lebt, etwas außerhalb des Dorfs. Die Apfelblüten und der Apfel, die das Cover des Buchs zieren, stehen als Symbol für den Apfelbaum im Garten der Familie. Hier findet Johanna, die älteste der Töchter, in jüngeren Jahren einen Zufluchtsort. Er ist aber auch Zeuge für eine Handlung, die viel zu lange unausgesprochen bleibt und verheimlicht wird.

Johanna, Heike und Britta kehren zum bevorstehenden 80. Geburtstag ihres Vaters nach Hause zurück. Zu dritt kommen sie selten im Elternhaus zusammen, was nicht nur daran liegt, dass Johanna in Berlin lebt, sondern auch weil sie grundverschieden sind. In der vorderen Klappe findet sich ein kleiner Stammbaum, in dem vier Töchter des Ehepaars Franzen aufgeführt sind. Dort steht hinter dem Namen der Tochter Hermine das Jahr ihrer Geburt sowie das ihres Todes. Damit war meine Neugier von Beginn an geweckt, denn ich wollte erfahren, warum sie mit 22 Jahren verstorben ist.

Christiane Wünsche lässt Britta in der heutigen Zeit von den aktuellen Planungen zu den Festivitäten rund um den Geburtstag ihres Vaters in der Ich-Form erzählen. Britta ist die mit großem Altersabstand zu den Schwestern jüngste der Töchter, inzwischen 28 Jahre alt und lebt als Reiseverkehrskauffrau in Düsseldorf. Unterschwellig ist von Beginn an ein Unbehagen in der Familie zu spüren. Nicht nur, dass Britta aufgrund ihres Alters viele angesprochene vergangene Erlebnisse in der Familiengeschichte nicht zu teilen vermag, sondern auch die Rivalitäten zwischen den Geschwistern aus der Kinder- und Jugendzeit sowie ihr Verhältnis zu den Eltern scheinen immer noch präsent.

Geschickt blendet die Autorin zwischen den Kapiteln, die in der Gegenwart spielen, auf die Vergangenheit der einzelnen Mitglieder der Familie, nicht nur bis zur Geburt der einzelnen Kinder, sondern auch bis zur Kindheit von Vater Hans und Mutter Christa. Der Rückblick reicht zurück bis in die 1930er Jahre. Christiane Wünsche nähert sich bedeutsamen Geschehnissen in der Familie von mehreren Seiten ohne darauf zu verharren. Dadurch konnte ich mir selbst eine Meinung dazu bilden, wer welchen Anteil hat an Verrat, Missgunst, Hass, Unrecht, Liebe und Freude, die wie in jeder Familie auch bei den Franzens anzutreffen sind. Das Geheimnis rund um die Krankheit und den Tod von Hermine öffnete sich für mich Schritt um Schritt. In der drittältesten Tochter der Franzens begegnete mir eine hochsensible Persönlichkeit, die über mehr wie fünf Sinne verfügt.

Desto tiefer ich in die Vergangenheit blicken konnte, desto mehr wurde mir deutlich, warum die jeweilige Figur sich entsprechend so entwickelt hat, wie sie in der Gegenwart dargestellt wird. Dazu beigetragen hat auch die Einflechtung von weltpolitisch bedeutsamen Ereignissen und Entwicklungen. Angesagte Filme, Musik und Bücher sind ebenfalls gelegentlich erwähnt. Bis auf wenige Einwürfe im Dialekt weist die Autorin nur darauf hin, dass dieser früher in der Familie gesprochen wurde. Der Lesefluss bleibt daher ungebrochen.

Im Roman „Aber Töchter sind wir für immer“ von Christiane Wünsche wurden durch die mit mir etwa gleichaltrigen Töchter Johanna und Heike, die wie ich am Niederrhein aufwuchsen, Erinnerungen bei mir wach an meine eigene Kindheit und Jugend. Ich empfand die Beschreibungen als authentisch und übereinstimmend mit meinen eigenen Erinnerungen. Die Autorin zeigt, dass trotz unterschiedlicher Meinungen und der daraus resultierenden Differenzen die Bande, die eine Familie zusammenhält, sehr stark sind und der Ort an dem man aufgewachsen ist, seinen besonderen Reiz durch die beinhalteten Erinnerungen hat und man dadurch untrennbar mit ihm verbunden ist. Der Roman hat mich bewegt und wird mir in Erinnerung bleiben. Gleichzeitig hat er mich sehr gut unterhalten, daher empfehle ich ihn gerne weiter.

Veröffentlicht am 22.07.2019

Unerwartete Wendungen, gut ausformulierte Charaktere und eine fein abgestimmte Konstruktion

Die Stille des Todes
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Das Buch „Die Stille des Todes“ ist der erste Teil der „Trilogie der Weißen Stadt“ der Spanierin Eva García Sáenz. Haupthandlungsort im Thriller ist Vitoria, die Hauptstadt des Baskenlands. Die Ermittlungen ...

Das Buch „Die Stille des Todes“ ist der erste Teil der „Trilogie der Weißen Stadt“ der Spanierin Eva García Sáenz. Haupthandlungsort im Thriller ist Vitoria, die Hauptstadt des Baskenlands. Die Ermittlungen übernimmt Inspector Unai López de Ayala gemeinsam mit seiner Kollegin Inspectora Estíbaliz Ruiz de Gauna. Seit seiner Jugend hat Ayala den Spitznamen „Kraken“, vielleicht weil es bei ihm schwierig ist, wie bei den gleichnamigen Tieren,, etwas über ihn zu erfahren. Als Leser blieb ich an seiner Seite, denn er erzählt die Ereignisse in der Ich-Form im Rückblick. Allerdings unterbricht ein weiterer Handlungsstrang, der zu Beginn der 1970er Jahre spielt, das in zeitlicher Reihenfolge ablaufende Geschehen. Eine Ausnahme dazu bildet der Prolog, in dem Ayala kurz ein Statement zu den vorigen erfolgten Ermittlungen abgibt. Das Erschreckende daran war für mich, dass er von einem Schuss des Mörders auf ihn erzählt. Spannender konnte der Einstig kaum sein, denn nun wollte ich natürlich wissen, ob der Mörder gestellt werden konnte und Ayala überlebt hat. Ich mag Bücher mit Ich-Erzähler, die rückblickend aus dem Jenseits erzählen, nicht. Wird der Thriller wieder in diese Kategorie fallen? fragte ich mich daher nach der Einleitung.

Vitoria wurde vor zwanzig Jahren von einer Serie von Morden erschüttert. Erst waren es ein neugeborenes Mädchen und ein neugeborener Junge, dann zwei Fünfjährige, des Weiteren ein zehn Jahre altes Pärchen und schließlich ein Fünfzehnjähriger und eine Fünfzehnjährige, die ermordet, entkleidet und auf besondere Weise arrangiert an jeweils einem historischen Ort in der Stadt aufgefunden wurden. Der Täter wurde damals gefasst, doch das Prekäre war, dass es sich dabei um einen aus dem Fernsehen bekannten Archäologen handelte der von seinem eineiigen Zwilling, einem Polizeiinspektor, verhaftet wurde. Jetzt werden Ayala und Gauna an einen Tatort gerufen, bei dem alles an die damalige Mordserie erinnert. Die beiden Opfer sind zwanzig Jahre alt, was an den Altersabstand der früheren Tötungen anknüpft. Aber der Mörder sitzt noch im Gefängnis, soll allerdings in zwei Wochen entlassen werden. Wurde er unschuldig verurteilt oder ist es möglich, dass er aus der Haft heraus die Taten veranlasst? Die Ermittler stehen vor einem Rätsel und die Zeit drängt, denn die 25-jährigen der Stadt geraten in Panik, diesmal auf der Liste des Täters zu stehen …

Die Autorin legt von Beginn an die Spannungslatte sehr hoch. Ich habe mitgerätselt und darauf gehofft, dass sich die Morde schnell klären lassen, obwohl mir das schon aufgrund der über 500 Seiten schlichtweg nicht möglich erschien. Im Einschub von Kapiteln mit der Einflechtung von Geschehnissen in den 1970ern erfuhr ich mehr über die Mutter der eineiigen Zwillinge und hoffte darauf, dadurch einen Erkenntnisvorsprung gegenüber den Ermittlern zu erhalten. Eva Garciá Sáenz lässt ein um die andere Wendung in ihre Geschichte einfließen. Mit den beiden Inspektoren schafft sie ganz unterschiedliche Charaktere über deren Privatleben ich zunehmend mehr erfuhr. Oftmals denken die beiden in unterschiedlichen Richtungen, was zu konstruktiven Auseinandersetzungen untereinander führt. Zwar ist die Suche nach Indizien kleinteilig, aber nie langweilig. Die Inspektoren gehen gelegentlich ihren eigenen Vermutungen nach. Durch ihre längere Zusammenarbeit lässt sich dabei das Vertrauen in die Fähigkeiten des anderen spüren.

Die Autorin beschreibt die Leichenfunde so, dass ich mir die Szene gut vorstellen konnte. Bei den Ermittlungen fließt wenig Blut, der Fokus liegt eindeutig auf der Suche nach Indizien. Nicht nur die Fundorte, sondern die gesamte Erzählung ist eingebunden in die Historie der Stadt Vitoria und ihrer Umgebung zu der Eva Garcia Saenz einiges zu erzählen hat. Außerdem lässt sie die Morde im Juli und August geschehen, in einer Zeit in der wichtige Festivität in der Stadt stattfinden. Trotz des Grausens aufgrund der Verbrechen bekam ich Lust dazu, die Region im Baskenland bei Gelegenheit zu besuchen. Einen kleinen Eindruck gewinnt man vom Cover des Buchs, das den Weg vom Markt zur Kirche San Vicente Martir zeigt. Dabei blitzt im Hintergrund der Glockenturm der Kirche San Miguel Arcangel heraus, einem Ort der im Buch eine Rolle spielt.

Der Thriller „Die Stille des Todes“ von Eva Garcia Sáenz konnte mich von Beginn an begeistern. Aufgrund zahlreicher unerwarteter Wendungen, gut ausformulierter Charaktere und einer fein abgestimmten Konstruktion ist der Thriller fesselnd bis zum Schluss. Ich freue mich darüber, dass es noch zwei weitere Fälle für das Ermittlerpaar Inspector Unai López de Ayala und Inspectora Estíbaliz Ruiz de Gauna sowie ihren Kollegen vom Kommissariat im baskischen Vitoria gibt, die bald in deutscher Sprach erscheinen werden. Klare Leseempfehung an Thrillerfans!

Veröffentlicht am 15.07.2019

Suche der Protagonistin nach den eigenen Wurzeln verbunden mit der Geschichte Armeniens

Hier sind Löwen
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„Hic sunt leones“ (lat.), ins Deutsche übersetzt „Hier sind Löwen“ wurde früher von den Römern auf die Bereiche einer Landkarte geschrieben, die außerhalb des römischen Reiches lagen. Dort war für sie ...

„Hic sunt leones“ (lat.), ins Deutsche übersetzt „Hier sind Löwen“ wurde früher von den Römern auf die Bereiche einer Landkarte geschrieben, die außerhalb des römischen Reiches lagen. Dort war für sie unbekanntes Gebiet auf dem ihre Gesetze keine Geltung hatten und der Aufenthalt risikoreich war. „Hier sind Löwen“ heißt auch Katerina Poladjans Roman, in dem sie von Helene Mazavian erzählt, einer deutschen Buchrestauratorin die beruflich nach Jerewan fliegt, der Hauptstadt Armeniens. Für Helene ist es eine Reise entsprechend des Titels ins Neuland. Eigentlich freut sie sich nur darauf, weitere Kenntnisse und Fertigkeiten im Job zu erlangen, doch für sie führt die Fahrt auch zu ihren familiären Wurzeln und in die Vergangenheit Armeniens.

Ihr Vor- und Nachname ist Helene bisher nicht wichtig gewesen. Von Freunden wird sie Helen gerufen, von ihrer Mutter Lena, mit den Abwandlungen ihres Namens hat sie in Kinderjahren gespielt. Ihren Nachnamen hat sie von ihrer Mutter, die armenischer Abstammung ist. Aufgrund seiner Phonetik fällt er in Deutschland auf. Bei ihrer Ankunft in Jerewan reiht sich ihr Name in den Klang der Sprache ein, was bei ihr ein gutes Gefühl auslöst. In den Werkstätten des zentralen Archivs für armenische Handschriften kommt ihr die Aufgabe zu, ein Evangeliar aus dem 18. Jahrhundert zu restaurieren. Bei diesem Erzählstrang lässt Katarina Poladjan ihre profunden Kenntnisse über Buchbinderei immer wieder einfließen. Helen versieht ihre Arbeit mit Achtung gegenüber dem Buch. Zwar versteht sie kein Armenisch, doch die Ausgestaltung des Textes zieht sie immer mehr in ihren Bann. In Helens Gedanken entsteht eine Geschichte um ein armenisches Geschwisterpaar in der Zeit der Massaker und Todesmärsche des Jahres 1915, die das Buch auf ihrer Flucht im Gepäck haben.

Helen ist die Tochter einer Künstlerin. Als sie noch ein Kind war, hat ihre Mutter ihre Spielsachen in ihre Kunst eingearbeitet und so versucht, ihren Bildern mehr Tiefe zu geben und sie zum Betrachter sprechen zu lassen. Helen nimmt diesen Spirit mit in ihre eigene Arbeit. Mit dem Restaurationsgegenstand in ihren Händen formen sich Bilder in ihrem Kopf über dessen Gebrauch und Nutzen. Durch eine Randnotiz im Evangeliar verbindet die Autorin die Zeitebene der Gegenwart mit derjenigen der Vergangenheit. In eingeschobenen Kapiteln erzählt sie in bewegender Weise von der Flucht des armenischen Jungen Hrant, der erst sieben Jahre alt ist, und seiner einige Jahre älteren Schwester Anahid, die die einzig Überlebenden ihrer Familie sind. Bei ihrer Flucht vor Deportationen haben sie das Buch im Gepäck.

Von ihrer Mutter hat Helen ein Familienbild aus den 1950ern vor der Reise erhalten mit dem Wunsch, nach den darauf abgelichteten Verwandten zu suchen. Statt sich nur dem Erlernen der besonderen armenischen Buchbindekunst zu widmen, beginnt sie aufgrund des Bilds und des Evangeliars, sich für die Geschichte des Landes zu interessieren. Immer stärker wird ihr bewusst, welches Leid die Bewohner im vergangenen Jahrhundert erfahren haben, das bis heute nachhallt. Spätestens jetzt interessierte ich mich für die Geschichte Armeniens und warum die Armenier in großer Zahl verfolgt, ausgewiesen und getötet wurden.

In Armenien erlebt Helen so viel Neues, Ungewohntes, dass sogar ihr Lebensgefährte in Deutschland für sie in den Hintergrund tritt. Ihre Neugier treibt sie dazu, Grenzen auszuloten und sich auf Unbekanntes einzulassen. Die Autorin schaffte es, die Empfindungen ihrer Protagonistin an mich zu übermitteln. Nicht nur durch das Fremde ist Helen von einer Unruhe ergriffen, sondern auch von den Gefühlen zu einem Mann, über deren Tiefe sie sich nicht im Klaren ist und die für sie nicht vergleichbar sind. Deutlich spürte ich den Zwiespalt in ihr, die richtigen Entscheidungen in Bezug auf ihre Zukunft zu treffen.

Katerina Poladjan nahm mich in ihrem Roman „Hier sind Löwen“ mit nach Armenien. Ihre Protagonistin und Ich-Erzählerin Helen entwickelt sich durch das Erlernen einer neuen Bindetechnik eines Buchs nicht nur beruflich weiter, sondern nähert sich durch die Beschäftigung mit Land und Leuten auch ihren eigenen Wurzeln. Durch die Begegnung mit der Fremde und dem Vergleich mit ihren bisherigen Wertvorstellungen erfährt sie mehr über sich selbst. Die Schilderungen der Autorin berührten mich und von den Erlebnissen des armenischen Geschwisterpaars in der Nebenhandlung war ich erschütternt. Gerne bin ich an der Seite Helens in die Geschichte Armeniens eingetaucht und empfehle daher den Roman weiter.

Veröffentlicht am 06.07.2019

Unterhaltsamer, spannender und bewegender Roman, der im Jahr 1920 spielt

Mehr als die Erinnerung
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m Roman „Mehr als die Erinnerung“ nahm Melanie Metzenthin mich mit auf das fiktive Gut Mohlenberg in die 1920er Jahre. Auf dem Gut hat Dr. Meinhardt vor einigen Jahren eine Einrichtung für psychisch kranke ...

m Roman „Mehr als die Erinnerung“ nahm Melanie Metzenthin mich mit auf das fiktive Gut Mohlenberg in die 1920er Jahre. Auf dem Gut hat Dr. Meinhardt vor einigen Jahren eine Einrichtung für psychisch kranke Menschen errichtet. Die Patienten dort versuchen nach ihren Möglichkeiten, sich selbst zu versorgen. Das Coverbild illustriert, dass die Arbeitsgrundlage der Anstalt nicht nur die Erziehung zur Selbständigkeit ist, sondern den Hilfesuchenden Ruhe und Entspannung auf dem weitläufigen Gelände bietet. Der Titel verdeutlicht, dass es nicht nur auf schöne Erinnerungen ankommt, die man mit lieben Menschen teilt, sondern auch gemeinsame Empfindungen.

Friederike ist die Tochter des Gründers. Sie war eine der ersten Frauen, die in Heidelberg zum Medizinstudium zugelassen wurden. Dort begegnete sie ihrem späteren Ehemann, dem vormaligen Leutnant Bernhard von Aalen, der sich im Weltkrieg eine schwere Kopfverletzung zugezogen hat, die seine Erinnerungen beeinträchtigt. Friederike brach daraufhin ihr Studium ab, um ihren Mann zu pflegen. Beide wohnen auf Gut Mohlenberg. Eines Tages ersucht ein junger Mann um Arbeit. Er leidet unter den schweren Verbrennungen im Gesicht, die er sich ebenfalls im Krieg zugezogen hat. Seine Papiere sind zweifelhaft, doch schnell entsteht eine Freundschaft zwischen Bernhard und ihm. Kurz nacheinander geschehen zwei schreckliche Morde in der Nähe des Gutes. Es entstehen Gerüchte bei den Ortsansässigen und der Verdacht fällt auf einen Bewohner von Gut Mohlenberg. Friedericke glaubt nicht an die Vorwürfe und beginnt Fragen zu stellen, die nicht jedem Recht sind, weil sie an Begebenheiten heranreichen, die bewusst verschwiegen wurden.

Melanie Metzenthin flechtet in ihren Roman ein Stück Geschichte der Behandlung von psychisch Kranken ein. Sie greift die damaligen Begrifflichkeiten auf und beschreibt viele Behandlungsmethoden, die mich staunen ließen über die Mittel, die man zur Heilung der Psyche einsetzte. Als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie schafft sie es, die Erkrankungen der Patienten realistisch darzustellen. Mit viel Einfühlungsvermögen versetzt sie sich in ihre Figuren und lässt sie wirklichkeitsgetreu handeln. Neben den interessanten Einblicken in das medizinische Geschehen entwickelt die Autorin in ihrer Erzählung eine kriminelle Handlung, bei der sich der Spannungsbogen langsam steigert und bis zum Ende hält. Des Weiteren kommt auch die Liebe nicht zu kurz auf besondere Art in der gefühlvollen Zuneigung des Ehepaars von Aalen. Die Schilderung des Zusammenhalts von Frontsoldaten, unterschiedliche Auffassungen über medizinische Heilweisen und Frauen als Opfer von Männern, die ihre Fantasien ausleben und vertuschen sind Themen die den Roman auf spezielle Weise ausschmücken. Angenehm überrascht hat mich der Gastauftritt des noch jungen Richard Hellmer, einer Figur aus vorigen Romanen von Melanie Metzenthin.

Mit „Mehr als die Erinnerung“ schreibt Melanie Metzenthin einen unterhaltsamen, spannenden und bewegenden Roman über die Behandlung psychischer Erkrankungen in den 1920er Jahren und zeigt damit gleichzeitig, wie viel das Leben solcher Patienten zur damaligen Zeit wert war. Mir hat das Buch sehr gut gefallen und daher ich empfehle gerne an Leser historischer Romane weiter.

Veröffentlicht am 01.07.2019

Mit scharfem Blick und feiner Ironie

Der Zopf meiner Großmutter
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Im Roman „Der Zopf meiner Großmutter“ von Alina Bronsky erzählt der inzwischen erwachsene Maxim von seiner Kindheit und Jugend. Er wurde von seinen Großeltern erzogen, an seine Eltern kann er sich nicht ...

Im Roman „Der Zopf meiner Großmutter“ von Alina Bronsky erzählt der inzwischen erwachsene Maxim von seiner Kindheit und Jugend. Er wurde von seinen Großeltern erzogen, an seine Eltern kann er sich nicht erinnern. An ihrer Seite kam er aus der russischen Großstadt nach Deutschland als Kontingentflüchtling, denn zu denen zählte die Familie, weil ein entfernter Verwandter angeblich jüdisch wäre, wie seine Großmutter Margarita Iwanowna, kurz Margo gerufen, ihm erklärt. Um seine Oma kreist sein gesamter Kosmos, sie behütet und beschützt ihn vor allen äußeren Einflüssen, von denen sie glaubt, dass sie Max schaden könnten. Die ungewohnte Umgebung im Wohnheim für Flüchtlinge in einem Ort in der Nähe von Frankfurt bringt neue Herausforderungen für die Großmutter mit und so fällt es ihr nicht auf, dass ihr Ehemann sich in die alleinstehende Nachbarin verliebt mit der sie sich umständehalber angefreundet hat.

„Der Zopf meiner Großmutter“ ist der erste Roman, den ich von Alina Bronsky gelesen habe. Die Vielschichtigkeit mit der sie ihre Figuren gestaltet, hat mir sehr gut gefallen. Zunächst war ich irritiert darüber, warum die Großeltern den Weg nach Deutschland gesucht haben, warum sie ihren Enkel großziehen und warum Margo ihn von allem absondert. Ist es unbändige Liebe mit der sie ihn erdrückt oder vielleicht eher Berechnung? Erst ganz zum Ende hin klärte sich, wie von mir erwartet, meine Verunsicherung. Bis dahin erfuhr ich von der früheren Karriere der Großmutter als Tänzerin, die sie für ihre Familie aufgegeben hat. Langsam wurde mir deutlich, dass sie jeder Sache, auf die sie sich einlässt mit Leib und Seele nachgeht, allerdings auch unter ständigem Klagen, dass auf Dauer zusammen mit ihren fehlenden Sprachkenntnissen zu ihrer Vereinsamung führt. Sie reagiert oft unwirsch, ist aber sofort um eine Lösung bei Problemen bemüht, sie sucht sowohl nach Mitleid wie auch nach Bewunderung. Letzteres erhält sie in ausreichendem Maße von ihrem Ehemann, der ihr fast jeden Wunsch erfüllt. Sein fehlendes Durchsetzungsvermögen sucht er durch Heimlichkeiten zu ersetzen. Durch seinen Fleiß ernährt er die Familie. Für Max ist er ungeahnt ein Vorbild, denn auch er entzieht sich im Laufe der Jahre immer mehr dem Einfluss seiner Großmutter durch stillschweigendes Ausprobieren von ihr verbotener Handlungen und durch seine Fantasie. Trotz der zunehmenden Infragestellung ihrer Anweisungen, bleiben ihm ihre Ermahnungen dennoch ständig präsent.

Alina Bronsky schildert mit scharfem Blick fürs Detail und feiner Ironie eine Geschichte über eine durch das Schicksal reduzierte Familie, bei der es eine Auseinandersetzung mit Schuld und Unvermögen lange nicht gegeben hat. Gleichzeitig ist es eine Suche nach Neuorientierung und heimisch werden. Symbolisch dazu lässt die Autorin zum Schluss einen alten Zopf abschneiden, eine veraltete Methode um sich neuen Ideen zuzuwenden. Ich habe mich köstlich beim Lesen dieser bitter-süßen Erfahrungen von Max amüsiert, die unterhalten aber auch bewegend sind. Daher empfehle ich den Roman gerne weiter.