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dear_fearn

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.09.2019

Schneewittchenschlaf

Wir von der anderen Seite
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Rahel ist Mitte 30, Drehbuchautorin für Komödien, in einer glücklichen Beziehung und lebt in einer schön eingerichteten Wohnung, die der eines englischen Rentners ähnelt. Über Weihnachten fährt sie nach ...

Rahel ist Mitte 30, Drehbuchautorin für Komödien, in einer glücklichen Beziehung und lebt in einer schön eingerichteten Wohnung, die der eines englischen Rentners ähnelt. Über Weihnachten fährt sie nach Hause zu ihren Eltern, beginnt gerade ein neues Drehbuch und dann - Cut. Sie wacht im Krankenhaus auf. Überall ragen Schläuche aus ihrem Körper, überall Monitore, die sämtliche Vitalfunktionen überwachen, ihre Haut ist ganz gelb, sie ist so müde, sie erinnert sich an nichts. Was ist passiert?

Anika Decker hat die Gabe, in einer leicht-fließenden Sprache die schlimmsten Momente mit geistreichem Witz zu untermalen. Ihre Charaktere sind sympathisch und glaubhaft, wenn auch etwas schräg. Rahels Erinnerungslücken nutzt sie sehr gut zum Spannungsaufbau und gibt sie ihr Stück für Stück zurück, sodass die Handlung dank Leser-Neugier nie langweilig wird. Ein ums andere Mal kam ich aus dem Schmunzeln über hübsche Begebenheiten nicht heraus, teilweise war ich aber auch fassungslos angesichts dem Verhalten einiger Charaktere. Am Ende siegt aber doch die Rührung über Rahels Mut zum Durchhalten und Weitermachen und der endlosen Unterstützung und Liebe, die sie auf ihrem Weg von ihren Eltern und ihrem Bruder Juri bekommt, obwohl Rahel auch menschlich keine einfache Person ist und das ewige Kreiseln um Krankheiten und Befindlichkeiten durchaus für Angehörige anstrengend und zehrend ist.

Sehr gut geschrieben, sehr empfehlenswert!

Veröffentlicht am 05.08.2019

Kurz und schmerzhaft

Alles okay
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Marin wächst am Ocean Beach in San Francisco auf. Dieser Strand hält die besten und schlimmsten Dinge für sie bereit. Das Meer beruhigt sie und sie verbringt dort die schönsten Momente mit ihrer ...

Marin wächst am Ocean Beach in San Francisco auf. Dieser Strand hält die besten und schlimmsten Dinge für sie bereit. Das Meer beruhigt sie und sie verbringt dort die schönsten Momente mit ihrer besten Freundin Mabel. Aber an diesem Strand ist auch ihre Mum ertrunken, bei einem Surf-Unfall. Marin war erst drei Jahre alt und lebt seitdem bei ihrem Gramps. Die beiden haben eine ganz spezielle Beziehung, voller bedeutungsvoller Rituale, aber meist ist jeder für sich. Marin weiß nichts über ihre Mum. Gramps spricht nicht über sie und konnte ihren Verlust nie ganz verwinden. Als Gramps eines Tages verschwindet und die Polizei sie über seinen Tod informiert, macht Marin zuhause eine schmerzhafte Entdeckung. Kurzerhand beschließt sie wegzulaufen, alles hinter sich zu lassen, alle Kontakte abzubrechen und nicht mehr zurückzuschauen. Sie fliegt früher als geplant zu ihrem College, übersteht zwei Wochen in einem dreckigen Motel und beginnt schließlich ein neues Leben gemeinsam mit ihren Kommilitonen. Doch die Vergangenheit lässt sie nicht los, sie fühlt sich einsam und verloren. Und dann kommt Mabel kurz vor Weihnachten zu Besuch…

Durch dieses Buch bin ich voller Tränen geschwommen. Kurz und schmerzhaft. Der Schreibstil ist leicht verständlich, voller Beschreibungen und Dialoge. Aber zwischen den Zeilen schwingen Gefühle, die schwer auszuhalten sind: Verlust, Trauer, Einsamkeit. Marin fühlt sich betrogen, verlassen, erträgt den Gedanken an ihr altes Leben nicht mehr, weiß nicht, ob das alles real oder nur Täuschung war. Die Kapitel sind relativ kurz. Es wird zwischen Rückblick und Gegenwart gewechselt, bis Mabel Marins altes Leben mit in ihr neues bringt. Es ist eine Geschichte über Schmerzen, Heilung und darüber wie sehr wir die Liebe anderer Menschen benötigen.

Veröffentlicht am 29.07.2019

Zwei sehr mutige Mädels

Sal
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Ich-Erzählerin ist die kleine Sal. Aber was heißt klein? Anders als die meisten 13-jährigen in ihrem Alter, musste sie schon früh erwachsen werden. Ihre Mutter ist meistens betrunken und deren Freund nicht ...

Ich-Erzählerin ist die kleine Sal. Aber was heißt klein? Anders als die meisten 13-jährigen in ihrem Alter, musste sie schon früh erwachsen werden. Ihre Mutter ist meistens betrunken und deren Freund nicht nur ebenfalls alkoholabhängig, sondern auch noch gewalttätig und übergriffig. Er missbraucht Sal seit sie 10 ist.
Seit Peppa auf der Welt ist, tut Sal alles, um sie zu beschützen. Als Peppas 10. Geburtstag bevorsteht, bekommt Sal Panik und macht einen Plan, denn Peppa soll nicht das gleiche geschehen wie ihr. Sie dürfen nicht an die Öffentlichkeit gehen, denn die Schwestern haben Angst, dass sie vom Jugendamt in unterschiedliche Familien geschickt und getrennt werden. Es bleibt also nur ein Ausweg: Weglaufen!

Das Buch ist wirklich fantastisch geschrieben: Die Sprache ist die eines Kindes, mit viel "und", fast plappernd. Angesichts der Geschehnisse, der wilden Flucht, der Gewalt, den Begegnungen mit Ingrid und Adam, erscheint ihr Sprech fast etwas gefühlskalt. Sie registriert wirklich alles. Sehr ausführlich beschreibt sie die Landschaft und die Handgriffe beim Bau einer Hütte, beim Feuerentfachen, Hasenfangen, Angeln. Von ihr kann man als Leser viel lernen.

Alkoholmissbrauch, Gewalt und Vergewaltigung sind aktuelle Themen unserer Zeit. Das Aussteigerleben-Thema wird hier nochmal aus einer, aus der Not geborenen, Sicht beschrieben. Empfehlenswert und lehrreich. Auch aus emotionaler Ebene: Durch die anhaltenden Gefühle der Schwestern gegenüber ihrer Maw.

Veröffentlicht am 16.05.2019

Die fabelhafte Welt der Zimperliese

Mein Leben als Sonntagskind
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Das Cover kann gar nicht die Welt einfangen, in der Jasmijn lebt. Damit meine ich nicht die Wohnung in Rotterdam, in der sie mit ihren Eltern, ihrem Bruder und ihrer Hündin Senta lebt, oder die Schule, ...

Das Cover kann gar nicht die Welt einfangen, in der Jasmijn lebt. Damit meine ich nicht die Wohnung in Rotterdam, in der sie mit ihren Eltern, ihrem Bruder und ihrer Hündin Senta lebt, oder die Schule, die sie besucht. Ich meine die Welt in ihrem Kopf.

Jasmijn hat das Asperger-Syndrom - eine Form von Autismus. Niemand hat das für sie feststellen lassen. Ihre Eltern lieben sie so, wie sie ist. "So ist sie eben." ist ein Satz, den Jasmijn aus dem Mund ihrer Mutter oft hört. Sie sagt es zu Erzieherinnen, Lehrerinnen, Nachbarn und Familienmitgliedern, wenn ihre Tochter sich anders verhält, als die anderen Kinder.

Judith Visser beschreibt sehr detailliert Jasmijns Gedanken, ihre aufmerksamen Beobachtungen der Umgebung, der Geräusche, der Farben, und ihre vielseitig zarten Empfindungen. Sensibel-sein ist schwierig in dieser Welt, das weiß ich. Aber Jasmijn ist nicht nur sensibel, sie saugt ihre ganze Umgebung in sich auf wie ein Schwamm. Ihr sehr dünnes Nervenkostüm wird von allem gereizt: Zu grelles Licht, zu laute Musik, Stimmengewirr, viele optische Eindrücke in Menschenmengen oder Einkaufszentren, plötzliche Berührungen, unerwartete Fragen und damit verknüpfte Erwartungen der Fragenden. Da ist es doch kein Wunder, wenn der Kopf irgendwann voll ist und zu platzen droht.
In solchen Situationen sehnt sich Jasmijn nach Stille und ihrer Hündin Senta, nach einem ruhigen Spaziergang mit ihr im Park oder der sanften Stimme von Elvis aus ihrem Walkman.

Ich verstehe auch die Außenwelt. "Zimperliese" wird sie von ihrem Bruder Emiel genannt, der viel zu oft Rücksicht auf sie nehmen soll, obwohl doch nichts dabei ist, mal ans Telefon zu gehen, mit fremden Erwachsenen zu sprechen, ohne Strohhalm aus einem Glas zu trinken. Das sind alles Sachen, die Jasmijn nicht kann und die uns allen so normal erscheinen.

Der Schreibstil von Judith Visser ist leseleicht und als Leser gleitet man förmlich durch die über 100 Kapitel. Manch einem mag es langatmig erscheinen - ich empfand es als großes Geschenk, in den Kopf des jungen Mädchens schauen zu dürfen, in all ihren Lebensetappen. Sie ist besonders, aber sie zu lieben erfordert Geduld und Verständnis.

Veröffentlicht am 10.04.2019

Unerwarteter Rachefeldzug

Die Farben des Feuers
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Zugegebenermaßen ist dem Leser anfangs nicht klar, wohin die Reise gehen wird. Die Zeit zwischen den Weltkriegen ist keine einfache, was Madeleine Pericourt allerdings bis zum Tod ihres Vaters nicht zu ...

Zugegebenermaßen ist dem Leser anfangs nicht klar, wohin die Reise gehen wird. Die Zeit zwischen den Weltkriegen ist keine einfache, was Madeleine Pericourt allerdings bis zum Tod ihres Vaters nicht zu spüren bekam. Sie verfügte über Geld, das sie sorglos ausgab, immer in dem Wissen, dass es nicht versiegen würde. Mit dem Tod von Monsieur Pericout allerdings, änderte sich alles. Vor allem, als Madeleines Sohn Paul bei der Beerdigung aus dem Fenster stürzte und seither gelähmt und behindert im Rollstuhl gefangen war. Madeleine stand nun vor mehreren Problemen gleichzeitig: Vorwürfen (Warum war Paul gesprungen? Wurde er geschubst? War es ein Unfall? War sie eine schlechte Mutter?), dem Erbe (darum kümmerte sich Gustave Joubert), der Umrüstung des Hauses für den Rollstuhl (darum kümmerte sich Leonce), das Führen der Pericourt-Bank, ihrem Erbe, (auch darum kümmerte sich Joubert), aber vor allem dem Wohlergehen ihres Sohnes, der mit dem Leben abgeschlossen zu haben schien. In Paul investierte sie all ihre Zeit, weshalb sie alle anderen Probleme wegschob und den anderen überließ. Ihre Schwäche wurde jedoch erkannt und obwohl sich die Situation zu bessern schien, als Paul seine Liebe zur Musik entdeckt, sich mit der Sängerin Solange Gallinato anfreundet und wieder aufblüht, wurden hinter dem Rücken der kleinen Familie Pläne geschmiedet, um sie um ihr Vermögen zu bringen - ausgerechnet von ihren engsten Vertrauten.

Ich hatte erwartet, dass Madeleine sich in der Bankenwelt durchsetzen wird, ein Bild der Frau in Führungsposition vermitteln wird. Zu meiner Überraschung, war dem nicht so. Nach einer Schockstarre, dem Verlust ihres Vermögens, ihres Heims und schließlich der Erkenntnis, dass ihr Geliebter André (Pauls Hauslehrer) jahrelang ihren Sohn missbraucht hat, beschließt sie ihren Rachefeldzug an allen, die sie betrogen haben.

Ja, der Roman ist anspruchsvoll geschrieben. Ja, es gibt einiges an Politik und Bankgeschäften zu lesen. Ja, es scheint auf den ersten Blick eine trüb-traurige Geschichte zu sein. Aber nein, zu keinem Zeitpunkt ist sie öde, trocken oder langatmig. Dieses Buch ist kaum aus der Hand zu legen, spannend, raffiniert, voller Wendungen, Intrigen, Überraschungen und kleinen Lügen... Kurz: wärmstens zu empfehlen!