Geschichte über das Vergessen
Jelena ist gerade zwei Jahre alt als zaristische Häscher ihren revolutionären Vater auf brutalste Weise ermorden. In der Kälte der Nacht ist sie gemeinsam mit der Mutter und dem älteren Bruder Pawel zur ...
Jelena ist gerade zwei Jahre alt als zaristische Häscher ihren revolutionären Vater auf brutalste Weise ermorden. In der Kälte der Nacht ist sie gemeinsam mit der Mutter und dem älteren Bruder Pawel zur Flucht gezwungen, um den Mördern zu entrinnen. Die nun folgenden Lebensumstände drängen Jelena in ein Dasein zunächst im Schatten von Halbgeschwistern, später von ihrem deutschen Ehemann und dessen Familie und schließlich im Schatten ihrer selbst. Revolution, Bürgerkrieg und Weltkriege beeinträchtigen das Familienleben einer ganzen Generation. Familie hat zu funktionieren, ist weniger von liebevollem Umgang gekennzeichnet. Das Einzige, das zählt, ist das Überleben.
Die Geschichte wird in verschiedenen Zeitebenen erzählt, die von 1905 und 2017 ausgehend, aufeinander zulaufen. Der historische Erzählstrang begleitet Jelena vom Kleinkind, durch die Jugend, als Ehefrau und Mutter. Der aktuelle Strang ist Konstantin Stein, Jelenas Enkel, gewidmet. Er betrachtet Jelenas Leben aus der eigenen und der Erinnerung von Verwandten heraus. Auch wenn zwischen den Kapiteln immer mehrere Jahre fehlen, ergibt sich durch die Erzählweise ein erschreckendes, gleichzeitig beeindruckendes Gesamtbild, das aus meiner Sicht eine umfassende Erklärung für mache, von uns unverstandene, Reaktion oder Verhaltensweise der Kriegs- und Nachkriegsgeneration geben kann.
Obwohl Konstantin Stein als 43-jähriger eigentlich mitten im Leben stehen sollte, wirkt er auf mich wie ein kleiner Junge. Er läßt sich sorglos durchs Leben treiben, agiert spontan und impulsiv. Er ist ein Familienmensch, aber auch nur so halb. Konstantin vollendet im Prinzip nichts. Die im Roman mehrfach gebrauchte Formulierung „Er findet sein Thema nicht“ ist hier mehr als zutreffend. Seine ganze Haltung zum Leben wirkt ziel- und planlos. Überraschend konfrontiert mit der Demenz-Krankheit seines Vaters stellt Konstantin fest, dass er eigentlich kaum etwas über seine Eltern, deren Familie und damit über seine Herkunft, sich selbst weiß. Ist das sein Thema? Das Verhindern des Vergessens, das Finden seiner selbst. Er stürzt sich jedenfalls darauf. Seine ungelenke, stolperhafte, manchmal hilfsbedürftige Art machte mir Konstantin sehr sympathisch. Als Mutter möchte man sich am liebsten gleich um ihn kümmern.
Jelena steht komplett im Gegensatz zu Konstantin. Sie ist eine starke Frau, wobei abgehärtet wahrscheinlich die bessere Formulierung ist. Diverse Schicksalsschläge mussten ohne die heute übliche Unterstützung der Familie verkraftet werden. Verdrängung und eine eigene Wahrheit sind Jelenas Strategie, um mit dem Unerträglichen fertig zu werden. Der seelische Zusammenbruch ist zeitweise ganz nah. Leider schafft Jelena es nicht, jedem ihrer Kinder die gleiche Liebe zuteil werden zu lassen, geschweige denn sie gleich zu behandeln. So geht das Schicksal der Mutter anteilig auch auf die Kinder über. Trotz ganz viel Verständnis für ihr Handeln aus der Not heraus, hadere ich in diesem Punkt mit Jelenas Charakter.
Alexander Osang hat mit seinem Roman ein ganzes Jahrhundert umspannt, vermittelt damit zwischen den Generationen. Dabei hat mir nicht nur die Thematik und ihre literarische Verarbeitung gefallen, sondern auch die Gestaltung des Buches. Die Vorsatzblätter sind mit der kartografischen Einordnung der Geschichte und Jelena Silbers Familienstammbaum versehen. Neben einem Namenverzeichnis am Anfang ist am Ende des Buches ein Inhaltsverzeichnis enthalten. Insgesamt also eine runde Sache, die ich nur weiter empfehlen kann.