Psychologisch einfühlsame Familiengeschichte mit beeindruckend ungewöhnlichem Schreibstil
"Kieloben" ist ein ungewöhnlicher, feinfühliger Roman über...ja, über was? Viele Dinge werden hier behandelt, trotz der relativen Kürze des Buches mit bemerkenswertem Tiefgang.
Wir werden gleich mitten ...
"Kieloben" ist ein ungewöhnlicher, feinfühliger Roman über...ja, über was? Viele Dinge werden hier behandelt, trotz der relativen Kürze des Buches mit bemerkenswertem Tiefgang.
Wir werden gleich mitten in das Geschehen hineingesetzt, zu Beginn war ich ein wenig überfordert von den unbekannten Namen, den Verwandtschaftsverhältnissen und zurückliegenden Ereignissen. Man muß dieses Buch konzentriert lesen. Die Informationen werden (größtenteils) nach und nach enthüllt. Wir begleiten zu Beginn Inga, die nach dem Unfalltod ihres Mannes eine Reise nach Norwegen macht. Handlung gibt es hier kaum, es geht hier um Ingas Gedanken. Auch im weiteren Verlauf des Buches werden einige solch kontemplativer Kapitel folgen, manche, wie dieses am Anfang, fand ich sehr gelungen, manche etwas zu langatmig. Für mich schien Ingas Reise zu sich selbst letztlich der Hauptfokus des Buches. Das entsprach nicht den Erwartungen, die ich hatte, was aber natürlich nicht Buch und Autorin anzulasten ist und auf die Rezension keinen Einfluß hat. - Ingas Vater war während des Zweiten Weltkriegs mit der Marine vor Norwegen stationiert und so erweckt diese Reise auch Ingas Erinnerungen, Fragen. Diese versucht sie, per Email mit ihren Brüdern Markus und Matthias zu klären. Der Emailaustausch dieser drei Geschwister ist hervorragend dargebracht. Ohne einleitende Worte, ohne Drumherum lesen wir ausschließlich die Emailtexte, die Absender sind jeweils in Klammern mitgeteilt. Dieses etwas ungewöhnliche Herangehen gefiel mir ausgezeichnet und so wirkten die Emailinhalte viel unmittelbarer und ich als Leser war mittendrin im Austausch.
Der Teil des Buches, in dem die drei Geschwister gemeinsam versuchen, ihre (durchaus unterschiedlichen) Erinnerungen und Gesichtspunkte in Einklang zu bringen und mehr über den Vater herauszufinden, war für mich der absolut beste Teil. Wir erfahren die Fakten nach und nach, wie Puzzleteile, oft nur in einem Nebensatz, einem kleinen Wort. Auch hier ist wieder aufmerksames Lesen und Mitdenken gefragt. Schnell wird deutlich, daß die drei Geschwister eine unschöne Kindheit hatten und beide Eltern vom Krieg psychisch schwer gezeichnet waren. Was genau damals passiert ist, das erfahren wir nach und nach, allerdings nur teilweise. Es bleiben doch einige Fragen offen.
Der bemerkenswerte Schreibstil paßt sich der Situation stets wundervoll an. Bei Ingas "Gedankenkapiteln" das Langsame, das Verharren in nebensächlichen Informationen (was mir teilweise nicht so gut gefiel), bei den Emailabschnitten das völlige Weglassen des Drumherums. Bei der einzigen Begegnung der drei Geschwister dann wieder eine andere stilistische Umrahmung. Die Probleme im Geschwisterverhältnis werden hier bildhaft dargestellt, wir erlesen sie nicht durch Erklärungen, wir erfahren sie unmittelbar. Einige Abschnitte dieser Unterhaltung waren mir etwas zu sprunghaft, anstrengend, aber es ist im Ganzen eine meisterhaft ausgearbeitete Szene. Hier tauchen wir auch ein die norwegisch-deutsche Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Ich weiß wenig davon, deshalb war es ausgesprochen interessant. Auch die in späteren Kapiteln folgende Sicht der Norweger auf vieles, die Erlebnisse der Norweger während und nach des Krieges waren sehr lesenswert. Davon hätte ich gerne noch viel mehr gehabt.
Der zweite Teil des Buches läßt dann zu meinem Bedauern die für mich interessantesten Personen fast gänzlich hinter sich und widmet sich hauptsächlich Ingas innerer Reise, hier kommt nun auch die Norwegerin Mette zu Wort. Diese Kapitel sind sehr ruhig, an manchen Stellen für mich zu langgezogen, gerade nach dem fulminanten Klimax der Begegnung der drei Geschwister und ihrer Nachforschungen. Segelfreunde werden mit den teils doch recht detaillierten Segelinformationen mehr anfangen können als ich - diese nahmen mir an mehreren Stellen des Buches zu viel Raum ein. Ein ausführliches Kapitel über einen Segeltörn verband für mich diese Segeldetails, das Verharren in nebensächlichen Informationen und das Langatmige und hat mir nicht gefallen.
Ingas Finden zu sich selbst wird ebenso einfühlsam beschrieben wie die Auswirkungen, die die Kriegstraumata nicht nur auf die Betroffenen, sondern auch auf die nachfolgende Generation haben können. Die Autorin ist Psychologin, das merkt man im Buch auf angenehme Weise.
So haben wir hier also mehrere, miteinander verwobene Themen - die norwegisch-deutsche Geschichte, die Familiengeschichte (die beiden kamen mir persönlich etwas zu kurz), die psychologischen Aspekte verschiedener Lebensereignisse und den langen Arm der Kriegstraumata. Alles erzählt mit Wissen, Können und eben diesem so ungewöhnlichen, teils faszinierendem Schreibstil, der auch nach dem Lesen noch zum Nachdenken anregt. Ein Buch, das Eindruck macht.