Tu etwas!
Exit Now!Ein Jugendroman, der anmutet wie eine BBC-Katastrophenberichterstattung: Verstörend, immer dramatischer werdend und man kann einfach nicht wegschauen. Erschreckend vorstellbar, phänomenal aktuell und politisch. ...
Ein Jugendroman, der anmutet wie eine BBC-Katastrophenberichterstattung: Verstörend, immer dramatischer werdend und man kann einfach nicht wegschauen. Erschreckend vorstellbar, phänomenal aktuell und politisch. Do something!
Nachdem mich ich ihre Gelöscht-Trilogie begeistert hat, habe ich von Teri Terry jedes Buch gelesen und wurde dabei nie enttäuscht. Umso größer die (Vor-)Freude, als bekannt wurde, dass sie zu Kylas Welt zurückkehrt...
Da meine Lektüre besagter Trilogie schon eine Weile her ist, habe ich mich, bevor ich die Buchdeckel des aktuellsten Romans aufgeschlagen habe, nochmal mit den Ereignissen aus Kylas Leben beschäftigt. Zu Band 1 und 2 fand ich hilfreiche Zusammenfassungen, Band 3 musste ich mir durch selbstständiges Durchblättern wieder in Erinnerung rufen. So hatte ich die wichtigsten Namen, Entwicklungen und Überraschungen wieder auf dem Schirm. Für dieses Buch muss man sich entscheiden: Will man es lesen, wie jedes andere, sich überraschen lassen und im Ungewissen darüber sein, wie alles enden wird? Dann sollte man direkt mit dem Lesen beginnen und nicht nochmal nachlesen, was in der Trilogie alles passiert ist. Und auch diese Rezension nicht weiterlesen. Oder aber man genießt das Gefühl des Wiedererkennens, weiß von Anfang an, wer Sam und Ava sind und sein werden und was das Schickal für sie bereit hält. Dann vorher unbedingt die wichtigsten Figuren und Ereignisse nochmal in Erinnerung rufen; so wie ich das eben gemacht habe.
Dadurch hat das Lesen von "Exit now!" für mich eine faszinierende Leseerfahrung bieten können: Ich wusste, worauf all´ die Ereignisse aus dem Jahr 2024 später hinauslaufen würde, wusste, welche Rolle (Neben-)figuren 30 Jahre danach haben würden - nur (noch) nicht, wie es dazu kommen würde. Wissend, wer Ava und Sam sind, ahnend, was und wer aus dem kleinen Nicky werden würde, welches Schicksal Sandy und Stella bevorsteht und welche Gräueltaten Gregory und Astrid noch begehen werden, drehte sich das klassische Leseerlebnis um - vom Ende rückblickend auf das, was zuvor geschah. Einzigartig ist weiterhin, dass dieser in der Zukunft spielende Roman keine Dystopie ist, in der ein schreckenverbreitendes Regime bezwungen wird, sondern ein Roman, in dessen Verlauf man die Errichtung eben jenes Regimes erlebt. Habe ich so noch nie gelesen.
Zudem versteht man durch dieses Buch Kylas Welt besser, warum all´ die Menschen um sie herum zu den Personen geworden sind, die sie erlebt, wie aus dem Großbritannien, das wir heute kennen, ein solch dystopischer Albtraum hatte werden können und wie schnell aus Menschen Monster werden können. Hier ist Teri Terry der Bezug auf das aktuelle politische Geschehen grandios gelungen - Brexit, Politiker, die über die Interessen der Jugend einfach hinwegregieren (mich erinnerten die Jugendproteste und die zunächst herablassende Reaktion der Erwachsenen darauf stark an #FridaysForFuture), die Schlüsselrolle der Medien... Beim Lesen verspürt man die Wut, die auch Ava und Sam beseelt - auf das Establishment, die Erwachsenen und bequem gewordenen Berufspolitiker, die herablassende und verallgemeinernde Art, die Kompromisslosigkeit und das Weigern, Zuzuhören, geschweige denn Einzulenken, die Ungerechtigkeit und Willkür.
Erschreckend, wie schnell Notstandsgesetze, Reaktion auf Gewalt und Terror und außerparlamentarische Entscheidungen die Demokratie aushebeln können und könnten... Unsere Welt ist glücklicherweise nicht so, wie Sam und Ava sie erleben müssen, aber die Geschichte zeigt uns, dass wir nicht nur hinschauen, sondern handeln müssen. Diese Botschaft vermittelt die Autorin nicht nur über die Widmung, sondern auch durch die ganze Handlung hinweg.
Mit knapp 500 Seiten ist dieses Buch ein stolzer Wälzer - durch die kurzen Kapitel und frequenten Erzählwechsel zwischen Ava und Sam liest sich die Geschichte aber wahnsinnig schnell. Ich habe das Buch in drei sessions gelesen, durchgehechelt müsste man fast sagen. Denn die Ereignisse spitzten sich immer weiter zu, Ruhe wird den Protagonisten und Lesern nicht gegönnt, eine Erschütterung folgt auf die nächste. Da bleibt kaum Zeit, Schockerlebnisse wie Tod und Wiedereinführung der Todesstrafe zu verarbeiten.
Typisch Teri Terry ist auch die Beschäftigung mit Selbstbestimmung. Im Glauben, endlich eigene Entscheidungen zu treffen, lässt sie ihre Figuren häufig - um dann Protagonisten und Leser mit einem für unmöglich gehaltenen Ausmaß an Verrat und akribischer Planung zu schocken. Wie schon bei Kylas Geschichte in der Slated-Trilogie wendet sich auch in diesem Buch das Blatt auf den letzten Seiten. Meisterhaft gelingt es der Autorin zudem erneut, nur fast alle Fragen am Ende beantwortet zu haben.
Und dann ist da noch das besondere Band zwischen den beiden Protagonistinnen... Während beide Mädchen sich weiterentwicklen, aus ihrer Komfortzone heraustreten, sich trauen und über sich hinauswachsen, entsteht eine zarte und intensive Bindungzwischen den Beiden. Wie sie es nie aussprechen und doch immer fühlen, wissen... Gänsehaut pur! Auch wenn sich mein armes Leserherz mehr erhofft hat, ist diese bittersüße Nichterfüllung ihrer beider Sehnsucht doch so passend zur Geschichte und so unvermeidbar.
Mit diesem Prequel hat Teri Terry nicht einfach nur die Vorgeschichte zu ihrer berühmten Trilogie geschrieben, sondern dieser Welt und ihren Figuren noch mehr Tiefe, Dynamik und Facetten verliehen. Agent Coulton, der Premierminister Gregory, die Großmutter Astrid, Dr. Lysander, Nico... sie alle sind nicht mehr Gegebenheit von Kylas Leben, notwendige Prota- und Antagonisten; sondern Menschen mit ihren Schwächen und Stärken. Sie verhalten sich nicht mehr, wie es die Handlung in der Trilogie eben erfordert, sondern so, wie das Erlebte aus dem Jahr 2024 sie geprägt und geformt hat. Vorher schon nicht undenkbar, ist der Weg zum dystopischen 2054 nun klar erkennbar. Und das alles hätte anders kommen können. Das alles anders kommen kann.