Hier wird Geschichte lebendig
Immer, wenn ich Walter Kempowski lese, frage ich mich, warum er nicht auf den Lehrplänen steht, warum sein Werk ein solches Schattendasein führt und er in manchen Literaturüberblicken nicht einmal erwähnt ...
Immer, wenn ich Walter Kempowski lese, frage ich mich, warum er nicht auf den Lehrplänen steht, warum sein Werk ein solches Schattendasein führt und er in manchen Literaturüberblicken nicht einmal erwähnt wird. Walter Kempowski ist für mich der mit Abstand beste literarische Chronist der deutsche Geschichte zwischen Gründer- und Nachkriegszeit.
In "Aus großer Zeit" erzählt er uns die Geschichte seiner Großeltern und Eltern, läßt Rostock und Hamburg zwischen Gründerzeit und Erstem Weltkrieg wiederaufleben. Der erste Abschnitt widmet sich der Geschichte der Rostocker Familie Kempowski, der zweite Teil den Hamburger de Bonsacs. Walter Kempowski entwirft hier ein herrliches Gesellschaftsbild, stellt die unkonventionellen, exaltierten und gesellschaftlich etwas skeptisch betrachteten Kempowskis der durch und durch biederen Welt der tiefgläubigen, sparsamen und familienorientierten de Bonsacs gegenüber, die mit dem Nachbar keinen Umgang pflegen, weil er in einer abgelegenen Ecke seines Gartens der Freikörperkultur frönt.
Die Familienmitglieder erstehen durch Kempowskis farbige Erzählart lebendig von den Seiten auf, man sieht sie förmlich vor sich, lernt sie durch ihre kleinen Eigenheiten, typischen Sätze und den Umgang mit anderen ganz hervorragend kennen. Der unverwechselbare Kempowski-Schreibstil, den wir in "Tadellöser und Wolff" in höchster Vollendung erleben dürfen, ist hier noch nicht ganz vorhanden, aber schon sehr erfreulich spürbar.
Der Großteil des Buches besteht aus dem erzählenden Romantext, vor manchen Kapiteln steht eine Auswahl aus Zeitzeugenzitaten, die sehr gelungen dazu beitragen, uns Zeit und Gegebenheiten vor Augen zu bringen. Manche kürzere Kapitel sind Berichte von Menschen aus dem Umfeld der beiden Familien, darunter Hauspersonal, Schulfreunde, Armeekollegen, Nachbarn u.a.. Diese bereichern die Eindrücke sehr, bringen neue Aspekte und Sichtweisen herein.
Die humorvolle Leichtigkeit dieser beiden Teile weicht im dritten und letzten Teil der Düsternis des Ersten Weltkrieges. Hier gelingt es Kempowski ebenfalls hervorragend, diese Zeit auferstehen zu lassen, er stellt auf seine lakonische Art die Schrecken sehr eindringlich dar.
So ist "Aus großer Zeit" ein vielfältiges Sittengemälde jener Jahre, von einer Lebendigkeit und Originalität, die man nur in Ausnahmefällen findet.