Was ist dies für ein Buch?
Zuerst einmal dies vorneweg: Egal was für ein Buch „Radio Activity“ ist, es ist großartig. Grandios und wunderschön.
Ist es ein Buch über wie man einen Radiosender gründet? Dann ist es ein sehr gelungenes ...
Zuerst einmal dies vorneweg: Egal was für ein Buch „Radio Activity“ ist, es ist großartig. Grandios und wunderschön.
Ist es ein Buch über wie man einen Radiosender gründet? Dann ist es ein sehr gelungenes Buch. Hätte nie gedacht, was es alles zu bedenken gibt, wenn man einen neuen Sender auf die Beine stellt. Sogar eine EU-Finanzierung kann unter Umständen drin sein. Dann die nötigen Bewilligungen, die festen Sendezeiten, die Frequenz, das Tonstudio, die Musik, die Beiträge, Reportagen, Werbungen und Nachrichten, ohne die keine Zuhörer für den Sender wären, die Mitarbeiter, die außer den drei Gründern nötig sind, um den Sender am Laufen zu halten. Eine völlig neue Welt hat sich mir da aufgetan.
Ist es ein Buch über Abschiednehmen vom geliebten Menschen, ihn während der letzten Wochen, Tage, Stunden begleiten. Und danach den Tod bewältigen, Überlebensstrategien entwickeln, wie man mit und trotz dem Schmerz weiterlebt? Wunderschön. Am meisten hat mich beeindruckt, wie das gesamte Theaterensemble bunt, schrill und schräg auf der Beerdigung aufgetaucht ist, wie der Pfarrer mit dieser unerwarteten Situation aber fertig geworden ist, wie die Musik alle vereint hat.
Ist es ein Buch über Freundschaften, alte und neue, aus der Schulzeit her und spontan und unerwartet frisch gegründet? Ja, auf jeden Fall. Die Freundschaft Noras mit den beiden Mitbegründern Tom und Grischa zeigt sich so richtig als sie verstehen was Nora eigentlich verfolgt und sie sich bedingungslos hinter sie stellen und eingreifen und weiterführen, ein Eklat verhindern. Aber auch die neuen Freundschaften, Djamil der am Sender eine neue Heimat findet und vor allem Simon, Referendar und Berater, Beschützer und Rechtsverdreher par excellence.
Ist es eine Liebesgeschichte. Aber sicher. Die Mutter-Tochterliebe zwischen Nora und Annabel. Oder Nora und Toshio Hatsugawa, der begnadete Tänzer, der den Trennungsschmerz von Nora in New York in einen preisgekrönten Tanz mit eigener Choreografie bündelt und damit auf den großen Tanzbühnen Furore macht. Der Tanz heißt nOra ga haru. Die Ähnlichkeit nOra und Nora ist kein Zufall. Aber eine Liebesgeschichte ist auch die Beziehung Noras zu Simon Bernhardi. Er muss ihre Strafanzeige wegen Kindesmissbrauch ablehnen, die Tat liegt so weit zurück, dass sie verjährt ist. Aber er hilft ihr, nachdem er sie kennenlernt, unterstützt sie, bringt eine riesige Sache ins Rollen, weil er findet, dass Nora recht hat. Die Chemie stimmt zwischen Nora und Simon. Sie vergleicht seine Augen mit einer Farborgel, ihre Kurzsichtigkeit und seine Schwerhörigkeit ergänzen sich wunderbar und vollkommen: „So war es jedenfalls noch nie gewesen. So hautnah, so weltentrückt, so auf den anderen ausgerichtet, dass das leichteste Zittern, das leiseste Murmeln wie von selbst eine Antwort fand…“ (S. 306)
Ist es ein Roman über Musik, über Töne und Geräusche, über Sprache und das nicht Ausgesprochene? Aber sicher doch. Die Akkordeons der Biscaya Melodie, oder das Lied von Helen Reddy „I am Woman“ oder der Choral „Es kommt ein Schiff geladen“ der auf der Beerdigung von Annabel Tewes so stimmgewaltig zu Gehör kommt, die Haikus die mit nur 17 Silben in drei Zeilen etwas Konkretes so darstellen sollen, dass ein unausgesprochenes Gefühl trotzdem deutlich wird. Und schließlich das Radio als Mittel der Hör-Verständigung für Nora und als Mittel gegen Albträume für die junge Annabel.
Ist es ein Buch über Kindesmissbrauch und das Unvermögen des Kindes mit den Eltern oder anderen Kindern darüber zu sprechen, weil man all das Grauen, Leid, Schmerz, Scham und Ekel nicht in Worte fassen kann? Ja. Annabel bricht erst auf ihrem Sterbebett dieses Schweigen. Sie erzählt Nora was damals der Apotheker ihr antat und nun kann auch Nora verstehen, weshalb ihre Mutter ihr selber Nachhilfeunterricht gab, weshalb Nora nie bei Freundinnen übernachten durfte, wenn die Mädchen in intakten Familien mit Mutter und Vater lebten, weshalb Nora vaterlos aufwuchs.
Ist es ein Buch über das Versagen des Rechtsstaates? Absolut ja! Mord und Steuerhinterziehung verjähren nie. Aber Kindermisshandlung schon. Wer hat dieses Gesetz erlassen? Wohl nur jemand der selbst ein Interesse daran hat, den Mantel des Vergessens über das Ungeheuerliche auszubreiten. Aber die Opfer können nicht vergessen. Die Gewalt, die ihnen angetan wurde, kann in ihnen selber nie verjähren, sie bricht sich immer wieder den Weg frei an die Oberfläche, verhindert ein glückliches Leben, eine erfüllte Paarbeziehung. Auf diesen Missstand macht Simon mit Hilfe von Lukas Leander und Muskat aufmerksam, rückt diesen Skandal ins Rampenlicht, so dass Nachrichtensender, Politiker und Juristen sich des Themas annehmen.
Es ist auch ein Buch mehrerer Zeitebenen: Annabels Kindheit, Noras Kindheit und die Gegenwart, in der alle anderen Stränge zusammenlaufen, sich ergänzen, verständlich werden, dieses wunderschöne komplexe Bild ergeben, genannt „Radio Activity“.
Es ist ein Buch einer wunderschönen Sprache. Manchmal ironisch (Götterspeise gibt es erst, wenn die Deklinationen in Latein sitzen), manchmal knapp und pointiert wie ein Haiku, manchmal tieftraurig und rührend, wenn z.B. Nora ihrer sterbenden Mutter erklärt, es hat ihnen nichts gefehlt und sie an die Zeit erinnert, als sie am Deich saßen, das silberne Wasser vor sich, die Rufe der Möwen hörten und den leuchtenden blühenden Raps im Rücken hatten.
Schließlich ist es ein Buch ohne ein richtiges Ende. Nora meldet sich während einer Sendung ab. Sie hat gesagt was sie wagen musste, nun ist sie „Off – for some time“. Aber wohin sie nun ist, erfahren wir nicht. Ihre Freunde Tom und Grischa mutmaßen, welches die nächste Station in Noras Leben ist: New York, oder Simon, oder ihr Vater oder Toshio? Alle Möglichkeiten stehen ihr offen.
Ach ja, es ein Buch mit einem großartigen charmanten letzten Satz der noch einmal das offene Ende betont.