"Die stumme Patientin" ist ein weiteres Buch, auf das ich durch zahlreiche positive Bewertungen auf Goodreads aufmerksam geworden bin. Ich hatte dadurch hohe Erwartungen an den Psychothriller, der von vielen Leser*innen so gelobt wurde. Mir erging es da leider ganz anders. Doch fangen wir ganz von vorne an:
Im Fokus der Geschichte stehen zwei Personen. Auf der einen Seite haben wir Alicia Berenson, die ihren Ehemann kaltblütig ermordet hat, seither kein Wort mehr von sich gibt und nun in einer geschlossen forensischen Psychiatrie behandelt wird. Auf der anderen Seite haben wir den forensischen Psychiater Theo Faber, der durch den Medienhype über den Mordfall erfahren hat und seither ein ganz besonderes Interesse am Fall von Alicia Berenson hat. Zunächst konnte er den Fall nur aus der Weite beobachten, doch wie durch Zufall (oder durch total konstruierte, nicht näher erläuterte Umstände des Autors) wird ausgerechnet in der Psychatrie eine Stelle als forensischer Psychiater frei, so dass Theo die Gelegenheit beim Schopf packt, um Alicia näher zu kommen. Sein Ziel ist es sie zum Sprechen zu bringen – und dazu ist im nahezu jedes Mittel recht. In zahlreichen Einzelsitzungen und eigener Detektivarbeit versucht er mehr über Alicia herauszufinden.
An dieser Stelle muss ich als erstes betonen, dass mich das Buch aufgrund meines Berufes als Psychologin auf ganz persönliche Weise getriggert hat und meine Bewertungen durch das absurde, realitätsfremde Bild eines Psychiaters und dessen Arbeit resp. einer psychiatrischen Institution sehr negativ beeinflusst wurde. Allein dieses kurze Umreissen des Inhalts reicht eigentlich schon, um meine durchwachsene Bewertung zu begründen, denn einfach alles was in diesem Buch passiert, ist aus psychotherapeutischer Sicht sehr bedenklich und unprofessionell. Bereits auf Seite 24 hätte ich das Buch am liebsten schon abgebrochen, als Theo Faber auf die Frage, weshalb er denn Psychotherapeut werden wollte antwortet - Zitat: "[...]Ich war darauf aus, mir selbst zu helfen. Ich glaube, das gilt für die meisten Menschen, die sich mit der geistigen Gesundheit anderer befassen. Wir fühlen uns zu diesem speziellen Beruf hingezogen, weil wir beschädigt sind - wir studieren Psychologie, um uns selbst zu heilen. Ob wir bereit sind, das zuzugeben, ist eine andere Frage." Wie bitte was?! Zum einen studieren Psychiater nicht Psychologie, sondern Medizin und zum anderen habe ich mit dieser Aussage so Mühe, weil sie natürlich schlichtweg falsch und unethisch ist, und ich mich die ganze Zeit über gefragt habe, ob der Autor, der selbst Psychologie studiert hat, wirklich so denkt. Wäre es bei diesem einen Satz geblieben, dann hätte ich Fiktion noch gut von Realität unterscheiden können, aber leider zieht sich diese selten dämliche Einstellung von Theo Faber durch das ganze Buch hindurch. Seine Anstellung in der Psychiatrie fand ich schon fragwürdig, aber alles was er danach im Rahmen seiner Arbeit als Psychiater tut, fand ich noch viel bedenklicher und ich habe mich mehrfach an den Kopf gefasst und mich darüber gewundert, weshalb zur Hölle kein einziger Mensch in dieser Psychiatrie merkt, wie fahrlässig Faber eigentlich arbeitet. Es handelt sich nicht um ein offenes, ambulantes Setting, sondern um eine geschlossene forensische Psychiatrie, in der straffällige und psychisch Kranke Menschen behandelt werden, und dennoch kann da scheinbar jeder Therapeut tun und lassen, was er will. Dass Theo Faber unübersehbar mehrfach seine professionelle Grenze als Psychiater überschreitet, scheint kein Schwein zu interessieren. Und das ist einfach nur lächerlich. Der Autor behauptet selbst Psychologie studiert zu haben und zwei Jahre im Beruf als Psychotherapeut tätig gewesen zu sein und dennoch zeichnet er ein Bild eines psychiatrischen Alltags, das immer gerade so angepasst wird, dass es zum Fortlauf seiner Geschichte passt. Dass nichts davon der Realität entspricht, scheint ihn nicht zu interessieren. Es war aber nicht nur Faber selbst, den ich unprofessionell gefunden habe, sondern auch das gesamte restliche Team. An einer Stelle möchte Faber Alicia zu einer privaten Kunsttherapie-Stunde überreden und holt sich die Erlaubnis bei der Kunsttherapeutin dafür ein. Die ist aber so gar nicht gut auf Alicia zu sprechen und äussert sich sehr abwertend und respektlos über die Patientin - etwas, für das sie in der Realität schnell einmal ihren Job losgeworden wäre. Doch in der forensischen Psychiatrie, die der Autor sich hier zusammengeschustert hat, darf man scheinbar alles. Das Ganze geht soweit, dass die Kunsttherapeutin Alicia (in deren Abwesenheit) sogar "Miststück" nennt. Das schlimmste daran ist, dass gar nichts zwischen den beiden vorgefallen ist. Der einzige Beweggrund der Kunsttherapeutin so über ihre Patientin zu sprechen war scheinbar einfach die Annahme, dass Alicia (die selbst Künstlerin wäre) arrogant ist. Wer sich so (ab-)wertend über Patienten äussert, der hat meiner Meinung nach in einem therapeutischen Beruf nichts zu suchen. Aber hier wird das Verhalten scheinbar einfach so toleriert.
Ich könnte an dieser Stelle noch etliche weitere Beispiele nennen, aber ich denke, mein Hauptkritikpunkt ist klar geworden. Leider zieht das unprofessionelle Verhalten auch ausserhalb der Psychiatrie seine Kreise, und neben Faber gibt es einen weiteren Psychiater, der in der Vergangenheit mit Alicia in Kontakt gekommen ist und sie illegaler Weise privat behandelt hat, weil ihr mittlerweile verstorbener Ex-Mann das als Gefallen von seinem befreundeten Psychiater gefordert hatte. Zumindest wurde hierbei im Buch adressiert, dass dieses Vorgehen nicht legal ist, aber von ethisch korrekter Behandlung konnte hier sowieso keine Rede sein, denn der besagte Psychiater hat Alicia bloss vorgeschrieben, was sie zu tun und zu lassen hat und dabei seinen Beruf um Längen verfehlt.
Und wenn wir gerade bei Grenzüberschreitungen sind: Fabers Fehlverhalten bezieht sich nicht nur auf das Psychiatriesetting, denn neben der angeblichen Psychotherapie, die er mit Alicia macht, fängt er relativ rasch damit an, in ihrem Privatleben als Hobbydetektiv herumzuschnüffeln. Er kontaktiert nahezu jede Person in Alicias Umfeld, um mehr über sie zu erfahren. Und obwohl er damit mehreren Charakteren zu nahe tritt, scheint sich auch hier kein Mensch darüber zu wundern, weshalb ein Psychiater ohne Erlaubnis seiner Patientin Kontakt mit deren Umfeld aufnimmt und ungefragt in ihrem Privatleben herumstochert und dabei Fragen stellt, die weit über die eines Psychiaters hinausgehen.
Was zu allem Übel dazu kommt, ist ausserdem noch der Umstand, dass der Autor für das Buch schlecht recherchiert hat. Es wird ständig wie wild mit irgendwelchen Diagnosen umhergeworfen, da wird gefühlt jeder als "narzisstisch" oder "Narzisst" bezeichnet (ohne entsprechende Symptome dieser Persönlichkeitsstörung zu zeigen) und im weiteren Verlauf dann gleich noch verschiedene Diagnosen miteinander vermischt. An einer Stelle wird über Alicia gesagt, dass sie eine Boderline Persönlichkeitsstörung hat, deshalb psychotisch war und obendrauf wird ihr dann auch noch die besagte narzisstische Persönlichkeitsstörung aufgedrückt. Würde irgendein Hobby-Küchenpsychologe über Alicia so sprechen, dann könnte ich das ja noch nachvollziehen, dass man keine Ahnung von Diagnostik hat, aber hier wurde mir als Leserin weiss gemacht, dass die Diagnosen von waschechten Psychiatern stammen, die eigentlich wissen sollten, wovon sie reden.
Ja, wie man merkt, nagle ich das Buch sehr an psychologischen und psychiatrischen Umgereimtheiten fest, aber genau so erging es mir beim Lesen auch. Ich konnte mich gar nicht auf die eigentliche Geschichte einlassen, weil das Buch so viele (Logik-)Fehler enthielt. Das Ende konnte mich ein klein wenig versöhnlicher stimmen, weil der Autor die Auflösung immerhin so gestaltet hat, dass ein Charakter nicht ganz der ist, der er vorzugeben scheint, aber es war nicht so, als wäre ein grosses Aha-Erlebnis passiert, dass alles plötzlich Sinn ergeben hätte. Im Buch wirkt einfach zu vieles zu konstruiert und unglaubhaft, was für mich für ein Buch, das als "Psychothriller" verkauft wird, einfach ein No-Go ist.
Fazit:
"Die stumme Patientin" ist ein angeblicher Psychothriller, der leider eine ganze Masse an Ungereimtheiten aufweist und schlecht recherchiert wurde. Wer wissen will, wie es in einer (forensischen) Psychiatrie NICHT läuft und wie Psychiater und Psychotherapeuten NICHT arbeiten (sollten), der ist hier richtig. Alle die auf einen logischen oder spannenden Thriller hoffen, muss ich enttäuschen. Die Ereignisse wirken allesamt sehr konstruiert und unglaubhaft und dadurch einfach nur realitätsfremd - also alles Dinge, die ich in einem guten Thriller NICHT suche. Von mir gibt es für diesen Thriller, der mich aufgrund meines Berufes persönliches getriggert hat, 2 Sterne.