Wie tippt man eine Rezension zu diesem Buch?
"Ein wenig Leben" habe ich gemeinsam mit Daniela vom Blog Livricieux in einer Blogleserunde gelesen und diskutiert. Nachem sie das Buch vor einigen Tagen beendet und auch bereits die Rezension getippt hat, habe ich nun auch endlich die letzte Seite umgeblättert, obwohl ich mich wirklich durch dieses Buch gequält habe...
Und ich habe mir sooo viele verschiedene Anfänge für diese Rezension überlegt und immer wieder verworfen. Beispielsweise "Dieses Buch ist eine Verschwendung von schriftstellerischem Potenzial, von sprachlicher Finesse und einer fantastischen Plotidee..." oder "Mit mindestens 400 Seiten zu viel kommt 'Ein wenig Leben' daher und durch die vielen Längen wird fast alles an Inhalt und Spannung verwässert..." oder "Hanya Yanagihara schreibt über Freundschaft, Liebe, Schmerz, Verlust und Sex. Und vor allem Letzteres tut sie mit einer Prüderie und Fantasielosigkeit, die ihresgleichen sucht. Insbesondere der Sex zwischen zwei Männern besteht für Hanya Yanagihara scheinbar ausschliesslich aus der Penetration des einen durch den andern. Findet diese nicht statt, ist es keine gelebte Sexualität..." oder auch einfach "Dieses Buch hat mich fast 940 Seiten lang wütend gemacht und auf den letzten knapp zwanzig Seiten - zumindest teilweise - mit sich versöhnt."
Aber ganz von vorne:
Vier Freunde, Jude, JB, Willem und Malcolm, Freundschaft, Vertrauen und eine starke Gemeinschaft. Jeder von ihnen hat sein Päckchen zu tragen und immer wieder geben sie sich gegenseitig Halt. Während Willem, JB und Malcolm eine eher künstlerische Laufbahn anstreben, beschäftigt sich Jude mit einer Karriere als Anwalt. Und schnell wird klar, dass Jude von der Autorin ins Zentrum gestellt wird, sich selber sogar - aber eher unbewusst - immer wieder als Mittelpunkt der Gruppe zeigt. Er ist es nämlich, der krampfhaft ein Geheimnis um seine Kindheit und Jugend macht, er ist es, der nach einem rätselhaften "Unfall" hinkt, der manchmal vor Schmerzen nicht mehr gehen kann, der immer wieder auf Hilfe angewiesen ist und diese eigentlich gar nicht in Anspruch nehmen will und durch die Ignoranz gegenüber seiner eigenen gesundheitlichen Situation und den daraus resultierenden Problemen erst recht auffällt.
So weit, so gut. Bis hier macht das Sinn, bis hier ist das stimmig, bis hier ist für eine vielversprechende Ausgangslage gesorgt.
Und dann....:
... entwickelt sich alles anders. Was mit wundervoll recherchierten Berichten über die verschiedenen Berufsfelder und Kunstrichtungen der vier Freunde, mit eindringlichen Beschreibungen, spannenden Andeutungen und intensiven Emotionen zwischen dem Kleeblatt beginnt, entwickelt sich zu einer Farce.
Wie ihr sicher bereits erfahren habt, geht es in diesem Buch um viele menschliche Abgründe, um Missbrauch, Gewalt, um selbstverletzendes Verhalten und um Menschen, die andere Menschen wissentlich und voller Vergnügen quälen, physisch und psychisch. Und ebenfalls wisst ihr, dass es ausgerechnet Jude ist, der in seiner Vergangenheit unendliche Schmerzen erlitten hat und die Folgen davon immer noch täglich zu tragen hat.
Was er erleben musste, wird nach und nach detailliert geschildert und wo vorher so viele Emotionen waren und ein einfacher Zugang zu den Figuren, wird nun dieser Vergangenheitsstrang plötzlich mit einer kalten Nüchternheit abgehakt, als ginge es einfach nur darum, so viel Grauen wie möglich auf so wenige Seiten wie nötig zu verpacken. Warum? Wenn man sich als Autorin nicht wirklich mit diesen doch potenziell belastenden Inhalten auseinandersetzen will, dann soll man es lassen. Yanagihara hat sich aber eher für eine halbpatzige Verarbeitung der Themen entschieden. Nicht nur haben Judes Peiniger nämlich keine Konsequenzen für ihr Handeln zu erwarten, sondern es werden auch jegliche Instanzen, die eigentlich in einem Rechtsstaat zuständig sein müssten, wie Gerichte, Polizei, Behörden und vor allem auch Jugendpsychologen, ausgeblendet und somit gehen der Realitätsbezug und auch die Logik gänzlich verloren. Die Geschichte muss aber tragischerweise so unlogisch sein, weil die Autorin ihr Fantasiegeflecht sonst gar nicht erst hätte weiterspinnen können.
Ausserdem werden - und das hat mich besonders gestört - andere Menschen, die ebenfalls Leid, Schmerz und Verlust erfahren haben, zusätzlich verhöhnt, indem immer wieder angedeutet wird, dass nur jemand, der ALLES erlebt und die Hölle gesehen hat (wie Jude) auch wirklich leiden darf und soll.
Das Abdriften in eine Scheinwelt:
Und leider ist es damit noch nicht genug. Hanya Yanagihara baut mit jeder weiteren Entwicklung eine unrealistische und immer unrealistischere Scheinwelt auf, die dazu geführt hat, dass ich ihr gar nichts mehr glauben konnte. Alle vier Freunde machen grandiose Karrieren, werden unendlich reich und nur JB erlebt kleinere Rückschläge, die er aber problemlos überwindet und dann noch gestärkt daraus hervorgeht. Keiner von ihnen aber scheitert, keiner hadert, keiner macht - abgesehen vom Anfang - magere Zeiten durch. Wie kann das sein? Wie passt das zusammen?
Ausserdem wird Malcolm während ca. 500 Seiten komplett ignoriert, er kommt nicht einmal in der Nebenhandlung vor, und JB wird zum Idioten gestempelt, der immer wieder ins Fettnäpfchen tritt, Jude verärgert und scheinbar - abgesehen von seiner Karriere - gar nichts auf die Reihe kriegt. Aber auch er darf nicht wirklich mitspielen in diesem Drama.
Lediglich Willem schafft es, neben Jude erwähnt zu werden und obwohl die Protagonisten immer älter werden und Jude auch noch andere liebevolle Menschen, wie seinen Mentor Harold und dessen zauberhafte Frau Julia, kennenlernt, scheint Jude keinerlei persönliche Entwicklung mitzumachen. Wie kann ein Staranwalt, der für seine gnadenlose Konsequenz bekannt ist, seinem eigenen Schicksal gegenüber so blind sein und sich selber die Schuld am erlittenen Leid geben? Wie kann vor allem ein eigentlich herzlicher und einfühlsamer Mensch auf den Gefühlen seiner Mitmenschen herumtrampeln und die Menschen, die ihn am meisten lieben, verletzen, indem er sich permanent selber abwertet und quält? Ausserdem fehlt von Judes Seite her jegliche Selbstreflektion, was zusätzlich wütend macht.
Es wird lang und länger:
Wenn man eine Geschichte nicht glauben, nicht mehr mitfühlen, nicht mehr mitfiebern kann, dann sind 960 Seiten wirklich sehr, sehr viel. Tatsächlich passiert auf vielen Seiten nichts. Also wirklich nichts, keine Handlung, keine Dialoge, nur endlose Beschreibungen und trotzdem fällt auf: nach all diesen Seiten weiss ich immer noch nicht, wie die Figuren aussehen. Ich sehe sie nicht vor mir, kann sie mir nicht vorstellen. Sie bleiben flach und sie bleiben von einigen Lichtblicken abgesehen auch pubertär (vor allem Jude).
Dennoch wollte ich wissen, wie es weitergeht. Ich wollte erkennen, ob da nicht doch eine Botschaft, ein Sinn dahinterstecken. Ob ich fündig geworden bin? Das weiss ich selber noch nicht.
Harold:
Harold, Mentor, ein Sinnbild für Gerechtigkeit und Liebe, Familiensinn und Fürsorge, bekommt in "Ein wenig Leben" ein paar eigene Kapitel. Diese Kapitel sind mit das Schönste, was ich je in einem Buch gefunden habe. Sie brechen die Strukturen auf, sorgen für eine andere Erzählperspektive (direkte Rede), verarbeiten in einem Monolog einzelne Situationen und Gedanken und sind von einer magischen, zerbrechlichen Zärtlichkeit und Liebe geprägt. Diese Kapitel sind es, die mich gerettet haben, die mich mit der Geschichte und vielleicht auch ein wenig mit Jude versöhnt haben und die mich nach wirklich viel Wut und Ungläubigkeit über so viel verschwendetes Potenzial wieder beruhigt haben.
Warum man dieses Buch NICHT lesen sollte:
Ihr Lieben, dieses Buch hat mich (abgesehen von Harolds Kapiteln) nicht berührt. Dieses Buch hat mich nicht geschockt und keine Bauchschmerzen hervorgerufen. Eine Ausnahme gab es aber: das Auftauchen und vor allem einige Handlungen von Caleb (ich sage nicht mehr dazu), haben mich wirklich traurig gemacht.
Aber weil ich diesem Buch fast nichts geglaubt, der Autorin ihre Geschichte nicht abgenommen habe, bin ich kein Massstab, was Schock und Schmerz anbelangt. Ich bin mir sicher, dass jemand, der selber Missbrauchserfahrungen gemacht hat, psychisch labil ist und sehr schnell den Boden unter den Füssen verliert, dieses Buch wirklich NICHT lesen sollte.
Warum man dieses Buch DOCH lesen sollte:
Bitte lest dieses Buch, wenn ihr euch selber ein Bild machen und mitdiskutieren wollt. Lest dieses Buch, wenn ihr wissen wollt, wie Jude sich entwickelt (oder eben nicht entwickelt hat) und lest dieses Buch, wenn ihr mit vielen Längen im Erzählstrang umgehen könnt (aber ich habe euch gewarnt), ihr werdet mit einigen wundervollen Momenten belohnt, wenn ihr Geduld habt.
Und zum Schluss:
Leider hat Hanya Yanagihara mit "Ein wenig Leben" ein Buch geschrieben, das meiner Meinung nach aus den falschen Gründen bewegt. Viele Leserinnen und Leser empfinden die Schilderungen von Missbrauch und Gewalt, Judes persönliche Abgründe und sein selbstverletzendes Verhalten als bewegend, schockierend und fast unerträglich qualvoll. Dies liegt aber nicht am Erzählstil und dem gelungenen Handlungsaufbau, sondern lediglich am Inhalt. Gewalt und vor allem auch sexuelle Gewalt gehen halt immer, egal wie schlecht, nüchtern, billig und austauschbar diese "Effekte" erzählt werden (und das war leider in diesem Buch genau so der Fall). Ein Mensch, der sich selber die Schuld für sein Schicksal gibt und seine Mitmenschen damit egoistisch quält und verängstigt, das zieht beim Publikum. Es ist dabei wohl für viele ganz egal, dass der Handlungsaufbau komplett unlogisch ist, ganz egal, wie sehr sich die anderen - anfangs so beleuchteten - Figuren zu blossen Statisten entwickeln und ganz egal, dass die grandiose Recherchearbeit der Autorin durch blosse Längen und Wiederholungen überdeckt und zunichte gemacht wird.
Das hat mich unendlich wütend gemacht. Ich habe nämlich sehr viel Potenzial gesehen, die Plotidee hat mich überzeugt, manchmal gab es sprachlich magische Momente, ab und an wollte ich Willem und sogar Jude einfach nur umarmen und mit ihnen ein Glas Wein trinken und Harolds Worte, die haben mich tatsächlich bewegt. Das alles hätte meiner Meinung nach viel eher für Aufschreie, Diskussionen, Lob und auch Kritik sorgen sollen.