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Veröffentlicht am 13.08.2019

Ein Oskar für die Deutschen

Die Blechtrommel
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„Die Blechtrommel“ gehört nicht zu den Romanen, die ich in der Schule lesen musste. Zum Glück – denn die sprachliche Gewalt und der fantasievolle Ausdruck wäre an mich als Teenager verschwendet gewesen. ...

„Die Blechtrommel“ gehört nicht zu den Romanen, die ich in der Schule lesen musste. Zum Glück – denn die sprachliche Gewalt und der fantasievolle Ausdruck wäre an mich als Teenager verschwendet gewesen. Auch die Vielschichtigkeit Oskar Matzeraths in seiner selbstgewählten Zwergen- und Narrenrolle hätte mir wohl erst in quälenden Deutschstunden vorgekaut werden müssen. Nun aber – ganz freiwillig in die Lektüre gestürzt – konnte ich diesen so deutschen Roman genießen.

Der Interpretationen gibt es viele- ich füge dem Kanon darum nichts hinzu, wohl aber den Lobreden auf die „Blechtrommel“ ein paar Zeilen: Günter Grass‘ Meisterwerk ist 1959 erstmals erschienen und hat bei den Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs Furore gemacht: nicht zu knapp Lob und Tadel. Die Qualität des Romans zeigt sich heute, denn auch 74 Jahre nach Kriegsende und Vertreibung erschüttert „Die Blechtrommel“ den Leser ins Mark. Die Nazis und ihre Verbrechen werden nicht dämonisiert oder verzerrt – verzerrt ist ja schon der erzählende „Krüppel“ -, sondern in beiläufiger Weise erzählerisch belebt. Das ermöglicht eine teilnehmende Lektüre, die selbst den Nachgeborenen gelingt.

Oskar ist nicht sympathisch. Im Gegenteil – ich mag ihn nicht. Er ist wahnsinnig egoistisch, launisch und ungezogen- Diese kindlichen Eigenschaften befähigen ihn aber erst zum direkten Blick auf die Wahrheit: „Narrenmund tut Wahrheit kund“. Und diese Wahrheiten betreffen die politischen Kataklys4men der Zeit genauso wie die vielen privaten und familiären Katstrophen in Oskars unmittelbarem Umfeld. Hinzu kommt die fast magische Fähigkeit der Trommel, auch zeitlich ferne Situationen wahrhaftig heraufzubeschwören, so dass Grass seinen Erzähler ein komplettes Bild wiederzugeben erlaubt.

Mir hat das ausgesprochen gut gefallen, auch wenn das dritte Buch – das Leben in Düsseldorf nach dem Krieg – abfällt. Volker Schlöndorffs Entscheidung, seinen Oskar-prämierten (haha!) Kinofilm auf die beiden ersten Bücher zu beschränken, funktioniert wahrscheinlich deshalb (ich habe ihn nicht gesehen, weil immer erst das Buch lesen wollte).

Kurzum: Es lohnt sich, diesen deutschen Nachkriegsroman zu lesen – wegen der Sprache, wegen der Erzählkunst und wegen der Geschichte.

Autor: Günter Grass

Veröffentlicht am 11.05.2019

Vernünftig sein ist wie tot sein, nur früher

Dschungel
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Auf Seite 37 beginnt auf dem Grundschulhof die „Jugendstrafe“ des Erzählers - lebenslänglich: Er lernt Felix kennen, den extrovertierten, übergriffigen Sonnenschein von einem Draufgänger, in dessen bann ...

Auf Seite 37 beginnt auf dem Grundschulhof die „Jugendstrafe“ des Erzählers - lebenslänglich: Er lernt Felix kennen, den extrovertierten, übergriffigen Sonnenschein von einem Draufgänger, in dessen bann und Schatten er stehen wird – bis zur letzten Seite. Felix ist sogar dann noch da, wenn er nicht mehr da ist, sondern in Kambodscha verloren gegangen ist.

Der Erzähler begibt sich auf die Suche nach Felix, der dem Rest der Welt im Backpackermilieu im kambodschanischen Dschungel abhanden gekommen ist, angetrieben von Felix‘ Mutter, um Rückkehr gebeten von seiner Freundin Lea. Rückblenden in die gemeinsame Kindheit und Jugend des Erzählers und Felix‘ verschränken sich mit der Erzählung der Suche, bei der der Erzähler die dünne Spur seines übermächtigen Freundes aufnimmt und sich durch die Hippiekommunen, die blutige Geschichte der Khmer und den Mainstream der weitgereisten Rucksacktouristen wurschtelt.

Schnell ist klar: Der Erzähler hat ein Selbstwertproblem neben Felix: „Wer war dieser Typ? Und wer konnte man an seiner Seite noch sein?“ der Erzähler hat immer alles mitgemacht, war wie ein kleiner Bruder des großen Meinungsmachers, war in dessen Familie und deren Schicksale involviert. Obwohl der Erzähler ein überlegter, nachdenklicher Mensch ist, fasziniert ihn der andere, der Sätze wie diesen prägt: „Vernünftig sein ist wie tot sein, nur früher.“ (S. 290) Felix hat dem Erzähler nie gut getan, wie die vernünftige Lea immer wieder analysiert, aber lösen kann er sich von ihm nicht. Oder doch – jetzt im Dschungel? Auf einer Reise zu Felix, die auch eine Reise ins Ich ist?

Reisen als solches nimmt einen großen Raum ein – Karig wird nicht umsonst auch als Reiseschriftsteller bezeichnet. Dabei ist er ein Kritiker der Sehnsucht, seine Reise an unberührte Orte machen zu wollen, an denen es keine Touristen gibt. Der systemische Fehler dieser Sehnsucht ist ja: Selbst wenn man diesen Ort findet, ist es kein Platz an dem kein Tourist ist, denn den bringt man mit sich selbst ja mit. In starken Passagen des Romans nimmt Karig durch den Erzähler eine Außensicht auf den „alternativen Tourismus“ ein und beschreibt, was an ihm alles falsch läuft; angefangen damit, dass die naturliebenden Aussteiger zunächst mit kerosinschleudern in ihr Paradies geflogen sind und dort mit ihrem Geld, den westlichen Bedürfnissen und einer „Bulimie des Reisens“ (S. 261) die Verhältnisse auf den Kopf stellen: „Wir sind wieder zu Jägern und Sammlern geworden. Aber nicht um zu überleben, sondern um zu erleben.“ (S- 124) Die Reise kann die Leere der Reisenden nicht füllen bzw. das mit Wohlstandsmüll und kaputter Kindheit vollgestopfte Ich nicht retten.

„Dschungel“ hat an manchen Stellen eine solche Geschwindigkeit, dass man beim Lesen durchrauscht. Bisweilen hat mich die Lektüre von Mutproben auf Klippen und über sprudelnden Stauwehren in echte Höhenangst versetzt – das ist eine bemerkenswerte Erzählkunst, die sich im Roman gleichzeitig der Selbstrettung innerhalb unserer schrägen, globalisierten Welt und den scheinbar behüteten Sicherheitszonen widmet, an denen wir uns in Deutschland wähnen. Felix ist das Ultima Thule des Erzählers, der Weg dahin ein Trip an den Rand des Abgrunds.

Die Schlussfolgerung, die Karig am Ende zieht, wenn das Buch seine Handlung abschließt, gefällt mir allerdings nicht. Sie deutet sich früh an, doch laufen dei9 Handlung und ihre Interpretationsmöglichkeiten nicht zwangsläufig auf dieses Ende zu. Bis dahin aber: gelungen.

Gute Reise in den Dschungel!

Veröffentlicht am 10.05.2019

Charlotte ist meine Lieblingsheldin jenseits der 80!

Kalt ist der Abendhauch
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Charlotte Schwab erlebt einen zweiten Frühling – mit 82 Jahren. Vielleicht ist es auch eher ein dritter oder vierter Frühling, aber die Aussicht, ihrem 88-jährigen Schwager Hugo wieder zu begegnen, der ...

Charlotte Schwab erlebt einen zweiten Frühling – mit 82 Jahren. Vielleicht ist es auch eher ein dritter oder vierter Frühling, aber die Aussicht, ihrem 88-jährigen Schwager Hugo wieder zu begegnen, der gleichzeitig die Liebe ihres Lebens war, versetzt den Rhythmus ihres Lebens, das sie behaglich mit der Schaufensterpuppe Hulda teilt, in erhebliche Schwingung. Enkel Felix lässt seine Kumpel zum Renovieren antanzen, seine Freundin geht mit Charlotte einkaufen und die alte Dame hat Anlass für aufregende Gedanken über die Vergangenheit.

Es ist erstaunlich, wie heiter und oft auch lustig das Leben der alten Dame wirkt, was vor allem an der bewundernswerten Selbstironie liegt, die Autorin Ingrid Noll ihrer Figur eingibt. Kein Zipperlein wird ausgelassen – erst recht nicht, wenn Schwager Hugo auftritt, der um einiges hinfälliger ist.

Noch erstaunlicher aber ist, wie es Noll gelingt, in Charlottes Erinnerungen die Vergangenheit der Familie wieder auferstehen und lebendig werden zu lassen. Die Befindlichkeiten, Eitelkeiten und Verletzungen innerhalb der Familie brechen wieder auf und geben ein bewegtes Bild, das den Leser nicht kalt lässt und oft auch erheitert. Charlotte ist Jahrgang 1911 – und das bedeutet, dass sie dramatische deutsche Jahre wieder auferstehen lässt.

Noch einer ersteht wieder auf, nämlich Charlottes vermeintlich in Russland gebliebener Gatte Bernhard, dessen Ableben sie mit Hugo auch auf ganz andere Weise innig verbindet.

Zugegeben – wenn Bernhard das Licht der Welt erneut erblickt, verflachen teile des Romans zur Klamotte, aber dennoch bleibt die Komposition so liebenswert, ironisch, schwarzhumorig und lustig, dass man sie sich problemlos auch auf der Bühne vorstellen kann. Charlotte ist jedenfalls meine Lieblingsheldin jenseits der 80!

Veröffentlicht am 13.02.2019

Die Mauer im Kopf muss weg

Die Mauer
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Joseph „Yeti“ Kavanagh muss seinen Wehrdienst auf der Mauer ableisten: Zwei Jahre wird er in der Kälte oben auf der Mauer stehen, die Großbritannien rundum an allen Küsten umgibt, um das Land vor „den ...

Joseph „Yeti“ Kavanagh muss seinen Wehrdienst auf der Mauer ableisten: Zwei Jahre wird er in der Kälte oben auf der Mauer stehen, die Großbritannien rundum an allen Küsten umgibt, um das Land vor „den Anderen“ zu schützen, die von außerhalb eindringen wollen. Großbritannien (das erstmals auf S. 176 benannt wird) ist zu einer Festung geworden, weil – wie man nach und nach erfährt – die Meeresspiegel angestiegen sind, das Klima sich abgekühlt hat und der Wohlstand auf der Welt noch ungleicher verteilt ist. Der Roman begleitet Kavanagh von der ersten Stunde seines Mauerdienstes in die Kälte, die Nacht und die Gesellschaft seiner neuen Familie. „Obwohl die Mauer absolut senkrecht ist, bekommst du, wenn du direkt darunterstehst, das Gefühl, als würde sie überhängen. Als könnte sie auf dich herabfallen. Als lehnte sie sich gegen dich.“ (S. 11) Mehr als die Hälfte des Romans spielt auf der Mauer, innerhalb der Mauer. Dann muss Kavanagh in die Welt, übers Meer und erlebt mit seiner Gefährtin Hifa die Welt draußen.

Ist das ein „aktueller“ Roman, bei dem es um Klimawandel und Brexit geht? Irgendwie auch, aber dem Autoren John Lanchester ist es nicht um einen politischen oder plakativen Schlüsselroman getan. Lanchester begibt sich in Kavanaghs Inneres und teilt mit dem Leser die Gedanken und Gefühle des jungen Mannes, der ein typischer Vertreter seiner Generation der nach dem Wandel geborenen ist: intelligent, aber antriebsschwach, ziellos und voller Vorwürfe gegenüber der Elterngeneration, die den Heutigen das ganze erst eingebrockt haben: „Die Alten haben das Gefühl, die Welt vor die Wand [sic!] gefahren und es dann zugelassen zu haben, dass wir in die hineingeboren wurden. Und was soll ich dir sagen? Genauso ist es.“ (S. 72)

Der Einstieg in den Roman ist nichts als „betonhimmelwasserwind“. In Gedichten, Empfindungen, Satzkunst widmet sich jede Zeile dem Horizont des Protagonisten – und der ist begrenzt. Begrenzt durch die Mauer und alles, was sie umschließt. Hier ist der Roman grandios und trägt nur Stein für Stein die Barriere ab, die den Blick auf die geänderten Umstände in Großbritannien ab. Was hinter der Mauer ist, erfahren wir nicht: Kavanagh kann es nicht sehen, also sehen wir es auch nicht.

Kavanaghs Seele ist aufgewühlt und hin und hergeworfen durch alle bekannten Probleme der Selbstfindung am Ende der Jugend und darüber hinaus beschwert durch eine Gegenwarts- und Politikverdrossenheit sowie eine Verachtung und heimliche Bewunderung für die herrschende Klasse. Bleiern liegt über ihm eine Entschlusslosigkeit, die sich aus der Perspektivlosigkeit seines Lebens ergibt, denn die Perspektive lautet „betonhimmelwasserwind“.

Als Kavanagh die Mauer hinter sich gelassen hat, ist er immerhin den beton los. Indem die Mauer gesprengt wird, entledigt sich Kavanghs de Mauer, und es bleiben Himmel, Wasser, Wind. Und diese Aufzählung klingt nicht zufällig deutlich positiver. Kavanagh ist nun endlich "entgrenzt": „Wenn ich ein Anderer war und sie Andere waren, dann war vielleicht keiner von uns ein Anderer, sondern wir waren stattdessen einfach nur ein neues Wir.“ (S. 257)

Lanchesters „Die Mauer“ ist ein eigentlich zeitloser Roman über das sich Einmauern, die selbstgewählte Beschränktheit, die Mauer im Kopf.

Veröffentlicht am 29.01.2019

Houellebecq lässt auf Japanisch grüßen

Die zehn Lieben des Nishino
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„Nishino ist der perfekte Liebhaber, der die geheimen Wünsche jeder Frau errät“, stimmt der Klappentext auf das Porträt dieses modernen japanischen Don Juans ein, der dennoch ohne erfüllte Liebe leben ...

„Nishino ist der perfekte Liebhaber, der die geheimen Wünsche jeder Frau errät“, stimmt der Klappentext auf das Porträt dieses modernen japanischen Don Juans ein, der dennoch ohne erfüllte Liebe leben muss. Warum? Hiromi Kawakami lässt zehn Liebhaberinnen Nishinos zu Wort kommen. Sie alle berichten über ihre Tage, Monate oder Jahre mit Yukihiko Nishino. Mich hat frappiert, wie geschickt Kawakami durch dieses Erzählmodell ihren Protagonisten umkreist, ihn von zehn Seiten betrachtet, durchleuchtet, interpretiert und dabei dem Kern dennoch nur nahe kommt. Die Wahrheit ist eine Idee, der man zustreben kann, man kann aber die Position der Wahrheit nie einnehmen. Man kann auch einen anderen Menschen niemals völlig verstehen, solange man nicht er selbst wird.

Zehn Episoden aus dem Lieben Nishinos enthüllen Stück für Stück ein traurige Geschichte, nämlich die eine Mannes, der aus Angst davor, dass die Liebe nicht ewig währt oder Veränderungen erfahren könnte, sich lieber gar nicht auf die Liebe einlässt. Nishino erfüllt seine Prophezeiung damit selbst, da er auch nach der zehnten Liebesgeschichte nicht in der Lage gewesen ist, sich der Liebe völlig hinzugeben. Liebe heißt loslassen, aber Nishino muss sie entweder verkrampft festhalten oder sie ängstlich zurückweisen. „Nishino verströmte stets eine gewisse Kälte.“ (S. 101) Seine Gier nach Liebe scheint auch daher zu rühren, dass er nicht lieben kann - oder nicht dem Bild dessen entsprechen kann, was er für die Idee der Liebe hält. Er vermittelt seine mangelnde Bereitschaft sich aufzugeben, obgleich er andererseits einfühlsam erscheint, hingebungsvoll und stets sehr höflich. „Wovor hatte er sich gefürchtet? Und warum hatte ich mich davor gefürchtet, ihn zu lieben?“ (S. 133)

Die Berichte der zehn Frauen folgen einander nicht chronologisch, die letzte Frau ist die vorletzte Geschichte. Gerade in ihr wird deutlich, wie wenig sich Nishino in seinem Leben entwickelt hat, wie sehr er im Probierstadium der ersten Liebe stecken geblieben ist, ahnungslos, was bei ihm schief gegangen ist. Mitunter schwebt der Vergleich mit Houellebecqs Geschichten vorbei.

Warum wirkt Nishino so widersprüchlich? Mir scheint, dass Kawakami in ihrem Bändchen eigentlich von mehr als einem Mann erzählt, nämlich eigentlich von vielen japanischen Männern, oder womöglich vom postmodernen japanischen „Jungen“ schlechthin, der sich nichtmehr festlegen will, dem das Verhältnis zu zwischen menschlichen Gefühlen abhanden gekommen ist und der mit dem Korsett der strengen japanischen Gesellschaft hadert. Letztlich entspricht diese traurige Analyse der melancholischen Erzählweise Kawakamis, die knapp und präzise ist, behutsam und zart - aber auch distanziert, kühl und zurückhaltend. Viele Szenen wirken zudem „japanisch“, indem sie uns fremde Gebräuche, Handlungsweisen, Bewertungsschemata und - hier besonders auffällig - kulinarische Fremdheiten vermitteln.

„Die zehn Lieben des Nishino“ ist ein brillant erzähltes Kaleidoskop über die Liebe, den falschen Zeitpunkt und die schwierige Suche nach dem Liebesglück.

(4,5 von 5 Punkten)