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Veröffentlicht am 23.02.2020

Ach du Scheck!

Schecks Kanon
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Denis Scheck ist ein Literaturkritiker, der uns Laien zum gefallen die Sache gern auf den Punkt bringt, krachledern, kräftig und komisch. Ich habe Tränen gelacht, als er im Deutschlandfunk ein Werk von ...

Denis Scheck ist ein Literaturkritiker, der uns Laien zum gefallen die Sache gern auf den Punkt bringt, krachledern, kräftig und komisch. Ich habe Tränen gelacht, als er im Deutschlandfunk ein Werk von Jussi Adler Olson mit dem Vergleich niedermacht, es zu lesen sei so nervenzerfetzend „wie ein Weltmeisterschaftsfinale im Pfahlsitzen“. Gleichzeitig spart er auch nicht an Lob, wenn ein Werk gelungen ist, und empfiehlt immer wieder gute Bücher zu späten Stunde. Wenn er den Sledge Hammer macht – „Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue“ –, dann hat er wieder meinungsstark eine Leseempfehlung ins Rampenlicht gerückt.

Nichts weniger erwartete ich also von seinem, von „Schecks Kanon“: Sledge Hammers ultimative Liste der zu lesenden Bücher, abgeliefert von einem, der uns Laien versteht. Aber diese Liste kommt nicht, weil sich in Denis Scheck zwei Literaturmenschen verbergen: Der pfiffige Lausejunge, der saftige, umstürzlerische, direkt in den Bauch gehende Bücher liebt und uns Dagobert Duck, die Peanuts oder Karlsson vom Dach empfiehlt. Und andererseits der ruhmsüchtige Intellektuelle, der sein Können auch nicht gewonnen, sondern hart erarbeitet hat, weshalb er gern auf seinen überlegenen Intellekt hinweist. Das sind dann die anderen Werke, die Versepen etwa oder „Zettels Traum“.

Scheck geht bei fast allen ausgewählten Werken nach gleichem Schema vor: Er leitet seine Werkvorstellung mit einem allgemeinen Vergleich ein, der sowohl (autbiographisch als auch historisch-kontextuell oder literarisch-intertextuell gestaltet ist. Hier brilliert Scheck meistens (Ausnahmen s.u.). Dann zitiert er aus den Werken, zum Teil überraschend weite Passagen, und verfehlt leider häufig das Ziel, einen Einblick und ein Gefühl für Wirkung und Gestalt des Werkes zu geben. Eine Darlegung der Bedeutung des Werkes für seine Zeit und für uns Heutige darf nicht fehlen, eine Einordnung in die Literaturgeschichte folgt nicht immer, bisweilen muss auch eine subjektives Zeugnis Schecks ausreichen.

Die Auswahl ist – das sagt er einleitend – von vorn herein kritikabel, weshalb es wohlfeil ist, sich darüber zu sehr aufzuregen. Viele Hinweise auf einzelne Werke habe ich als erhellend und Leseempfehlung begriffen, der ich zu folgen beabsichtige. „Zettels Traum“ wird nicht dazu gehören.

Noch habe ich die durchschnittliche Seitenzahl der von Scheck kanonisch eingestuften Werke nicht ermittelt, aber es stellt sich der überschlägige Verdacht ein, dass ein Buch umso höhere Chancen hat, Weltliteratur zu sein, wenn es mehr als 600 Seiten umfängt. Mich beschleicht hier – und angesichts der oft klaffenden Diskrepanz zwischen Kritikerlob und Markterfolg – manchmal der Verdacht, dass sich eine Lektüreelite abgrenzt und definiert, indem sie besonders schwere Texte und besonders umfangreiche Bücher bespricht.

Die Mischung aus beidem – Comic und Proust – ist einerseits typisch Scheck, anderseits unwuchtig. Hinzu kommt, das Schecks Sprache im Fernsehen gewiss gut funktioniert, geschrieben aber mitunter arg flapsig wirkt. Die sich wiederholenden Wendungen ermüden ebenfalls, weshalb es womöglich sinnvoll ist, die Lektüre des Kanons auf hundert Tage zu verteilen, statt ihn am Stück zu lesen.

Was noch aufstößt, ist Schecks wiederkehrende Geilheit auf Sex, homosexuelle Chiffren und andere inszenierte Tabubrüche. Wie oft in Schecks Kurztexten gevögelt wird, korrespondiert anmutig mit der Zahl ausgewählter Werke, in denen „gevögelt“ wird. Ist das ein Kriterium für Weltliteratur oder doch ein Kennzeichen des Ausbruchs aus der schwäbischen Provinz?

Mich irritierte der wiederholt falsche Gebrauch des Apostrophs (meist durch seine Auslassung) sowie die mehrfach abgedruckten Bücherstapel aus der Reihe ansonsten gelungener Illustrationen. Auch die Schwäche der Einleitung, die wie aus zwei Teilen nachträglich zusammengezimmert wirkt und deshalb eine argumentative Stringenz vermissen lässt, hat mich verwundert.

Aber: Nur weil Scheck in monatlichen Dosen („Druckfrisch“) bekömmlicher ist, ist sein Kanon nicht überflüssig. Denn Scheck weiß stets zu unterhalten und hat ja ein Herz für Trash, weshalb ich ihm seine fortwährende Reklame für Zettels Traum nicht nachtrage (wie käme ich auch dazu!).

Veröffentlicht am 04.01.2020

Der Cyborg, der Mensch und die Bürokratie

Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten
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Haben Roboter oder „Recheneinheiten“ Seelen? Können sie träumen? Haben sie Gefühle? Emma Braslavski stellt in ihrem Roman diese bekannten Fragen neu, denn die Antworten darauf sind freilich selbst Fragen: ...

Haben Roboter oder „Recheneinheiten“ Seelen? Können sie träumen? Haben sie Gefühle? Emma Braslavski stellt in ihrem Roman diese bekannten Fragen neu, denn die Antworten darauf sind freilich selbst Fragen: Haben den Menschen Seelen, Träume, Gefühle?

Roberta kommt auf alle diese Probleme, denn sie ist eine neuartige Recheneinheit der Berliner Polizei. Andere ihresgleichen („Hubots“) ersetzen in der Mitte des 21. Jahrhunderts den Menschen den Wunschpartner, sind geprägt auf Individuen, die es leid sind, den passenden Menschen zu suchen, und sich stattdessen einen Roboter kreieren lassen, der allen Wünschen entspricht. Roberta aber ist anders: Sie soll die hoffnungslos überforderte Polizei bei den Ermittlungen unterstützen, weshalb sie selbstlernende Programme besitzt, ein unscheinbares Äußeres und keine Prägung auf einen Menschen. Eingesetzt wird sie im am heftigsten beanspruchten Dezernat, das nämlich für die grassierenden Suizide in Berlin zuständig ist. Jeden Tag bringen sich zig Menschen in der Hauptstadt um – eigenartig, wo doch keiner mehr allein zu sein scheint?

Robertas erster Fall ist Lennards Selbstmord. Den soll sie aufklären, damit das Land Berlin nicht auf den Bestattungskosten sitzen bleibt. So viele Selbstmörder reißen nämlich ein großes Loch in die Stadtkasse. Roberta verfolgt nun drei Strategien: Erstens will sie besser werden und die Menschen verstehen. Erschreckend, was sie da alles lernt. Zweitens will sie Lennards Selbstmord aufklären und seine Persönlichkeit und Motive erfahren. Noch erschreckender, wie tief sie in Lennards Person eintaucht – klar, dass hier die Seelensuche und die Frage, was einen Menschen ausmacht, verhandelt wird. Drittens schließlich will Roberta den fall so kostengünstig abschließen, dass das Land Berlin keine Aufwände mit der Beerdigung hat.

Alle drei Teile gehen einem im Laufe des Romans erheblich auf die Nerven. Insbesondere der Wettlauf der immer zombiehafter wirkenden Roberta mit den Geistern der Bürokratie enerviert erheblich. In Wahrheit ließe sich die Handlung des zweiten Romanteils nämlich auf den Behördenparcours reduzieren. Das war schon in „Asterix erobert Rom“, als das gallische Doppel-As den Passierschein 38 bei einer „Formalität verwaltungstechnischer Art“ beschaffen sollte, ab der dritten Bürotür nicht mehr so lustig. Robertas Kampf mit den Vorschriften ermüdet, zumal mich der Gedanke beschlich, dass hier nicht Wirklichkeit überhöht, sondern womöglich nur wirklichkeitsnah abgebildet wird … Ganz klar ist jedoch – und das hätte dem Superrechenhirn Robertas klar sein müssen –, dass ihre gesamte Taktik vor allem Transaktionskosten produziert, also unter dem Strich teurer wird als eine fachgerechte schnelle Verklappung von Lennards Leiche auf Staatskosten. Die Handlungsmotivation der zweiten Hälfte ist dürftig und freudlos.

In dieser zweiten Hälfte schrumpft auch Robertas Vorgesetzte Cleo zur Randfigur und reiht sich anscheinend willenlos in Madame Robertas Gruselkabinett der Nebenfiguren ein. Warum? Am Anfang war sei so taff, am Ende ist sie Erfüllungsgehilfin der Androidin.

Robertas Metamorphose auf der Suche nach sich selbst ist plausibel, bisweilen erschreckend, aber auf Dauer anstrengend. Die Autorin changiert ständig zwischen anthropologischen Menschenbeobachtungen, die satirisch den Spiegel zücken, um ihn uns Menschen vorzuhalten, und Robertas groteskem und unsanktioniertem Verhalten, das auch innerhalb des von Braslavski geschaffenen Romanregelsystems nicht funktioniert. Roberta mutiert immer mehr zu einem trashigen Zombie mit Lippenstift, dessen Aktionismus nervt und dessen analytischen Festlegungen fragwürdig sind.

In der ersten Romanhälfte hingegen stellen sich Roberta, Cleo und Lennard den Eingangsfragen zum Menschsein. Das ist oft scharfsinnig und gibt Denkanstöße. Die Antworten dieses Romans sind nicht neu, aber es macht Spaß zu lesen, in welches satirische Umfeld die Autorin sie verlegt und wie daraus eine Berlin-Groteske entsteht, die man durchaus auch als Kritik am seelenlosen urbanen Hauptstadt-Mainstream lesen kann. Ab der Mitte des Buches wird aus Robertas Sicht erzählt, was den Brechungsgrad der Geschichte erhöhen soll, aber meistens entweder zu seicht oder zu trashig wirkt.

Besonders sind die kursiv gesetzten Texte aus Lennards Feder, dessen künstlerisches Selbst verletzlich und fantasievoll daliegt wie ein natürliches Opfer einer gesellschaftlichen Ansicht, dass kommerzieller Erfolg als einziges Kriterium für ein erfolgreiches Leben genügt. Lennard ist kein Loser, er ist nur in dieser Gesellschaft ein Verlierer. Ob sie in diesen Roman passen, sei dahingestellt. Sie sind ja auch durch die Kursivierung aus dem Roman herausgehoben. Ob sie zum Verständnis beitragen?

Der Roman ist aus einer Festivalidee und einem Drehbuch entstanden – und das ist womöglich auch der Grund, weshalb die eigentlich geniale Idee nicht über die ganze Distanz trägt, trotz der vielen kleinen und genialen Einfälle der Autorin: Eine gute Idee für ein dialogisches Hörspiel ist nicht zwingend auch eine gute Idee für einen ganzen Roman.

Dennoch: „Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten“ ist ungewöhnlich, gut geschrieben, witzig und ein Berlin-Roman der besonderen Art.

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Veröffentlicht am 11.11.2019

Drachen lassen’s krachen

Das Imperium aus Asche
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„Das Imperium aus Asche“ bleibt, wenn Menschen und Drachen um die Vorherrschaft über die Welt kämpfen. Anthony Ryans Abschlussband feuert aus allen Rohren und lässt es richtig krachen. Ich hatte große ...

„Das Imperium aus Asche“ bleibt, wenn Menschen und Drachen um die Vorherrschaft über die Welt kämpfen. Anthony Ryans Abschlussband feuert aus allen Rohren und lässt es richtig krachen. Ich hatte große Sorge, dass er diese Trilogie mit seinem letzten Streich in der Art vergeigen würde, wie ihm die Trilogie „Das Lied des Blutes“ entglitten ist; übrigens auch in einer großen, welterschütternden Schlacht. Hier aber - so viel vorweg - ist ihm ein ordentlicher Abschluss geglückt, der trotzdem seine Schwächen hat.

Über drei Bände erstreckt sich der Plan des Weißen Drachen, sich mit den von ihm unterjochten Drachenvölkern zum Herrscher der Welt aufzuschwingen. Zunächst sind bei der Lektüre auf die Beobachtungen dreier Point-of-View-Charaktere angewiesen, die Zeugen der erwachenden Drachenrevolte sind. Die Agentin Lizanne, der Seeoffizier Hilmore und der findige Gesetzlose Clay decken die Geheimnisse nach und nach auf und lassen auch die Ordnung der Welt durch ihre Augen erstehen. Ryan hat diese Welt fein konstruiert und diese Konstruktion als einen der beiden Handlungsmotoren der Trilogie fit gemacht: Zwei Großreiche streben nach der Vorherrschaft - ein feudaler Überwachungsstaat versus einen unmenschlichen Turbokapitalismus. Dieser Motor funktioniert mit dem Treibstoff der menschlichen Schwächen Gier, Machtlust, Heimtücke und Verrat. In den Kapiteln, in denen der Drache nicht das Sagen hat, bestimmen diese allzumenschlichen Triebe die Handlung und führen zum Zusammenbruch der Systeme. Das ist auch deshalb so charmant zu lesen, weil Ryan damit ein Wesensmerkmal guter Literatur gelingt, nämlich das Menschliche im anderen Kontext - hier der Fantasywelt - deutlicher werden zu lassen. Kapitalismuskritik an den Machthabern auf Drachisch lautet so: „Sie sind die wahre Monster. In ihrer Gier haben sie einen ganzen Kontinent zuschanden gerichtet […].“ (S. 54)

Der andere Motor der Geschichte ist der weiße Drache und sein bedingungsloses Streben nach Herrschaft. Im ersten Band schienen sich die Drachen nur zu wehren, immerhin ist ihr Blut der Stoff, mit dem die Steampunkwelt der Trilogie angetrieben wird, katalysiert und in Kraft verwandelt durch die „Blutgesegneten“. Im zweiten Band enthüllte der Weiße seine Pläne und unterjochte die Menschen nicht allein durch Drachenzähne, sondern vor allem dadurch, dass er sei in seelenlose Zomies verwandelt. Mittels eines Kristalls verwandelte er ihr Äußeres ins Echsische der „Verderbten“, ihr Inneres in einen borg-artigen Ameisenzustand, in dem alle von allen alles wissen und von Einzelnen - nicht zuletzt dem Weißen selbst - willenlos kommandiert werden können. Einblick in diesen Kollektivalptraum gewährt der vierte Point-of-View-Charakter Siron, der nicht irgendein „Verderbter“ ist, sondern zum taktischen Generalstab der Drachen gehört. Spätestens hier zerbrach die Vorstellung einer Allegorie der sich wehrenden ausgebeuteten Natur, die es Leid ist, zur Ressource der technisierten Welt degradiert zu werden. Es ist schade, dass Ryan diesem Motor eine Vorgeschichte gegeben hat, die sich vollständig im dritten Band als banal enthüllt. Nichtsdestotrotz funktioniert der Motor der Geschichte, indem der Turbo eingeschaltet wird und die Drachen in die Schlacht ziehen.

Wirkte zunächst der Drachenplot komplexer, ist es am Ende doch die menschliche Welt mit ihren widerstreitenden Interessen, die im Abschlussband noch eine komplexere Erzählung gewährleistet.

Die Stärke der Trilogie und erst recht des dritten Bandes liegt in der rasanten Erzählung, der actioneichen Handlung und den farbeneichen Schilderungen der Szenen. Auch die Grundkonstruktion der Trilogie ist brillant erdacht.

Die Schwäche liegt ebendort: in der Geschwindigkeit der Erzählung. Gerade der Abschlussband verzeichnet weitestgehend auf Figurenzeichnungen zugunsten handlungsgetriebener Action. Ganz in Blockbustermanier werden die einmal eingeführten Helden der Geschichte nicht weiterentwickelt, sondern verharren gleichsam auf ihren Gefechtspositionen. Hatte man mehr erwartet, schleicht sich leichte Enttäuschung ob der vertanen literarischen Chancen ein. Die Perspektive verschiebt sich vom Kampf „Mann gegen Drache“ auf die Schlacht „riesige Menschenheere gegen wahnwitzige Drachenscharen und Zombieheere“. Dass hierbei auch die Waffen immer mehr Distanz gewinnen - bis hin zum Bombenabwurf - entzieht dem Kampf die direkte Attraktivität und abstrahiert zum mechanisierten Töten. Die Zentren der Erzählung ballen sich um Lizanne aufseiten des Widerstandes und um Siron aufseiten des Drachenheeres und sind spannend. Clays und Hilmores Mission verfolgt die heikle Aufgabe, zum Kern der Geheimnisse vorzustoßen (ist das am Ende nur eine Waffe?).

„Das Imperium aus Asche“ ist meines Erachtens ohne die Vorgängerbände unverständlich, die auch deshalb unbedingt vorher gelesen werden müssen, weil Ryan darauf verzichtet, eingeführte Figuren weiterzuzeichnen, wenn sie ihren Platz gefunden haben.

Unter dem Strich ist die „Memoria Draconis“ eine gelungene, actionreiche Trilogie mit großem Potenzial und hohem Popcornkoeffizienten.

3,5 von 5 verbrannten Drachenschuppen.

Veröffentlicht am 10.09.2019

Ich kann tun, was ich will, und ich kann es selbst tun

Ein anderer Takt
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Was wäre, wenn eines Tages alle Schwarzen eines US-Bundesstaates ihre Koffer packen, einander an die Hand nehmen und aus Nimmerwiedersehen über die Grenze in den Rest der USA gingen? Diese Idee ist großartig, ...

Was wäre, wenn eines Tages alle Schwarzen eines US-Bundesstaates ihre Koffer packen, einander an die Hand nehmen und aus Nimmerwiedersehen über die Grenze in den Rest der USA gingen? Diese Idee ist großartig, sie ermöglicht ein analytisches Gedankenspiel, das ich so noch nicht gesehen habe: Nimm doch einmal die Schwarzen geografisch aus einem rassistischen Südstaat heraus und guck, was übrig bleibt. Dass der Anblick des Restes nicht schön sein würde, kann man sich vorher denken, dass aber die Weißen mit ihren rassistischen, antimodernen und vordemokratischen Gedankenkernen so kümmerlich wirken, ist die literarische Leistung dieses Romans.

Die erstaunliche Geschichte des Befreiungsschlags der Schwarzen beginnt mit einem unbeugsamen schwarzen Afrikaner, einem just in die Sklaverei geratenen Häuptling, der sich nicht unter das Joch der Baumwollfarmer des fiktiven Südstaates zwischen Alabama, Mississippi und Tennessee beugen ließ. Drei Generationen später pulsiert das „Blut des Afrikaners“ (S.39) noch immer stark in Tucker Caliban, Nachkomme des Afrikaners, dessen Familie seit der Ankunft in Amerika für dieselbe weiße Familie Willson arbeitet. Caliban? Kein Zufall - der Wilde aus Shakespeares „Sturm“ steht für das ungezügelt natürliche, für den Drang nach Freiheit, aber auch für die freiwillige Unterordnung unter die zivilisierende Kultur. Tucker entscheidet sich als Erster zum Aufbruch, und alle anderen im Land machen es ihm nach.

Tucker betreibt den Aufbruch von allen auch am bedingungslosesten, er zerstört wie Hernán Cortés seine Schiffe und verunmöglicht die Rückkehr: Er verbrennt sein Haus, tötet das Vieh und salzt die Felder, auf dass sie unfruchtbar würden. Keiner, der nach dem Wegzug der Schwarzen hierher kommt, soll von den Früchten seiner Arbeit profitieren.

„Wir werden sehr gut ohne sie zurecht kommen“, höhnen die Weißen auf der Veranda, als sie die Schwarzen ziehen sehen. Das darf getrost bezweifelt werden. Umgekehrt ist umso deutlicher: Die Schwarzen brauchen die Weißen nicht, erst recht nicht, um zu besseren Menschen zu werden, wie der „gute Weiße“ Dewey Willson III. es versucht. Im Gegenteil: „Die Tuckers werden aufstehen und sagen: Ich kann tun, was ich will, ich brauche nicht auf jemanden zu warten, der mir die Freiheit gibt – ich kann sie mir selbst nehmen. […] Ich kann tun, was ich will, und ich kann es selbst tun.“ (S. 198) Die Ablehnung gegenüber spirituellen Zauberkünstlern selbsternannter Befreiungskirchen spricht aus diesen Zeilen wie auch die Nähe zum Marxismus, die der schwarzen Befreiungsbewegung immer innewohnte: „Es kann die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter sein“, dichtet Bertolt Brecht im „Einheitsfrontlied“.

Es sind die klaren Gedanken hinter der Romanhandlung, die ihn so wertvoll und sein Wiederlesen zum Gewinn machen. Literarisch erscheint es mir kein großer Wurf zu sein, zahlreiche Weiße zu Wort kommen zu lassen, die ihre Erfahrungen mit Tucker Caliban und ihre Anschauung und Bewertung des großen Tages des Auszugs wiedergeben. Insbesondere Willsons Tagebuch taugt in Tonfall und Erzählweise nicht als Tagebuchtext.

William Melvin Kelley ist ein bemerkenswerter Beitrag zur Lösung der Rassenfrage gelungen, dessen Stärke im Gedanken, nicht in der Erzählung liegt. Und das könne auch nur wenige Romane auf ihren Buchdeckel schreiben.

Veröffentlicht am 13.08.2019

Wo ist der Golem?

Der Golem
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Was ich über den Golem wusste - von Rabbi Löw vor Jahrhunderten in Prag erschaffen -, hat mit Gustav Meyrinks Fortsetzungsroman „Der Golem“ nichts zu tun. Wer (wie ich) Paul Wegeners Stummfilm „Der Golem, ...

Was ich über den Golem wusste - von Rabbi Löw vor Jahrhunderten in Prag erschaffen -, hat mit Gustav Meyrinks Fortsetzungsroman „Der Golem“ nichts zu tun. Wer (wie ich) Paul Wegeners Stummfilm „Der Golem, wie er in die Welt kam“ von 1920 vor Augen hatte, geht hier völlig fehl. Zwar spielt sich das Geschehen im Prager Ghetto ab und es fehlt auch nicht an Referenzen an die Golem-Geschichte und kabbalistische Geschehnisse in den verwinkelten Gassen, aber das ist auch alles. Meyrink erzählt eine verwinkelte, oft Farben und Stimmungen wechselnde Traumgeschichte über die Suche nach dem Ich und Spiegelung des Selbst im Doppelgänger. „Impressionistisch“ wird der Roman auch genannt, weil Stimmung, Konturen und Sprache wichtiger sind als die logische Abfolge einer Handlung, der nicht der Verstand, sondern das Gefühl folgen soll.

Der Golem ist dabei nur eine Metapher und ein Handlungsantreiber - seine mystische Komponente ist ähnlich phantastisch wie die Traumkaskaden, die das Buch Ibbur auslösen oder die verwirrenden Ränke des Studenten Charousek gegen den Trödler Aaron Wasserturm. Streckenweise wird es sogar kriminalistisch, da ein Mord geschieht.

Die Erzählperspektive ist durch Träume und Rahmenhandlung(en) gebrochen und wirkt häufig wie durch ein farbiges Milchglas geschaut.

Meyrinks „Golem“ ist ein Leseabenteuer, wenn sich auch bisweilen alles wortreich auflöst, ohne mich mitzunehmen. Vor allem vermisste ich Rabbi Löw und den Golem.