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Veröffentlicht am 22.08.2019

Coming-of-Age Ende der 1970er - zwischen Liebesrausch und Blues

Blackbird
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In seinem Roman „Blackbird“ erzählt Matthias Brandt von einer Jugend am Ende der 1970er. Den Titel hat er einem Song der Beatles entlehnt, der ursprünglich auf Diskriminierung bezogen ist, hier aber auf ...


In seinem Roman „Blackbird“ erzählt Matthias Brandt von einer Jugend am Ende der 1970er. Den Titel hat er einem Song der Beatles entlehnt, der ursprünglich auf Diskriminierung bezogen ist, hier aber auf die Krankheit des besten Freunds des Protagonisten abzielt. Auf einer Bank abhängen, bisschen Alkohol trinken und rauchen, was auch immer, so stellt es sich der 15-jährige Morten Schumacher, kurz Motte gerufen, vor, wenn er mit seinem Klassenkameraden Bogi nach der Schule zusammen ist. Noch während er zu Hause mit der Scheidung seiner Eltern konfrontiert wird, erkrankt sein Freund so schwer, dass erstmal nicht an gemeinsame Freizeitgestaltung zu denken ist. Im Lied der Beatles heißt es „Take these broken wings and fly“, diese Liedzeile wird sich auf andere Weise verwirklichen als Motte und seine Freunde es sich für Bogi gewünscht hätten.

Motte hat in kurzer Zeit viel zu verarbeiten. Körperlich nimmt er neuerdings ganz neue Dinge an sich wahr, doch darüber redet er nicht mit seinen Freunden, das ist nicht üblich. Natürlich ist ihm bewusst, dass die Änderungen sich aus seiner Entwicklung zum Erwachsenen herleiten. Bis er eines Tages ein heftiges Interesse für ein gleichaltriges Mädchen entwickelt. Um sich ihr zu nähern, benötigt er Hilfe und wendet sich mit Erklärungen einen Freund, was ihm nicht leichtfällt, weil dabei seine Empfindungen offen gelegt werden.

Währenddessen wird er aus seiner sicheren Zuflucht daheim gerissen. Ein Wohnungswechsel steht an und vor allem fehlen ihm die Frotzeleien mit Bogi. Sein Leben steht auf dem Kopf. Er möchte Lachen, er möchte Weinen und glaubt nicht daran, dass sich dadurch etwas zum Guten ändert. Er wird in die Rolle des Zuschauers gedrängt und verhält sich unbeholfen und linkisch. Doch eigentlich möchte er festgehalten werden, möchte bestätigt werden, aber es gibt keinen mehr, dem er derzeit vertraut und der Zeit dafür hat. Matthias Brandt ist es sehr gut gelungen Mottes Zwiespalt einzufangen und mir als Leser zu vermitteln. Bittersüß ist das Jahr für den Protagonisten, dass der Autor hier beschreibt. Es ist der Sound der 1970er den er hier einfließen lässt und an den ich mich gern erinnerte.

„Blackbird“ ist ein Coming-of-Age-Roman, der zeigt, dass man auf dem Weg zum Erwachsenwerden gleichzeitig von Liebe berauscht und am Boden zerstört sein kann. Matthias Brandt findet dazu einen jugendlich schnodderigen Ton, der beim Blues um die Geschehnisse, der Erzählung eine heitere Note verleiht. In vielem erkennt man sich selbst als Jugendlicher wieder, die männlichen Leser hier vermutlich noch etwas mehr. Obwohl die Geschichte in den 1970er spielt, sind die ganz großen Gefühle zeitlos. Gerne gebe ich dem Roman eine Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 18.08.2019

Ein heiterer Roman, der auch nachdenklich stimmt

Es wird Zeit
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In ihrem Roman „Es wird Zeit“ schreibt Ildikó von Kürthy darüber, dass es immer wieder Herausforderungen gibt, die das Leben mit sich bringt. Das bedeutet oft, dass man Bekanntes, vielleicht sogar Gewünschtes ...

In ihrem Roman „Es wird Zeit“ schreibt Ildikó von Kürthy darüber, dass es immer wieder Herausforderungen gibt, die das Leben mit sich bringt. Das bedeutet oft, dass man Bekanntes, vielleicht sogar Gewünschtes oder aber bequem Eingespieltes hinter sich gelassen werden will und die Entscheidung für einen Neuanfänge zu treffen ist. Die Rosen auf dem Buchumschlag stehen mit ihrer stolzen Pracht für glückliche Zeiten, zeigen aber auch durch ihre Dornen die Schattenseiten und Gefahren.

Für Judith Rogge, die Protagonistin des Romans, hat das Leben sich schon in vielen Höhen und Tiefen gezeigt. Sie ist fast fünfzig Jahre alt, wohnt seit fast zwanzig Jahren in Wedel bei Hamburg, wo sie seit genauso langer Zeit mit einem Zahnarzt verheiratet ist und mit ihm drei Kinder hat. Als ihre Mutter unerwartet stirbt, fährt sie zur Abklärung der Formalitäten und der anschließenden Beerdigung in ihre Heimat nach Jülich. Wider Erwarten trifft sie dort auf ihre frühere beste Freundin Anne. Erinnerungen an die alten Zeiten werden wach, aber das Erschrecken ist groß, als Anne von ihrer lebensbedrohlichen Krankheit erzählt. Dabei war sie es doch, die im Gegensatz zu Judith den perfekten Beruf und den besten Ehemann gefunden hatte. Judith stellen sich im Vergleich zu ihr viele Fragen, die dazu führen, dass sie überlegt, ob ein Neubeginn für sie nützlich und möglich ist, so wie sie ihn damals schon mal für angebracht gehalten hat ...

Bereits auf den ersten Seiten konfrontiert Ildikó von Kürthy mich mit dem Glück und Leid ihrer Hauptfigur, die ihre Geschichte in der Ich-Form erzählt. Der Umstand, dass ihre Ehe keine Liebesheirat war und ihre Freundschaft zu Anne zerbrochen ist, machte mich neugierig darauf, was vor vielen Jahren geschehen sein mag, bevor Judith ihr Leben in Wedel begonnen hat. Doch erst nach und nach setzte sich das Bild zusammen.

Judith ist ein Mensch, der sich immer geliebt fühlte und auch gerne geliebt hat. Doch jetzt sind ihre Kinder flügge geworden und mit dem Tod ihrer Mutter ist sie Vollwaise und verliert dadurch ihren Halt für seelische Tiefpunkte. Nicht nur Judith erlebt auf den Seiten des Romans ein Wechselbad an Gefühlen, sondern auch ich als Leser. Die Autorin lässt Judith häufiger innehalten, um die Gedanken schweifen zu lassen und eine innere Diskussion über alltägliche Dinge des Lebens zu führen, die ich sehr gut nachvollziehen konnte.

Ildikó von Kürthy schreibt mit einem Augenzwinkern über manche Ereignisse. Hier und da überspitzt sie Situationen, die auf diese Weise die darin enthaltene Aussage nur noch mehr vor Augen führen. Gleichzeitig schafft die Autorin es, mir die tiefe Traurigkeit von Judith über den Tod der Mutter und die Krankheit ihrer Freundin zu vermitteln. Die Autorin ist etwa im gleichen Alter wie ihre Hauptfigur und weiß genau worüber sie schreibt, denn vieles hat sie so oder ähnlich selbst. Die Widmung auf den ersten Seiten des Buchs richtet sie an einen lieben Menschen in ihrem Leben, die Zuneigung zu ihr glaubte ich in den Zwischenzeilen der Erzählung zu spüren.

„Es wird Zeit“ ist ein Roman über Freundschaft, Heimat, Wohlbefinden, Glück, Lebensträume, aber auch Traurigkeit über verpasste Chancen und Verlust geliebter Menschen. Jeder Leser wird sich in der ein oder anderen Situation wiederfinden, so wie ich. Dadurch stimmt die Erzählung stellenweise nachdenklich, obwohl der Grundton heiter ist. Der Prolog setzte von Anfang an eine gewisse Spannung, ob der zu klärenden offenen Fragen in der Vergangenheit der Hauptfigur. Zur Klärung flogen die Seiten dahin und unterhielten mich aufs Beste. Gerne empfehle ich den Roman weiter.

Veröffentlicht am 16.08.2019

Eine Geschichte zwischen Mutlosigkeit und Optimismus

Die Tage mit Bumerang
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Im Roman „Die Tage mit Bumerang“ beschreibt Nina Sahm auf einfühlsame Weise wie ein Schaf namens Bumerang das Leben von Annu, der Protagonistin der Geschichte, zunächst stört und ihr dann neuen Mut verleiht. ...

Im Roman „Die Tage mit Bumerang“ beschreibt Nina Sahm auf einfühlsame Weise wie ein Schaf namens Bumerang das Leben von Annu, der Protagonistin der Geschichte, zunächst stört und ihr dann neuen Mut verleiht. Denkt man beim Cover noch an einen Wohlfühlroman, so verbirgt sich dahinter eine Geschichte mit Tiefgang, die manchmal auch traurig stimmt.

Annu wohnt seit Jahr und Tag in einem kleinen Dorf mit weniger als hundert Einwohner. Sie arbeitet als Übersetzerin von zu Hause aus. Seit dem frühen Tod ihrer Eltern wohnt sie ganz allein. Lars ist von Kindertagen an ihr bester Freund. Er lebt mit Ehefrau und Kind im gleichen Ort. Nach einem feuchtfröhlichen Abend bei Lars geschieht ein Unfall, den Annu verschuldet hat und der alles verändert. Von den Einwohnern wird Annu fortan gemieden und Lars zieht in die nächste Stadt, der Kontakt bricht ab. Annu fühlt sich einsam, obwohl sie immer gut allein leben konnte. Doch dann steht eines Morgens ein Schaf in ihrem Garten und lässt sich nicht vertreiben. Es krempelt das Leben von Annu noch einmal um …

Aus der jahrelangen Freundschaft mit Lars ist ein fester Zusammenhalt entstanden, eine gewisse Routine und bestimmte Rituale. Nach dem Unfall befindet Annu sich in einer Situation, die sie vollkommen überfordert. Mit einer Unachtsamkeit zerstört sie die Anerkennung und das Wohlwollen, dass die Dorfbewohner ihr entgegenbringen. Es ist erschreckend, wie wenig bei ihnen ihr Verhalten vor dem Unglück zählt, doch leider entspricht das meines Erachtens nach leider der Realität.
Obwohl Annu sich manchmal auch über Lars geärgert hat, fällt sie jetzt in einen Abgrund, als kein Kontakt mehr besteht. Ihre leidende Psyche raubt auch dem Körper scheinbar jede Kraft. Sie ist mit der Situation vollkommen überfordert. Das konnte ich als Leser sehr gut nachvollziehen und ich habe mit ihr mitgelitten. Vorwürfe im Nachhinein helfen nicht, das „hätte“ bringt keine Veränderung der Vergangenheit.

Eigentlich bringt das Auftreten des erstmal namenlosen Schafs zunächst nur die Zerstörung des Gartens mit sich, doch für Annu bedeutet das eine Abwechslung in ihrer tristen Einsamkeit und vor allem eine Ablenkung ihrer Gedanken. Sie ist gefordert, nach dessen Herkunft zu forschen und sich mit der Haltung des Tiers auseinander zu setzen. Überraschenderweise bringt das Schaf in der Folge weitere Zeitgenossen ins Haus.

Nina Sahm stattet ihre Charaktere mit liebenswerten Eigenheiten aus und auch das Schaf ist eigenartig, denn es ist besonders stur und findet entsprechend des ihm von Annu gegebenen Namens immer wieder zu ihr zurück.

„Die Tage mit Bumerang“ ist ein Roman über eine Krisensituation in der die betroffene Hauptfigur Annu auf ungewöhnliche Weise wieder neuen Optimismus findet. Nina Sahm gelingt es, eine Geschichte zwischen Lachen und Weinen zu gestalten. Gerne vergebe ich hierzu eine Leseempfehlung

Veröffentlicht am 14.08.2019

Beeindruckender Familienroman über eine Suche nach fehlenden Erzählstücken

Die Leben der Elena Silber
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Mit dem Roman „Die Leben der Elena Silber“ von Alexander Osang näherte ich mich beim Lesen der möglichen Wahrheit über den Lebensweg der im russischen Gorbatow geborenen Jelena Viktorowna Krasnowa. Bereits ...

Mit dem Roman „Die Leben der Elena Silber“ von Alexander Osang näherte ich mich beim Lesen der möglichen Wahrheit über den Lebensweg der im russischen Gorbatow geborenen Jelena Viktorowna Krasnowa. Bereits der Umschlag deutet an, dass so ein erzähltes Leben sich aus vielen Bildern, die da im Kopf hängen bleiben, zusammensetzt. Jelena, Elena, Lena, je mehr Buchstaben ihr Vornamen verliert, desto mehr Menschen verliert sie, die ihr bisher Halt gegeben haben, denen sie vertraut hat und von denen sie hilfreich unterstützt wurde. Den Blick immer auf die Zukunft gerichtet, umschifft sie viele Hindernisse. Die Sorge um ihre Familie begleitet sie ständig, durch die politischen Wirrungen des letzten Jahrhunderts muss sie sich immer wieder anpassen. Dennoch ist sie nicht die einzige Protagonistin des Romans, ihr Enkel Konstantin ist eine weitere Hauptfigur.

Jelena wird Anfang des vorigen Jahrhunderts geboren. Im Alter von zwei Jahren wird ihr erzählt, dass ihr Vater, Seiler von Beruf und Vertreter der Meinung der Landbevölkerung, von Beamten der Stadt hingerichtet wurde, weil er auf der Seite derjenigen stand, die über Anweisungen des Zaren gelästert hatten. Um weiteren Übergriffen zu entgehen, flieht die Mutter mit Jelena und ihrem Sohn nach Nischni Nowgorod.

Im Sommer des Jahres 2017 kehrt der Filmemacher Konstantin Silber von einer Reise in die Ukraine zurück. Von seiner Mutter Maria erfährt er, dass sein Vater aufgrund seiner Krankheit ins Heim ziehen wird, was für ihn eine wenig vorstellbare Situation ist, denn damit verbindet er die Endlichkeit des Lebens. Mit seiner beruflichen Karriere ist er unzufrieden und auf der Suche nach einem das Publikum ansprechenden Thema.

Ausgehend von den beiden obigen Anfängen des Romans ergänzen sich die Geschichten nun einerseits in der Gegenwart auf der Suche nach dem Wahrheitsgehalt, andererseits in kontinuierlich fortschreitenden Szenen aus der Vergangenheit. Eine Übersicht der wichtigsten Familienmitglieder auf den ersten Seites des Buchs half mir dabei, die Charaktere namentlich und zeitlich besser einzuordnen, auf den Innenseiten ist eine Landkarte mit den Handlungsorten gedruckt, die die Reisen der Familie nachvollziehen lassen.

Jelena ist beim Pogrom an ihrem Vater selbst nicht anwesend, aber sie spürt die Angst ihrer Mutter vor den Schergen, die größer ist als die vor einem Neuanfang. Für Jelena ist dieser Tag ein strenger Einschnitt in ihr Leben, dessen Bedeutung sie in ihrem kindlichen Alter noch nicht erfassen kann. Sie entwickelt sich zu einer starken Frau. Die häusliche Umgebung ändert sich örtlich für sie in den nächsten Jahren mehrfach. Durch ihren Beruf erlangt sie Unabhängigkeit vom Elternhaus. Schließlich heiratet sie einen deutschen Ingenieur, dem sie Mitte der 1930er Jahre nach Berlin folgt, als der Krieg bereits seine langen Schatten voraus wirft.

Dem Autor gelingt es, ein fiktives Frauenschicksal über Jahrzehnte hinweg ergreifend aufzuzeigen. Dabei ist seine Erzählung inspiriert von seiner eignen Familiengeschichte. Seine Schilderung ist bewegend, aber durch das Einflechten einiger heiterer Begebenheiten gelingt es ihm, seine Erzählung stellenweise aufzulockern. Seinen Fokus richtet er auf die Menschen, die das Schicksal tragen, dass ihnen durch die aktuelle politische Lage vorgegeben scheint. Seine Protagonistin Jelena bekennt sich nie bewusst für eine Richtung in der Politik, sie handelt, um sich selbst und ihre Liebsten zu schützen. An der Seite ihres Mannes führt sie ein wohlsituiertes Leben, doch auch hier stellt sie fest, dass sie durch Konventionen gebunden ist. Nichtwissen wird für sie zuweilen zur Überlebensfrage. Schon früh stellt sie fest, dass es häufig besser ist, Geheimnisse für sich zu behalten. In der Kommunikation mit ihren Töchtern verlässt sie ihr Mut, denn die Erinnerungen an bestimmte Dinge in ihrem Leben sind nahezu unbeschreiblich. Unzureichende Sprachkenntnisse und dadurch fehlende Übersetzungsmöglichkeiten ergänzen die mangelnde Kontinuität in Jelenas Erzählungen. Ganz im Innersten führt sie aber ständig eine Liebe mit sich, aktuell oder vergangen, die ihr keiner nehmen kann.

Für Konstantin wird die Vergangenheit seiner Familie zu einer Suche nach Details. Der Weg zurück zu seinen Wurzeln führt Konstantin in die Seele des russischen Reichs. Dabei wird ihm zunehmend deutlich was ihm selber wichtig ist.

Alexander Osang hat mit dem Buch „Die Leben der Elena Silber“ einen bewegenden Familienroman geschrieben, der nicht nur das gesamte Leben der Titelfigur umfasst, sondern auch noch das der nachfolgenden Generation. Der Autor erzählt episodenhaft. Die Suche nach den fehlenden Erzählteilen ist berührend und führt Jelenas Enkel Konstantin und mich als Leser nicht nur zu den Verwicklungen in der Familiengeschichte, sondern auch zu einem tieferen Verständnis für die Gefühle der Beteiligten, die mit der Ohnmacht verbunden sind, das Gesehene und Erlebte in Worte zu kleiden. Gerne empfehle ich diesen beeindruckenden Roman weiter.

Veröffentlicht am 05.08.2019

Klug komponierter Roman über ein wichtiges Thema

Radio Activity
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„On“ heißt das erste der drei Kapitel des Romans „Radio Activity“ von Karin Kalisa. „On Air“ trifft es noch besser, denn bereits auf der ersten Seite konnte ich verfolgen, wie Holly Gomighty alias Nora ...

„On“ heißt das erste der drei Kapitel des Romans „Radio Activity“ von Karin Kalisa. „On Air“ trifft es noch besser, denn bereits auf der ersten Seite konnte ich verfolgen, wie Holly Gomighty alias Nora Tewes ihre erste Radiosendung beim neuen Sender „Tee und Teer“ moderiert. In Rückblicken erfuhr ich in diesem ersten Teil des Buchs, wie Nora gemeinsam mit zwei Jugendfreunden den Sender gründet. Vorher war Nora, 25 Jahre alt, Teil eines Ballettensembles in New York. Als ihre Mutter im Sterben liegt, kündigt sie ihre Arbeit und kehrt in ihre Heimat im Norden Deutschlands zurück, um ihre Mutter zu pflegen. Die Geschichte rund um die Gründung schreitet zügig voran. Das Team des neuen Senders hat einige kreative Ideen zur Programmgestaltung, unter anderem ein Quiz, welches wie beim Geocachen zu bestimmten Orten hinführt. Doch dann nutzt Nora ihre Sendung dazu, die Zuhörer auf ein längst verjährtes Verbrechen aufmerksam zu machen und sie zum Täter zu führen. Wie Radioaktivität soll ihre Nachricht unsichtbar sein, aber mit durchdringenden, bleibenden Folgen.

Im Kapitel „Stay“ steht für eine Weile die Zeit scheinbar still, denn als Leser verharrte ich an der Seite von Nora am Sterbebett ihrer Mutter, die Nora ein für schwer fassbares Geständnis macht. Auf diese Weise konnte ich alles über die Hintergründe von Noras Aktion und ihr waghalsiges Vorgehen erfahren. Im letzten Kapitel, „Off“ betitelt, konnte ich dann erfahren, wie die von Nora initiierte Aktion weiter verläuft.

Karin Kalisa erzählt detailgenau und intensiv. Ihren Figuren gibt sie einen interessanten Hintergrund, so versammeln sich einige Lebenswege mit Hochs und Tiefs in diesem Buch. Obwohl Nora sich ihre Karriere beim Ballett vorgestellt hat, bleibt sie doch der Heimat verbunden. Immer deutlicher spürt sie einen Sinn nach Veränderung und kann sich ihre zunehmenden Fehler beim Tanz doch zunächst nicht erklären. Der kurzfristig gewählte Weg nach Hause ist eine logische Folge für sie aus den aktuellen Ereignissen.

Nach dem Bekenntnis ihrer Mutter reift in Nora ein Plan, dessen Umsetzung die Autorin auf glaubhafte Art und Weise schildert. Immer wieder wird die Wut in Nora aufgrund des für sie Unglaublichen spürbar. Sie fühlt die tiefe Verletzung ihrer Mutter, die diese über Jahre in sich getragen hat. Aus der dadurch resultieren Hilfslosigkeit von Nora werden bald Rachegedanken. Durch das Ziel, dass sie sich gesetzt hat, versucht sie ihre Gefühle zu kanalisieren. Ihr Vorgehen wird zu einer gesellschaftspolitischen Angelegenheit, in die der Rechtsreferendar Simon eine tragende Rolle spielt und für Nora in mehrfacher Hinsicht zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Davon ausgehend, dass die Autorin genau recherchiert hat, eröffnete sie mir in diesem Roman ein Stück aktueller Rechtsgeschichte, das empörend ist und der allgemeinen Wahrnehmung nach wohl von den meisten als ungerecht empfunden wird. Ich war fasziniert darüber, wie die Autorin die Handlung fortführt.

„Radio Actity“ berührt ein wichtiges Thema, das in unserer Gesellschaft oft tabuisiert wird. Die Kraft der Protagonistin, ihre Handlungen ganz auf Gerechtigkeit auszurichten, die von Freundschaft und Beherztheit getragen wird, ist bewundernswert und berührend. Karin Kalisa erzählt mit viel Esprit und guten Ideen. Beim Lesen war ich tief betroffen und werde die Geschichte in Erinnerung behalten. Gerne empfehle ich den Roman weiter.