Stalin aus der Sicht eines Kindes, voller Metaphern und grandios
Meine Meinung:
Der KiWi-Verlag hat mich mit diesem Rezensionsexemplar überrascht und dabei komplett ins Schwarze getroffen. Wer hier schon länger mitliest weiss ja, dass mir die damalige Sowjetunion literarisch ...
Meine Meinung:
Der KiWi-Verlag hat mich mit diesem Rezensionsexemplar überrascht und dabei komplett ins Schwarze getroffen. Wer hier schon länger mitliest weiss ja, dass mir die damalige Sowjetunion literarisch und vor allem musikalisch sehr am Herzen liegt und ich mich sehr für deren Geschichte natürlich auch für Bücher, die dort spielen, interessiere.
Mir wurde "KEIN Wohlfühlbuch" versprochen, aber ein Buch, das zum Nachdenken und Schmunzeln einlädt, eines, das niemanden kalt lässt und viel Diskussionsstoff bietet. Genau dies und noch viel mehr habe ich auch bekommen. Besonders gut gefallen hat mir der wundervolle Protagonist und der Schreibstil, der es geschafft hat, authentisch, intelligent und spannend aus der Sicht eines Zwölfjährigen zu erzählen.
Selbstverständlich geht es in diesem Buch aber nicht nur um Juri, sondern auch um ein System, das mit Doppelgängern, Manipulation, Vertuschung, Saufgelagen und Intrigen arbeitet, mit Machtmissbrauch, Gewalt, Folter und der Auslöschung unerwünschter Stimmen. Was ist wahr? Was ist real? Historische Ereignisse vermischen sich mit Fiktion, Namen werden geändert und als Leser kann man munter miträtseln, wer sich hinter welchem Pseudonym versteckt und wie die Fäden der Geschichte zusammenlaufen (könnten).
"Dieser Patient hat keine Vorgeschichte"
"Aber jeder Mensch hat eine Vorgeschichte", protestiert Papa, "Allein schon, weil er geboren wurde."
"Der Genosse ist ein Elefant, der eine äusserst hohe Stellung einnimmt. Besässe er eine medizinische Vorgeschichte, wäre er krank gewesen, und das könnte ihm als Schwäche ausgelegt werden, als ein Versagen seiner Macht und Vitalität, eine Begrenzung seiner Fähigkeiten."
S. 44
Schreibstil und Handlung:
Juri ist zwölf Jahre alt, leidet nach mehreren schweren Unfällen an Epilepsie, hat ständig ein Grinsen in seinem Gesicht und wirkt auf seine Mitmenschen ein wenig debil. Er ist aber alles andere als das. Vielmehr hat er von seinem Vater sehr viel über das Gehirn von Säugetieren gelernt, denkt logisch und verfügt über eine sehr charmante, kluge und gewinnende Art. Alle Menschen wollen sich ihm anvertrauen und schnell wird dem Leser klar, dass Juri ein kleines Rädchen im grossen Getriebe ist und in dem komplexen und totalitären System verschwinden und eingespannt werden soll.
"Wie es der Zufall will, habe ich eine kleine Aufgabe für dich. Du errätst bestimmt nicht, worum ich dich bitten will."
"Soll ich Augen und Ohren offen halten und Ihnen Bericht erstatten?"
"Gut gebrüllt..." Er blinzelt und runzelt überrascht die Stirn. "Wie um alles in der Welt bist du nur darauf gekommen?"
Ich zucke die Achseln. "Ich bin zwar noch neu im Geschäft der Politik", gestehe ich, "aber ich lerne dazu."
S. 114
Juri erzählt in Ich-Form aus seiner Sicht und schildert interessante, humorvolle und tragische Ereignisse aus seinem Alltag. Dabei hat mich begeistert, wie wunderbar es dem Autoren immer wieder gelingt, Juri im Dunkeln zu lassen, was um ihn herum geschieht. Aufgrund der Andeutungen und dem Wissen, das wir erwachsenen Leser natürlich im Nachhinein von der russischen Geschichte haben, erkennen wir viel schneller, was es mit einigen Begebenheiten auf sich hat, und sehen viel schneller die Gefahren, in die Juri hineinschlittert. Dies ist vom Autor wirklich grandios gelöst und sorgt für uns Leser natürlich auch für eine gewisse Beklemmung, weil wir viel mehr Zusammenhänge erkennen und schneller sehen, was Juri leider auch noch alles erdulden muss.
Ja, es wird traurig, auch brutal und ungemütlich. Und trotzdem hat der KiWi-Verlag recht mit jedem seiner Versprechen: dieses Buch macht auch glücklich. Es regt zum Nachdenken an und lässt zwar tief in ein brutales System blicken (was für fundierteste Recherchen des Autors spricht), es sorgt aber vor allem für ganz viel Liebe zu diesem herzerweichenden Protagonisten und dessen Geschichte, für ganz viel Dankbarkeit, dass man in einer Demokratie leben darf und für immer mehr Lust auf (russische) Geschichte, auf historische Hintergründe und weitere spannende Bücher des Autors.
"Ideen sind mächtiger als Waffen. Wir lassen nicht jeden eine Waffe tragen, warum sollten wir sie also Ideen haben lassen?"
S. 148
Meine Empfehlung:
Dieses berührende, beklemmende und trotzdem immer wieder von einem kindlichen Optimismus geprägte Buch möchte ich euch besonders ans Herz legen. Äusserst fundierte Recherchen des Autors, eine gelungene Verknüpfung historischer Fakten mit Fiktion, viel Humor, der herrlich naive und zugleich kluge und menschenfreundliche Protagonist und ein Schreibstil, der in seiner Finesse und Authentizität seinesgleichen sucht, machen "Guten Morgen, Genosse Elefant" mit jeder Seite zu einem zum Nachdenken anregenden Stück Literatur, das im wahrsten Sinne des Wortes nach den Sternen greift.