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Veröffentlicht am 19.10.2019

Der stärkste Fünfzehnjährige der Welt

Kafka am Strand
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Der stärkste Fünfzehnjährige der Welt ist Kafka Tamura. Seine Mutter ist mit seiner Schwester schon lange weg, an die beiden hat er keine Erinnerung mehr. Kafka lebt bei seinem Vater, einem begnadeten ...

Der stärkste Fünfzehnjährige der Welt ist Kafka Tamura. Seine Mutter ist mit seiner Schwester schon lange weg, an die beiden hat er keine Erinnerung mehr. Kafka lebt bei seinem Vater, einem begnadeten Bildhauer, doch der interessiert sich nicht für seinen Sohn. Kein Wunder, dass der schüchterne und wortkarge Junge, der auch in der Schule keine Freunde hat, von Zuhause abhaut. Kafka nimmt uns sodann mit in eine Welt, die weit weg vom Vater existiert. In dieser Welt zählen vorerst nur die Bücher der Komura-Gedächtnisbibliothek und sein Sport.

Bis dahin kann man der Geschichte gut folgen und alles ist verständlich - auch, wenn sich schon erste Fragen auftun. Aber wie es bei Murakami üblich zu sein scheint, häufen sich die Rätsel zusehends und man wird mehr und mehr verwirrt. Man findet sich schon bald in einer Welt, in der nicht klar ist, was Traum, was Wirklichkeit, was Fantasie und was Metapher ist. Ich habe das Buch in einer Leserunde gelesen und auch meine Mitleser (zwei davon noch Murakami-Neulinge) waren häufig ratlos, was es alles auf sich hat mit den Geschehnissen. Es blieb uns nicht viel anderes übrig, als zu rätseln, anzunehmen und zu spekulieren.

So zum Beispiel, warum es Fische und Blutegel vom Himmel regnet. Warum möchte ein Mann namens Johnnie Walker unbedingt eine "besondere Flöte" aus Katzenseelen herstellen? Wie kommt es, dass Kafka Tamura Bewusstseinsaussetzer hat und was hat Nakata, ein alter Mann, der sich selbst als dumm bezeichnet und die Katzensprache spricht, mit Kafka zu tun? Das sind nur ein paar wenige der unzähligen Fragen, die wir uns während des Lesens gestellt haben.

Literatur, klassische Musik, aber auch die Sehnsucht nach der Mutter sind Kernthemen in diesem Buch. Immer wieder stellt sich Kafka die Frage, ob diese oder jene Frau seine Mutter sein könnte. Warum er so mutterfixiert ist, wird schnell klar. Zusammen hängt das nämlich mit einer Prophezeiung, die ihm sein Vater immer und immer wieder eingebläut hat - und diese Prophezeiung verheißt nichts Gutes, schließlich erinnert sie sehr stark an die Geschichte von Ödipus.

Die Buchfiguren sind durch die Bank mal wieder herrlich einzigartig und teilweise sehr bizarr gezeichnet. So hat zum Beispiel auch Colonel Sanders - der Kentucky Fried Chicken-Typ - (nicht, dass ich den vorher gekannt hätte) einen Platz in der Geschichte bekommen. Und nicht zu vergessen: Katzen. Katzen sind für den Fortlauf enorm wichtige Wesen. Sie sind es, die vermitteln, Wichtiges mitteilen und die Handlung somit voranbringen. Murakami schreckt auch in diesem Buch (habe von ihm schon "Mister Aufziehvogel" intus) nicht davor zurück, blutige und brutale Szenen einzubauen. Besonders, wenn man ein großer Katzenliebhaber ist, könnten diese Szenen auf einen zartbesaiteten Leser verstörend wirken und sind deshalb vielleicht eher mit Zurückhaltung zu genießen.

Ich persönlich habe es sehr genossen, mit meinen Mitlesern zu spekulieren. Ich hatte großen Spaß daran, Schlüsse aus der Handlung zu ziehen und mir zu überlegen, wie oder was genau Murakami uns mit all dem vermitteln wollte. Auch, wenn ich mit meinen Annahmen wahrscheinlich oft falsch gelegen habe, hat es mich dennoch begeistert und mir einige schöne Lesestunden beschert. Jedem ist das Buch bestimmt nicht zu empfehlen, dafür ist Murakamis Art zu erzählen einfach zu speziell und teilweise zu abgehoben. Aber wer einmal einen Murakami gelesen und gemocht hat, kommt um dieses Exemplar sicher nicht drumherum.

Veröffentlicht am 18.10.2019

Ein Gefühl von Richtigkeit

Auf der Suche nach dem verlorenen Glück
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Empfohlen wurde das Buch von einer YouTuberin und ich bin sehr froh, dass ich es mir gekauft habe, denn schon während des Lesens habe ich das starke Gefühl bekommen, dass es das wichtigste Buch meines ...

Empfohlen wurde das Buch von einer YouTuberin und ich bin sehr froh, dass ich es mir gekauft habe, denn schon während des Lesens habe ich das starke Gefühl bekommen, dass es das wichtigste Buch meines Lebens ist. Dieses Gefühl hat sich bis zum letzten Satz nicht verändert. Ich bedauere sogar, es nicht schon viel früher gelesen zu haben.

Jean Liedloff hat auf einer Expeditionsreise in den venezolanischen Urwald den Yequana-Stamm kennengelernt und war sofort enorm fasziniert davon, wie glücklich diese Menschen sind und welche Zufriedenheit sie ausstrahlen. Weil sie herausfinden wollte, warum es bei den Yequana kein Wort für Unglück oder Unzufriedenheit gibt, ist sie geblieben. Insgesamt 2,5 Jahre lebt und beobachtet sie den venezolanischen Stamm und zieht logische Schlüsse. In dieser Zeit erkennt sie, dass es der Umgang mit den Babys und Kindern ist (der sich zu dem unsrigen größtenteils stark unterscheidet), der sie zu glücklichen, zufriedenen und selbstbewussten Erwachsenen werden lässt.

Babys sind Traglinge

Der Zeitraum in der gesamten Menschheitsgeschichte, in dem wir unsere Babys nicht mehr tragen, ist so unbedeutend kurz. Jedes Baby, das heute zur Welt kommt, erwartet getragen zu werden. In seinem inneren Bauplan ist es quasi vorgesehen, so behandelt zu werden wie die Babys vor tausenden von Jahren. Das Gitterbett (alleine in einem anderen Zimmer zu schlafen), Laufställe, Wippen, Autoschalen und nicht zuletzt Kinderwägen, sind höchst unnatürliche, irritierende Dinge für ein Baby. Es sind Erfindungen der Neuzeit/Gegenstände, die einem den Alltag erleichtern sollen. In Wahrheit schaffen sie vor allem eines: Distanz zu deinem Kind. Das schöne, beruhigende Gefühl des Getragenwerdens, das Nähe, Selbstvertrauen, Urvertrauen, Wärme, Liebe, Sicherheit, das Gefühl von Richtigkeit und viele weitere Kompetenzen entstehen lässt, erfahren Babys durch diese Erfindungen nicht. Es gibt genug Babys, die es lautstark einfordern, getragen zu werden. Es gibt leider aber auch viele, die mucksmäuschenstill sind und es nicht einfordern. Letztere erwarten und brauchen das Getragenwerden aber ganz genauso.

Bis etwa zur Mitte des Buches beschreibt Liedloff das Leben eines Babys bei den Yequana und das Leben eines Babys in der Zivilisation. Die Beschreibungen über das Yequana-Baby fand ich hochinteressant. Ich war erstaunt darüber, dass die Yequana-Babys, bis sie anfangen zu kriechen, in ständigem Körperkontakt mit einem anderen Menschen sind. Wie dieser Stamm mit ihren Babys umgeht, ist faszinierend und hat in mir eine große Motivation und Zustimmung hervorgerufen. Zutiefst anregend ist es, wie das Yequana-Baby seinen Tag verbringt.
Das Baby hingegen in der Zivilisation ... fürchterlich! (Hinzu kommt hier, dass das Buch in den 1970er-Jahren geschrieben wurde und es da bei uns ja noch gang und gäbe war, seine Babys weinend in andere Zimmer zu schieben, um sie auf keinen Fall zu "verwöhnen"!) Die Autorin schildert das triste, wenig bis gar nicht anregende, Dasein eines Säuglings, der seine ersten Lebensmonate hauptsächlich liegend verbringt. Und das macht sie auf so eindringliche Art und Weise, dass es mich tief berührt und sehr traurig gemacht hat. Wenn man sich in so ein Baby hineinversetzt, was ich getan habe, dann bleibt einem eigentlich auch nichts anderes übrig als zu weinen. Dieser Abschnitt hat mich sehr mitgenommen und mich noch einmal zusätzlich bestätigt, dass ich es ab nun bei meiner Tochter anders machen werde und sie nur mehr getragen wird.

Das Gefühl, dass etwas fehlt

Im zweiten Teil des Buches widmet sich Liedloff sehr viel und ausgiebig den verschiedensten Auswirkungen vom Nichtgetragenwerden/einer nicht artgerechten Erziehung. Und auch das fand ich sehr spannend, denn viele der Gefühle, die beschrieben werden, konnte und kann ich nach wie vor fühlen und das war für mich wie eine Offenbarung. Zu wissen und zu verstehen, warum man sich ab und zu so fühlt, wie sich bestimmt der Großteil der Menschen in unseren Breitengraden fühlt, ist zum Teil tröstlich, zum Teil befreiend.

Jeder, der ein Baby bzw. Kinder hat oder vorhat, Kinder zu bekommen, sollte dieses Buch lesen! Der Inhalt ist SEHR wichtig und enorm bereichernd und ich würde mir wirklich wünschen, dass er mehr Beachtung erfährt. Am liebsten würde ich ja hergehen und jedem, den ich kenne, dieses Buch schenken.

Veröffentlicht am 21.08.2019

Anni räumt ihr Leben auf

Sterne sieht man nur im Dunkeln
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Manchmal muss man einfach ausbrechen, aus dem Alltag, dem gewohnten Leben und Umfeld, um hinter seine Unzufriedenheit zu blicken, nein, um überhaupt erst einmal wahrnehmen zu können, DASS man unzufrieden ...

Manchmal muss man einfach ausbrechen, aus dem Alltag, dem gewohnten Leben und Umfeld, um hinter seine Unzufriedenheit zu blicken, nein, um überhaupt erst einmal wahrnehmen zu können, DASS man unzufrieden ist und dringend eine Veränderung braucht. Genau das tut Anni, nachdem ihr Chef ihr ein Jobangebot in Berlin gemacht und ihr Freund Thies sie gefragt hat, ob sie nicht heiraten wollen. Eigentlich wollte Anni alles so belassen wie es ist, weil es doch gut funktioniert, wie es ist. Doch dann schreibt ihr auch noch ihre ehemals beste Freundin Maria, die ein Strandcafé auf der Nordseeinsel Norderney betreibt, und fragt sie, ob sie nicht vielleicht auf ein Weilchen zu ihr auf die Insel kommen mag. Das ist Annis perfekte Gelegenheit, um sich dort einmal in Ruhe über ihre Lebensumstände klar zu werden. Sollte man zumindest meinen ...
Dass dort aber erst mal ihre Vergangenheit auf sie wartet, die darauf pocht, nochmal genauestens unter die Lupe genommen und endgültig bereinigt zu werden, hätte ich, nach den Infos aus dem Klappentext, nicht erwartet. Aber genau das kam dort auf Anni zu: Gefühlschaos, alte Wunden und Unklarheit.

~ »Manchmal braucht es eine Veränderung von außen, damit sich innen etwas bewegt.« ~
(S. 112)

Ich bin sehr schnell in der Geschichte gelandet, der Schreibstil liest sich angenehm und durchgängig flüssig. Ich wurde schon recht bald mitgerissen von den Geschehnissen und der unvorhersehbaren Handlung, so sehr, dass ich während des Lesens die Zeit vergessen habe. Und dann bekommt man als Leser im zweiten Buchdrittel noch diese schockierende, halbe Enthüllung hingeworfen, die die Spannung natürlich extrem steigert, die letztlich aber erst auf den letzten Seiten gänzlich herauszulesen ist ... DAS ist Folter! Schrecklich, sowas. Aber damit trifft die Autorin genau meinen Geschmack!

Auch mit den Charakteren bin ich in diesem Roman vollkommen zufrieden. Die Protagonistin kommt erst mal allein durch ihren unkonventionellen Job als Game-Designerin sehr sympathisch rüber. Anni wirkt liebevoll, hat aber scheinbar auch eine tiefe Unzufriedenheit in sich sitzen, die selbstverständlich etwas mit ihrer Vergangenheit, aber auch was mit fehlender freier Kreativität zu tun hat.
Der Widerspruch in Annis Leben ist, dass sie einerseits inspirierende und kreative Sinnsprüche erfindet, sie aber andererseits überhaupt nicht in ihr eigenes Leben integriert. Ist es nicht oft so, dass man genau das, was man anderen gerne näherbringen möchte, eigentlich selbst am allerdringendsten lernen muss? Zumindest bei Anni ist das so. Und es ist schön, dass sie sich das Ziel gesetzt hat, nach ihren eigenen großartigen Sprüchen zu leben und man diesen Prozess als Leser begleiten darf.

~ »Vergeben ist wie Vergessen mit Puderzucker drauf.« ~
(einer von Annis Lieblingssprüchen)

Ein wirklich schöner Roman übers Vergeben und Freiwerden, über Freundschaft und übers Ausleben seiner Kreativität. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 28.05.2019

Tiggy, die hellsichtige Schwester

Die Mondschwester
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Im fünften Band der Sieben-Schwestern-Reihe dreht sich alles um Tiggy (oder auch: Taygeta), die fünfte Schwester, die von Pa Salt adoptiert wurde. Tiggy gilt unter allen Schwestern als "die Hellsichtige". ...

Im fünften Band der Sieben-Schwestern-Reihe dreht sich alles um Tiggy (oder auch: Taygeta), die fünfte Schwester, die von Pa Salt adoptiert wurde. Tiggy gilt unter allen Schwestern als "die Hellsichtige". Sie liebt Tiere, ist Veganerin und sonst auch ein durch und durch liebevoller Mensch. Grund genug, um sich als Leser sofort mit ihr anzufreunden.
Nicht nur, weil Tiggy ein großes Herz für Tiere hat und sich, genauso wie ich, vegan ernährt, habe ich mich in gewissem Maße mit ihr verbunden gefühlt ... Sie ist auch eine spirituelle, intuitiv handelnde Frau, weswegen sie mich ebenfalls sehr an mich selbst erinnert hat.

Anders als in den bisherigen Schwestern-Bänden hat Pa Salt der jetzigen Schwester ganz genaue Informationen hinterlassen, wo sie ihre Herkunftsfamilie finden kann. Der Gegenwart-Teil des Buches findet vor allem in Schottland und kurz auch in Spanien und Genf in der Schweiz statt. Die Erzählungen aus der Vergangenheit spielen sich hauptsächlich in Spanien, genau genommen Sacromonte, ab. Eine kleine Weile auch in Portugal und Amerika.
Ich weiß nicht genau, wie Lucinda Riley es immer macht, aber so sympathisch mir Tiggy aus dem Gegenwartsstrang auch war, der historische Teil mit Lucía, einer sehr berühmten Flamenco-Tänzerin, hat mir dennoch um Längen besser gefallen als die Gegenwart-Geschehnisse. Genauso erging es mir bei den anderen Schwestern-Bänden! Vielleicht ist es das Eintauchen in eine völlig andere, mir ganz neue, Welt, das mich immer wieder so mitnimmt und umhaut? Ich konnte mir Lucías Leben, ihren Werdegang und ihre Familie so lebhaft vorstellen. Ihre Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen hat mich dermaßen gefesselt.

Es ist immer wieder aufs Neue total spannend für mich, diese Familiengeschichten zu lesen, mitzurätseln und an ihrer Entwicklung teilhaben zu können. Es ist großartig, die Verbindung zur Gegenwart entdecken zu können und letztlich zu verstehen, wie sich alles zusammenfügt und welche Bedeutung es hat. Ich weiß gerade auch nicht wirklich, was bei mir los ist, denn ich bin derzeit sehr nah am Wasser gebaut und habe bei so mancher Stelle Tränen in den Augen gehabt bzw. sogar geweint, so berührt hat mich das eine oder andere Schicksal ...
Eine gewisse Tragik peppt ein Buch doch aber immer ganz gut auf, finde ich. Und tragisch und traurig ist in dieser Geschichte definitiv so manche Szene.

Das große Rätsel um Pa Salt bleibt auch in diesem Buch noch weiter bestehen. Lebt der Adoptivvater der Schwestern noch? Diese Frage stellen wir uns schon seit Band eins immer wieder, denn seine Todesumstände waren mehr als nur mysteriös. In »Die Mondschwester« erhärtet sich aber die Aussage, dass er noch am Leben ist, sehr, denn Tiggy hat in diesem Buch mehrmals gesagt oder gedacht, dass sie das starke Gefühl hat, dass Pa noch hier ist - und Tiggy ist ja, wie schon erwähnt, "die Hellsichtige". Vermutlich werden wir es im sechsten und letzten Band - wenn er denn überhaupt der letzte ist - erfahren. ;)

Ganz zum Schluss bekommt man als Leser dann noch einen kurzen Einblick in Elektras Leben, der sechsten Schwester. Elektra scheint auf den ersten Eindruck völlig anders zu sein als die anderen Schwestern. Jedenfalls kann mir die Autorin mit dem kleinen Abschnitt schon wieder große Lust aufs Weiterlesen machen. :)

Veröffentlicht am 14.05.2019

Faszination Schildkröte

Der Traum der Schildkröte
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Die Schildkröte steht auf der Liste stark bedrohter Tierarten. Sie ist nicht so niedlich wie ein Panda, nicht so kuschelig wie ein Koala und auch nicht so prächtig wie ein Eisbär, dennoch scheint sie die ...

Die Schildkröte steht auf der Liste stark bedrohter Tierarten. Sie ist nicht so niedlich wie ein Panda, nicht so kuschelig wie ein Koala und auch nicht so prächtig wie ein Eisbär, dennoch scheint sie die Menschen auf irgendeine Art und Weise zu faszinieren. Peter Laufer hat sich in seinem Recherche- und Dokumentationsreise-Roman ganz dem Thema »Schildkröte« gewidmet. Er nimmt uns mit auf eine ausgiebige Reise durch die Welt und bringt uns dabei die Schildkröte in all ihren Facetten ganz nahe. Allein, wenn man dann erfährt, dass die Schildkröte bereits im Dinosaurierzeitalter existierte, betrachtet man diese Wesen mit ganz anderen Augen.

Man fragt sich, warum die Schildkröte in so vielen Gegenden verehrt und als heilig angesehen und in anderen Gegenden wiederum gejagt und verkauft wird. Ihr Lebensraum wird mancherorts zerstört – für Golfplätze, für Öl, für Solaranlagen. Besonders nachdenklich gemacht, hat mich die Aussage der Biologin Mercy Vaughn. Sie denkt, dass die Welt bereits "im Arsch" ist und wir Menschen "die Meister unseres eigenen Untergangs" sind. Es gibt "zu viel Geldgier und Verlangen nach Macht" und "wieso sollte man sich da um ein paar Schildkröten irgendwo in der Wüste sorgen"? Dennoch gibt es sie immer wieder, Tierschützer und Tierschutzorganisationen, die alles in ihrer Macht stehende tun, um das Reptil zu retten und in seinem Lebensraum zu beschützen.

Als Leser ist man einfach nur bestürzt, wenn man all die Gründe erfährt, weswegen der Mensch Interesse an Schildkröten, auch an vom Aussterben bedrohten Schildkrötenarten, hat: Mit ihnen werden Schildkrötenopfer praktiziert. Man glaubt, dass, wenn man sie isst, man sehr lange lebt oder geduldig, weise und fruchtbar (Teile von ihr benutzt man als Viagra.) wird. Sie hat einen Platz auf Gourmetspeisekarten und wird als Heilmittel eingesetzt. Besonders die Asiaten können die Finger nicht von ihr lassen. In China spielt die Schildkröte eine zentrale Rolle: sie wird gewildert, geschmuggelt, am Schwarzmarkt (für SEHR VIEL Geld) verkauft. Ein seltenes Tier zu besitzen ist für Reiche mit Sammelsucht ein besonderer Kick. Aus ihrem Panzer wird Schildpatt hergestellt: Kämme, Haarschmuck, Plektren. Aus ihrer Haut: Schuhe und Taschen. Schildkröten landen häufig in für den Fischfang riesigen Netzen als Beifang und verenden dort elendig.
Es gibt unendlich viele Gründe, weshalb die Schildkröte gefährdet ist. Sie lebt unter Umständen sehr lange, muss aber auch ein gewisses Alter erreichen, um sich fortpflanzen zu können. Aus einem Schildkrötennest mit mehreren 100 Eiern überleben nur ein paar wenige, die das Erwachsenenalter erreichen.

Der Autor hat sogar einen Schildkrötenschmuggler in Gewahrsam und einen auf freiem Fuß interviewt, um deren Motive zu erfahren und verstehen zu können. Laufer hat sich wirklich voll auf sein Schildkrötenprojekt eingelassen, denn auch er selbst hat sich eine Schildkröte zugelegt, um ein Weilchen mit ihr zu leben und ihre Faszination auszumachen. Zwischen Laufers Schildkrötengeschichten finden sich im Buch diese grau hinterlegten Texte, in denen der Autor von Fred berichtet, seiner vorübergehenden Pflegeschildkröte. Diese Absätze wirken wie erholsame Päuschen zwischen all den Unglaublichkeiten und Abscheulichkeiten rund um den Schildkrötenhandel. Manch ein Fakt widert einen an, manches erschreckt und manches lässt einen einfach nur den Kopf schütteln. In jedem Fall hat sich der Inhalt bei mir eingeprägt und ja, die Schildkröte sehe ich heute definitiv mit anderen Augen.

»Jeder hat eine Schildkrötengeschichte.« sagt Peter Laufer in seinem Buch immer wieder. Ich hatte in meinem Leben bisher kaum etwas mit diesen Tieren zu tun. Aber ja, trotzdem kann auch ich "eine Schildkrötengeschichte" erzählen: Meine Mutter hatte zwei Schildkröten. Die zwei lebten noch bei uns, als ich ein Kleinkind war. Erinnern kann ich mich daran allerdings nicht mehr. Irgendwann sind die beiden ausgebüxt und nie mehr wieder zurückgekommen. Heute habe ich meinen eigenen Haushalt in einem anderen Ort und seit ein paar Monaten hängen in unserer Nachbarschaft mehrere "Schildkröte entlaufen"-Schilder an Masten, die wohl ein besorgter Schildkrötenbesitzer dort angebracht hat. Da sie heute immer noch dort hängen, kann ich annehmen, dass besagte Schildkröte noch nicht wieder aufgetaucht ist. Das sind meine Schildkrötengeschichten. Sie sind nicht lange und nicht aufregend, aber es gibt sie.
Und, was ist deine Schildkrötengeschichte?