Im Wandschrank des Vertrauens
„Denn Daddy machte es auch: Er redete nicht so über Andy, wie er wirklich war. Und so weinen zwar alle und waren traurig, aber nicht über den echten Andy, sondern über einen erfundenen. Es war, als ob ...
„Denn Daddy machte es auch: Er redete nicht so über Andy, wie er wirklich war. Und so weinen zwar alle und waren traurig, aber nicht über den echten Andy, sondern über einen erfundenen. Es war, als ob keiner richtig Abschied von ihm nimmt. Ich wäre am liebsten aufgestanden und hätte alle angeschrien, dass sie aufhören sollen, über meinen Bruder zu lügen.“
Inhalt
An der Schule des kleinen Zachary Taylor bricht von einer Sekunde zur nächsten das Chaos los, als ein bewaffneter Amokläufer die Türen der Klassenzimmer aufreißt und wahllos auf die Kinder und Lehrer feuert. Geistesgegenwärtig versteckt seine Lehrerin die Kinder und sich selbst im Wandschrank und hofft auf ein glückliches Ende der Situation. Doch nachdem die Polizei den Amokläufer stoppen konnte, zählt man dennoch 19 Todesopfer. Darunter auch Andy, den großen Bruder von Zachary, der bereits in der vierten Klasse war. Fortan bricht die heile Welt von Zachary vollkommen zusammen, denn nicht nur sein eigenes Trauma muss er überwinden, sondern er erlebt auch direkt den Zerfall seiner Familie. Während seine Mutter einen Schock erleidet und später Rachegelüste gegenüber der Familie des Täters hegt, zieht sich sein Vater immer mehr zurück und streitet unaufhörlich mit seiner Frau. Zach versteht längst nicht alles, was genau zwischen den Erwachsenen vorgefallen ist, aber keiner schenkt ihm ein offenes Ohr und spendet Kraft. In seiner Einsamkeit sucht sich Zachary ein Versteck im Wandschrank seines verstorbenen Bruders, dort durfte er früher nie hin, doch jetzt sitzt er auf dessen Schlafsack und erzählt Andy von den Dingen, die ihn wirklich bewegen …
Meinung
In ihrem Debütroman nimmt sich die junge Autorin Rhiannon Navin eines nicht alltäglichen, aber doch bedrohlichen Zustands an, zu dem sie ihr eigenes Kind nach einer entsprechenden Schulübung inspiriert hat. Der Verlag verspricht eine Geschichte wie aus Dunkelheit und Licht: traurig und dabei in jedem Augenblick voll Hoffnung. Und genau so habe ich das Gelesene auch empfunden: direkt, ungeschönt und zutiefst beeindruckend, ganz besonders, weil hier die kindliche Erzählfigur gewählt wurde, die weniger mit dem Verstand als mit dem Herzen denkt und die gerade deswegen den Verlust des großen Bruders in einem ehrlichen, aufrichtigen Licht erscheinen lässt, unabhängig davon, was man angeblich fühlen darf und soll oder auch nicht.
Ganz herausragend finde ich die Charakterisierung der Menschen aus Sicht des 6-jährigen Zacharys, der beide Elternteile irgendwie an diese Ausnahmesituation verliert und sich nichts sehnlicher wünscht als seine Mutter und den Vater so zu bekommen, wie er sie bisher als verlässlich und belastbar erlebte, kannte und liebte. Gerade weil die Autorin sehr geschickt eine Geschichte zwischen den Zeilen entwirft, wird deutlich warum Melissa und Jack nicht so weitermachen können wie bisher, eben weil ihr Leben vor dem Amoklauf auch nicht mehr aufrichtig und in beiderseitigem Einvernehmen stattfand, nur das sie diesen Umstand gegenüber ihren Söhnen gut verbergen konnten.
Wirklich traurig und bedrückend ist das Buch aber nicht, denn Zachary zeigt zwar die gesamte Gefühlspalette zwischen Angst, Trauer, Wut und Einsamkeit, aber immer wieder schöpft er auch Hoffnung, findet kurzzeitigen Trost in Kleinigkeiten und ist sich sicher, dass er seine Eltern hier unterstützen muss, denn diese sind im Angesicht des Schicksalsschlags vollkommen hilflos.
Irgendwie eine verkehrte Welt, wenn sich kleine Kinder genötigt fühlen, ihren Eltern zu helfen, die ihrerseits nicht einmal die Kraft aufbringen, ihrem jüngsten Sohn die Wahrheit zu sagen und ihn in verschiedene Dinge einzuweihen. Dieser Umstand hat mich während des Lesens enorm gefesselt, denn er zeigt, wie viel kleine Kinder wahrnehmen, wie viel ihnen zuzumuten ist und warum es in meinen Augen essentiell wichtig ist, sich auf gleicher Augenhöhe mit den Kindern zu verständigen, ihnen zuzuhören und auch schlimme Situationen im Gespräch zu verarbeiten. Sowohl Melissa als auch Jack können das nicht und deswegen sucht sich Zachary lieber den schweigsamen Wandschrank als emotionalen Rückzugsort, um dort seinem Bruder Andy nachzuspüren.
Fazit
Für diesen ungewöhnlichen, emotionalen Roman mit vielen Denkansätzen und liebevoll gezeichneten Charakteren und Situationen vergebe ich 5 Lesesterne. Tatsächlich ein unverbrauchtes Thema, ein kindlicher Ansatz, ein großes Drama und all das innerhalb eines kleinen Familienverbandes, der durch das Schicksal gebeutelt und geprüft wird. Sicherlich ein Unterhaltungsroman aber kein seichter, sondern einer, der nachdenklich stimmt und Eltern-Kind-Beziehungen aus diversen Blickwinkeln betrachtet. Gerade wenn man selbst Kinder hat, findet man hier wichtige Grundsätze, die man verinnerlicht haben muss, um Vorbildfunktion leisten zu können. Diese Geschichte berührt den Leser, sie macht ihn aufmerksam auf das wichtige im Leben und die Unverzichtbarkeit von Zuwendung und Zärtlichkeit. Absolut empfehlenswert!