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Veröffentlicht am 06.09.2019

Schöner Krimi mit fader Auflösung

Bretonische Verhältnisse
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Bei Krimis bin ich sehr wählerisch, denn ich mag nur solche, die nach klassischem Muster aufgebaut sind und ohne blutrünstige Detailschilderungen auskommen. Von Thrillern und soziopathischen Serienkillern ...

Bei Krimis bin ich sehr wählerisch, denn ich mag nur solche, die nach klassischem Muster aufgebaut sind und ohne blutrünstige Detailschilderungen auskommen. Von Thrillern und soziopathischen Serienkillern halte ich deshalb gebührenden Abstand. Nur altmodische „Whodunits („Wer-hat-es-getan-Krimis“) mit einem Ermittler und vielen möglichen Verdächtigen, die sich auf einem begrenzten Areal (Region, Stadt, Hotel, Landhaus) tummeln bzw. dieses entern, kommen für mich in Frage. Meistens passiert am Anfang und zur Mitte hin ein Mord und die – meist sehr gut auscharakterisierte individualistische – Ermittlerfigur befragt die Verdächtigen und trägt Kenntnisse zur Geschichte der Ermordeten zusammen, um auf das Motiv und letztlich den Täter zu kommen. So mag ich das und deshalb hab ich mich bei lovelybooks.de zum ersten Mal für eine Leserunde beworben, wo ein gewisser „Kommissar Dupin“ seine ermittlerische Premiere in „Bretonische Verhältnisse“ von Jean-Luc Bannalec erleben durfte. Der Vorstellungstext ließ genau so einen altmodischen Krimi erwarten, wie ich sie gerne lese.

Französische Krimis, da fällt einem sofort Georges Simenon ein! In der Tat erinnert Bannelec an den Altmeister was die Herausarbeitung des Französischen angeht. Die Bretagne als Handlungsort hat einen ganz eigenen Charme, den man fast einzigartig nennen möchte. Felsklippen, salzige Meeresluft, mediterranes Atlantikklima und eigenbrötlerische, aber ehrliche Menschen, die sich dem rauen und einfachen Leben, das von viel poetischem Zauber durchsetzt ist und deshalb viele Künstler in ihre Region gelockt hat, angepasst haben.

Mit dem – wie sollte es anders sein – schrulligen Pariser Kommissar Dupin lernen wir die Bretagne und ihre Menschen aus der Sicht einer Person kennen, die nie ganz Bretone sein wird und sich dennoch dem eigentümlichen Charme der Region nicht entziehen kann. Die Sichtweise des staunenden Außerstehenden, „Zugereisten“ also, den seine Sekretärin Nolwenn immer wieder an die Eigenheiten ihrer bretonischen Heimat erinnern muss.

Der Krimi spielt im Hotel- und Kunstmilieu. Der 91jährige Hotelbetreiber Pennec wurde ermordet-warum, das ist hier die Frage. Sehr schnell wird klar, dass die Kunstwelt, die mit dem Tourismus in Pont Aven und Umgebung seit Anfang des 20. Jahrhunderts unmittelbar verknüpft ist, etwas damit zu tun haben muss. Da ich den zukünftigen Lesern die Spannung nicht verderben möchte, verrate ich jetzt nicht zu viel von der Handlung. Nur so viel: es wird früh klar, dass es eine überschaubare Reihe von Verdächtigen gibt – ob Bannalec sich aus diesem Pool bedient oder auf eine externe Erklärung zurückgreifen wird? Ich bin von der Auflösung des Verbrechens jedenfalls überrascht gewesen, allerdings nicht positiv. Die Erklärung für den Mord ist so offensichtlich, dass es eigentlich keinen Spaß macht. Mir fehlt die Raffinesse, der „Aha“-Moment in der Plotgestaltung. Bezeichnend ist dafür am Ende der Satz Dupins: „Wie Sie sagen, am Ende war es kein komplizierter Fall, Monsieur le Préfet. Und das Wichtigste: Der Fall ist gelöst.“ (S. 296) Hm: da frag ich mich doch: soll ein „klassischer“ Krimi nicht genau das liefern: einen „komplizierten“ Fall und einen Ermittler, der diesen trotz seiner Schwierigkeit aufzulösen weiß? Nun ja, ich denke letztlich ist auch das Geschmackssache.

Von seiner Erzählstruktur (4 Ermittlungstage = 4 Kapitel) ist „Bretonische Verhältnisse“ für mich sehr ansprechend. Man steht mit dem Ermittler auf, vergisst mit ihm zu essen um dann letztlich doch ausgehungert ein Bistro aufzusuchen (dabei lernt man ganz nebenbei bretonische Spezialitäten kennen), führt Telefonate, trifft Verdächtige, erkennt die Schönheit der Bretagne um zum Schluss eines jeden Kapitels/Tages todmüde „mit ihm“ ins Bett zu fallen. Dadurch wird versucht ein Gefühl von „Echtzeit“ beim Leser zu erzeugen (man ist bei der ganzen Ermittlung „dabei“ und kann sich selbst ein Bild machen, Kommissar spielen), was ich auf jeden Fall auf der positiven „Haben“-Seite verbuchen möchte. Ich mag die Charakterisierung der Figuren, vor allem die der Frauen (Madame Lajoux, Nolwenn, Madame Pennec, Madame Cassel). Bannalec hat irgendwie ein Händchen dafür individuelle Frauenfiguren zu erfassen, wobei mir die Männer Stromlinienförmiger erscheinen.

Der Debütroman Bannalecs und erste Fall Dupins ist im Großen und Ganzen gelungen. Die Kriminalhandlung ist klassisch und dennoch abwechslungsreich, das Setting liefert bezauberndes Lokalkolorit und die Thematik ist außerdem informativ. Nur die Auflösung und das Verbrechen an sich sind nicht ganz nach meinem Geschmack, ich hätte wie gesagt da einfach „mehr“, etwas anderes erwartet.

Veröffentlicht am 06.09.2019

Leider nicht...

Nachricht von dir
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„Nachricht von dir“ ist in Frankreich ein Bestseller gewesen. Wenn ich das Buch mit einem Wort beschreiben müsste würde ich wahrscheinlich den Begriff „modern“ verwenden. Der Roman ist nämlich ein Buch ...

„Nachricht von dir“ ist in Frankreich ein Bestseller gewesen. Wenn ich das Buch mit einem Wort beschreiben müsste würde ich wahrscheinlich den Begriff „modern“ verwenden. Der Roman ist nämlich ein Buch des 21. Jahrhunderts indem es unsere Gegenwart abzubilden versucht. Die Möglichkeit qua Smartphone immer und überall erreichbar zu sein und sich mit diesem einzigen Gegenstand auch noch ein tragbares Lebensarchiv zu erschaffen ist ein zentrales Motiv des Buches. Im Mittelpunkt stehen zwei Menschen: Zum einen Jonathan. Der ehemalige französische Starkoch, derzeit in San Francisco lebend, hat die Trümmer seiner gescheiterten Beziehung und seiner Karriere vor Augen. Seine Existenz ist bescheiden geworden, genauso wie sein Restaurant und seine Perspektiven. Die zweite Protagonistin ist die englische Floristin Madeline, die in Paris einen kleinen Blumenladen betreibt und gerade frisch verlobt ist mit Raphael. Diese zwei Menschen treffen kurz in einem Flughafenlokal in New York aufeinander, streiten sich wegen eines Sitzplatzes und vertauschen beim Zusammenprall ihre Smartphones. Die Geschichte nimmt ihren Lauf…

Nach Buchbeschreibung und Covergestaltung hatte ich mich – wie so viele andere potentielle Leser - auf eine Liebesgeschichte eingestellt ohne freilich zu ahnen, dass sich nach ca. 150 Seiten Abgründe auftun, die dem Buch einen sehr düsteren Anstrich geben. Man wusste zu diesem Zeitpunkt zwar schon dass sowohl Jonathan als auch Madeline eine Krise durchzustehen hatten, das Ausmaß konnte man aber nicht abschätzen.

Ich kann sagen, dass ich von dem Buch enttäuscht bin, weil es sich in ein so unangenehme Richtung entwickelt hat. Dieser Eindruck hat sich bei mir verstärkt eingestellt, weil ich von den ersten 150 Seiten begeistert und gepackt war. Das Buch hat eine interessante Story versprochen und zunächst auch geliefert, ich habe mit Jonathan und Madeline mitgefiebert und mich gefragt, wie sie wohl zueinander finden würden. Die Schreibweise von Musso hat mir trotz ihrer Einfachheit gut gefallen und auch die Struktur seiner Geschichte. Als dann aber die Handlung rund um Alice einsetzte und die Rückblicke erfolgten, kam ich mir vor als wäre ich in einen anderen Roman eingetaucht, der nichts mehr mit dem erfrischenden Buch zu tun hatte, in das ich so vertieft war. Nein, ich wollte keine Geschichte mit einer gebrochenen Polizistin lesen, ihr Charakter war mir plötzlich unsympathisch. Dass es um eine verschwundene Jugendliche, ein grausames Verbrechen gehen würde hat mich geschockt, weil ich normalerweise keine Thriller lese. Dennoch: es war ab Seite 150 kein Buch mehr für mich. Zu allem Übel kam hinzu, dass sich die klischeehaften Handlungsmomente und Unglaubwürdigkeiten häuften und ich eigentlich nur zu Ende gelesen habe, weil das Buch an sich gut ist und ich wissen wollte, wie es denn nun ausgeht und welchen Twist Musso noch hineinbringen würde.

Veröffentlicht am 06.09.2019

Die liebe Familie...

Irgendwas geht immer
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Englischer Humor: man mag ihn oder man mag ihn nicht. Ich gehöre zu denen die ihn vergöttern. Da habe ich natürlich sofort gedacht dass das Buch von Dawn French etwas für mich wäre, immerhin ist sie eine ...

Englischer Humor: man mag ihn oder man mag ihn nicht. Ich gehöre zu denen die ihn vergöttern. Da habe ich natürlich sofort gedacht dass das Buch von Dawn French etwas für mich wäre, immerhin ist sie eine britische Komikerin (und Schauspielerin) und auch der Klappentext hörte sich nach einer bissigen Komödie aus dem Bereich „Chick-lit“ mit Familienfokus an.

Ob das Buch von Dawn French eins zu eins mit dem typisch bitterbösen, oftmals politisch unkorrekten Humor gleichzusetzen ist? Nein, es ist eher eine abgemilderte Version, aber man kann zu jeder Zeit den kulturellen Background der Autorin erahnen. Laut gelacht habe ich eigentlich kaum, höchstens geschmunzelt, was auch daran gelegen hat, dass sich das Buch – gerade in der Schlussphase – etwas zu ernst nimmt und die satirischen Elemente durch einen Mantel von Sentimentalität zugedeckt werden.

Es handelt sich bei „Irgendwas geht immer“ um einen Tagebuchroman, also die Handlung ist in Ich-Erzählung von unterschiedlichen Personen verfasst – den Mitgliedern der Familie Battle – und umfasst einen chronologisch nachvollziehbaren Zeitabschnitt (ca. Silvester der Gegenwart – das kann man an Angaben im Buch (z.B: es sind 18 Jahre seit dem „annus horribilis“ der Queen 1992 vergangen) festmachen – bis zum 50. Geburtstag von Mo Battle, der Mutter der Familie). In dieser Zeit entwickeln sich die Charaktere und es passieren einige Sachen, die die Battles beschäftigen.

Die Battles bestehen aus der gerade erwähnten Mo Battle (49). Sie ist neben ihrem Dasein als Ehefrau und Mutter noch ausgebildete Psychotherapeutin für Kinder- und Jugendtherapie. Darin liegt auch schon viel von der Ironie der Geschichte, denn: obwohl sie ein Buch mit dem Titel „Teenager-ein Handbuch“ schreibt ist sie mit ihren eigenen Kindern (16/18) mehr als überfordert. Die Verständnislosigkeit für das Verhalten ihrer Tochter Dora ist symptomatisch. Auch für das exaltierte Dandytum des Sohnes hat sie nur ein Kopfschütteln übrig, weshalb sie ihm demnächst einen Termin bei ihrem überheblichen Praxiskollegen George machen will, damit dieser herausfindet warum er so ist wie er ist.

Dieser Sohn heißt eigentlich Peter, nennt sich aber „Oscar“ nach seinem großen Vorbild, dem Dichter Oscar Wilde. Dass er sich gerne gut kleidet (was ihm aber angesichts seiner bescheidenen finanziellen Möglichkeiten und dem fehlenden Angebot mitunter sehr schwer gemacht wird) und im amourösen Bereich dem eigenen Geschlecht zugeneigt ist wird schnell klar.

Dora hingegen, die fast achtzehnjährige Tochter der Battles, steht kurz vor ihrem Schulabschluss und muss sich mit dem Unverständnis ihrer Mutter für ihre Probleme, ihrer Figur (die sie hasst) und dem Wunsch auseinandersetzen, gern eine berühmte Sängerin zu sein. Am liebsten hängt sie auf Facebook herum und chattet mit Jungs, manchmal mit solchen, die sie gar nicht kennt.

Es werden Konflikte auf- und wieder abgebaut. Dabei spielen u.a. Noel, der Therapeut aus Neuseeland, der ein Praxisjahr bei Mo und George macht sowie Lottie, die beste Freundin von Dora und Luke Wilson, Mitglied in Oscars elitärem „Club der Verzauberten“ und Patient von Mo eine Rolle. Außerdem noch der am Titel präsente Hund Poo, der ein Stelldichein mit Folgen hatte.

Der Vater der Familie kommt nur ein einziges Mal in Ich-Form zu Wort, gegen Ende des Buches. Von diesem Eintrag war ich sehr irritiert und muss sagen, dass er eigentlich nicht in das allgemeine Gefühl des Romans hineingepasst hat. Was Frau French sich bei dieser Handlungsführung gedacht hat wird mir ein Rätsel bleiben.

Durch seine Multiperspektivität hat mir das Buch unterschiedlich gut gefallen, denn die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Familie sind einem auch unterschiedlich sympathisch und ihre Sichtweise je nach dem ebenfalls. Die von Peter aka. „Oscar“ erzählten Stellen fand ich sehr köstlich, seinen an Wilde angelehnten, elaborierten Sprachgebrauch fand ich erfrischend amüsant, von Dora und ihrem anstrengenden „Ich bin fast erwachsen und weiß alles besser“-Gerede war ich stellenweise sehr angeödet. Bei Mo war es so mittendrin: ich kann mich einfach nicht genug in eine 49 (bald 50)jährige Kinder- und Jugendtherapeutin hineinversetzen, der die eigenen Kinder ein Rätsel sind. Dennoch war es mitunter ganz amüsant wie sie ihr Leben kurz vor der Menopause beschreibt. Zum Ende hin wird aber alles sehr sentimental und anstrengend, so dass ich das Buch nicht uneingeschränkt empfehlen kann.

Vom haptisch-optischen Aspekt ist dieses Buch hingegen ein echtes Erlebnis. Ich finde es toll dass Verlage immer mehr dazu übergehen den Schnitt eines Taschenbuchs (bisher habe ich das nur bei Taschenbüchern gesehen) mit Motiven zu verzieren. Das ist ein Highlight für alle bibliophilen Menschen und verleiht dem Kulturgut Buch einen echten Mehrwert, den das schnöde digitale Dokument eben nicht bieten kann. Auch den erhabenen Titel und die Umrandung finde ich sehr schön, ich habe während der Lesepausen ziemlich oft das Cover gestreichelt J. Entzückend sind auch die Rezepte für Backwaren aus dem Text, die im Anhang zum Nachkochen wiedergegeben werden.

Veröffentlicht am 26.08.2019

Schwazer Humor - ohne Witz!

Letzte Rettung: Paris
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Die Idee für diesen satirischen Roman ist an sich brilliant und klingt nach einer, aus der der große dramatische Gesellschaftskritiker Oscar Wilde vielleicht ein wundervoll komisches Schauspiel ...

Die Idee für diesen satirischen Roman ist an sich brilliant und klingt nach einer, aus der der große dramatische Gesellschaftskritiker Oscar Wilde vielleicht ein wundervoll komisches Schauspiel gemacht hätte (man bedenke: für ihn gab es auch einen "French Exit" - im wahrsten Sinne des Wortes - 1900 in Paris). Auch könnte ich mir gut vorstellen, dass der Plot als Basis für einen Woody Allen-Film herhalten könnte: 2 reiche, neurotische New Yorker Exzentriker, plötzlich arm im guten alten Paris!

Die Handlung ist folgende: Die Exzentriker Frances und Malcolm haben seit 20 Jahren wie die Maden im Speck vom unmoralisch erworbenen Vermögen des Staranwalts Franklin Price (Ehemann bzw. Vater von Frances und Malcolm) in Manhattan gelebt. Nun ist das Erbe aufgebraucht und das Mutter-Sohn-Gespann zieht mit der Katze "Klein Frank" (der, wie sie glauben, Reinkarnation von Franklin Price) nach Paris in die Zweitwohnung von Frances' bester Freundin Joan. Dort geben sich Malcolm und seine Mutter in die Gesellschaft eines Panoptikums von Zeitgenossen, die ebenfalls nicht ganz "normal" sind.

Die Stärken des Romans liegen in der Charakterisierung der Figuren.
Mit Frances Price (65 Jahre und früher wunderschön) hat der Autor eine narzisstische Hauptfigur geschaffen, die der Leser "liebt zu hassen". Sie kann nur durch gesellschaftliche Anerkennung und/oder Ablehnung existieren - Hauptsache sie ist Gesprächsthema der High Society. Ihre Verschwendungssucht und Dekadenz sind abstoßend und unverständlich. Im Grunde ihres Seins ist sie eine gefallene, einsame Frau, der aus ihren Glanzzeiten nur noch ihre spitze Zunge geblieben ist.
Ihr unselbständiger 32-jähriger Nesthocker-Sohn Malcolm ist ein nerdiger Einzelgänger, der sich von seiner Mutter behandeln lässt, als wäre er keine eigenständige Person, sondern ein Körperteil von ihr. Er ist gesellschaftlich eher inkompetent, der "gesunde Menschenverstand" geht ihm völlig ab. Malcolm hat zudem einen Hang zu merkwürdigen stereotypen Verhaltensweisen (wie Kleptomanie und Voyeurismus) und versteht Ironie nur bedingt (erkennbar z.B in den Gesprächen mit seiner Verlobten - aha! - Susan).

Die Schwächen des Buches sind sicher die Handlungsarmut und überwiegende Humorlosigkeit der satirischen Darstellung. Einzig manche Aussagen und Handlungen von Frances konnten mir ein müdes Lächeln entlocken. Dennoch muss Humor, der der Satire ja inhärent ist, sei er auch noch so schwarz, immer das Lachen zum Ziel haben. Hier funktioniert das leider nicht bzw. nicht für mich.
Der Roman hat auch einige Längen, zum Beispiel hätte man auf die ausführliche Darstellung der Überfahrt unserer Protagonisten auf einem Kreuzfahrtschiff und auf so einige andere redundante Szenen getrost verzichten können.
Für meinen Geschmack driftet das Buch auch zu oft ins Morbide (Frances' Liegenlassen des Leichnams ihres Mannes, die Szene von Malcolm mit dem Bordarzt, der tote Vogel im Park, etc.) sowie ins Groteske (z.B. was Mme Reynard im Tiefkühlfach hat, Gewaltexzess im Park, die Dreiecksbeziehung Malcolm-Susan-Tom) ab.

Der übersetzte Titel "Letzte Rettung: Paris" ist meines Erachtens irreführend und lässt den Roman humorvoller erscheinen, als er eigentlich ist. Das originale "French Exit" hätte besser beibehalten werden sollen, zumal die Themen letzter Akt, Coda, Exit, letzte (Lebens-)Station, Nihilismus, Reinkarnation, Suizid und der Tod in all seinen Spielarten ("Nicht Sterben in Frankreich.") oft thematisiert werden.

Der Roman lässt mich etwas ratlos und deprimiert zurück - erkenne ich die Genialität des Geschriebenen nicht oder ist es einfach nur ein dekadentes, selbstgefälliges Buch, das gar nicht gefallen will?


Veröffentlicht am 02.12.2020

“Werde, die du bist” 2.0 - ohne neue Erkenntnisse!

Ungezähmt
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Schon die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm schrieb gegen Ende des 19. Jahrhunderts: "Werde, die du bist". Dass Frauen sich emanzipieren und ein von gesellschaftlichen Zwängen losgelöstes, selbstbestimmtes ...

Schon die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm schrieb gegen Ende des 19. Jahrhunderts: "Werde, die du bist". Dass Frauen sich emanzipieren und ein von gesellschaftlichen Zwängen losgelöstes, selbstbestimmtes Leben führen sollen, ist wahrlich kein neuer Gedanke. Was also ist neu an "Ungezähmt", der autobiografischen Lebensbeichte von Glennon Doyle? Warum wird das Buch von so vielen (prominenten) Frauen als weibliches "Must-read" in den Himmel gelobt? Ich wollte es wissen und deshalb habe ich es gelesen, denn sonst mache ich um "Selbsthilfe-Ratgeber" eigentlich einen weiten Bogen.

Dass die US-amerikanische Autorin, christliche Bloggerin und Mutter von drei Kindern mit 40 Jahren ihren untreuen Ehemann verlassen hat und seitdem mit der Frau ihres Lebens glücklich und zufrieden lebt, ist schön und auch gut so. Aber muss man daraus ein Manifest weiblicher Selbstfindung erschaffen? Klar, auch Männer sollten rosa Duschgelflaschen benutzen dürfen und sich deswegen nicht weniger männlich vorkommen. Und auch Frauen dürfen wild und gefährlich sein und nach Nordpolexpedition riechen. Aber ist das nicht Makulatur? Braucht es dafür ein Buch?

Es geht in dem Buch eigentlich hauptsächlich um Glennon Doyles Selbstfindung. Sie war süchtig - nach Anerkennung, Alkohol und Abhängigkeit. Sie war bulimisch seit ihrer frühen Jugend. Aber dann wurde sie schwanger und trocken und hat nur noch für ihre Familie gelebt. Und erst nach ihrer Scheidung hat sie quasi auf ihr inneres Selbst gehört und zu selbigem gefunden. Es geht also darum, auf die innere Stimme und damit in erster Linie auf das eigene Ich zu hören. Eine Diktatur des Selbst könnte man sagen. Man soll außerdem lernen den Schmerz des Lebens zu ertragen, um dem wahren Dasein zu begegnen. Sie spricht vom "Großen Schmerz", den es auszuhalten gilt und in dem sich alle treffen. Alles ein wenig pathetisch und vor allem nicht so wirklich neu. Sagte nicht bereits Lord Byron im frühen 19. Jahrhundert: "Der wesentliche Sinn des Lebens ist Gefühl. Zu fühlen, daß wir sind, und sei es durch den Schmerz. Es ist die ›sehnsuchtsvolle Leere‹, die uns dazu treibt, zu spielen – zu kämpfen – zu reisen – zum leidenschaftlichen Tun." Auch die Weisheit, sich selbst treu zu bleiben und nicht dem Druck von außen nachzugeben, finden wir bereits bei Shakespeare: "This above all: To thine own self be true." (Hamlet)

Das Buch ist sehr amerikanisch, nicht nur weil Selbsthilferatgeber einen ziemlich amerikanische "Erfindung" sind. Es geht oft um Therapien, Religiosität und Fremdwahrnehmung. Doppelmoral und reaktionäre Rollenzuschreibungen gibt es auch in unserem vermeintlich liberalen Europa. Dennoch: AmerikanerInnen werden anders sozialisiert. Wenn bereits in der Highschool ein "Homecoming-Court" aus den zehn beliebtesten SchülerInnen gewählt wird, dann wird natürlich einem Klassenbewusstsein Tür und Tor geöffnet, in dessen Denkmustern man nach dem eigenen Beliebtheitsgrad, der sich aus dem Grad der Angepasstheit speist, beurteilt wird - passt man ins Schema der Gesellschaft oder eben nicht. Doyle kritisiert immerhin die amerikanische Mentalität, immer der Beste sein zu wollen, an mehreren Stellen.

Dennoch: Auch nach der Lektüre verstehe ich den Hype um dieses Buch 0,0. Es wird einfach nichts Neues geboten. Doyle verstrickt sich außerdem oft in Widersprüche: Einerseits sagt sie, sie ist ein Mensch, der keine Freunde hat, nur um im nächsten Abschnitt zu sagen dass sie mit dieser und jener Freundin über dies und jenes gesprochen hat. Außerdem meine ich eine gewisse Beliebigkeit in ihren Aussagen zu erkennen. Irgendwie ist alles ein großes Mischmasch: Feminismus, Selbstfindung, Süchte, Co-Parenting, Social Media, Lebensbeichte, Coming-Out, Geschlechterrollen, Erziehungsfragen, Black Lives Matter, Küchenpsychologie, Religiosität, Selbstdarstellung, Selbstliebe, Amerikanismen, Politik, Wohltätigkeit… Mir fehlte einfach der rote Faden, eine gewisse Stringenz, an der man sich entlanghangeln kann.

Dieses Buch mag ja ein Befreiungsschlag für die Autorin gewesen sein, aber was Adele & Co. hier Bereicherndes herauslesen, erschließt sich mir leider nicht.

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