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Veröffentlicht am 12.09.2019

Definitiv ein Buch fürs Herz

Über uns der Himmel
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Darum geht es:

In wenigen Sekunden verliert Kate ihren Mann Patrick bei den Anschägen vom 11.9.2001. Die beiden sind erst ein paar Monate verheiratet und wären eigentlich für den Abend verabredet gewesen, ...

Darum geht es:

In wenigen Sekunden verliert Kate ihren Mann Patrick bei den Anschägen vom 11.9.2001. Die beiden sind erst ein paar Monate verheiratet und wären eigentlich für den Abend verabredet gewesen, weil Patrick ihr eine gute Neuigkeit mitteilen will.

Erst mehr als zehn Jahre später ist Kate bereit, sich mit ihrem neuen Partner Dan einer gemeinsamen Zukunft zu stellen. Doch dann beginnt sie, so lebensecht zu träumen, dass sie nicht mehr genau weiss, was Traum und was Wirklichkeit ist. Vor allem, weil diese Träume ihren Alltag zu beeinflussen scheinen...

Aber auch beruflich tut sich einiges bei der passionierten Musiktherapeutin. Nach und nach beginnt sie nämlich, sich auf gehörlose und stark schwerhörige Kinder einzulassen und entdeckt dabei eine ganz neue Welt und Menschen, die ihre Hilfe benötigen.



Meine Meinung:

Ich habe dieses Buch am 10.9. begonnen und die Handlung beginnt auch genau an diesem Tag, um dann auf die tragischen Ereignisse des 11.9.01 einzugehen. Dies hat mich sehr unvorbereitet getroffen, weil ich die Klappentexte der Bücher meistens nicht lese und ich war sehr betroffen und berührt, schliesslich kann ich mich noch gut an den 11.9.01 erinnern. Ich war noch nicht ganz elf Jahre alt und meine Mutter stand wie paralysiert vor dem Fernseher, als ich von der Schule nach Hause kam und ich wusste sofort, dass etwas Grosses geschehen sein musste, weil der Fernseher bei uns zuhause nie am Nachmittag lief.

Es wird aber gar nicht so sehr auf die Anschläge eingegangen, sondern vielmehr auf den Verlust, den Kate dabei erlitten hat. Die Erinnerungen, die Trauer und die einzelnen Schritte der Verarbeitung sind meiner Meinung nach sehr authentisch und bewegend eingebunden. Ausserdem wird immer wieder aufgezeigt, wie viele positive Erfahrungen Kate auch nach und nach aus ihren Erlebnissen ziehen kann.

Besonders gut gefallen haben mir die Einblicke in Kates Berufsalltag. Als Musiktherapeutin arbeitet sie vor allem mit Kindern und beginnt dann, sich nach und nach mit hörgeschädigten Kindern auseinanderzusetzen. Dazu lernt sie die Gebärdensprache und es wird sehr gut aufgezeigt, welche Vorteile eine Musiktherapie mit sich bringen kann.

Was noch ein zusätzliches Plus für dieses Buch ist: im Anhang finden sich liebevoll zusammengestellte Rezepte, die zu den im Buch beschriebenen Gerichten passen und definitiv Hungrig machen.



Schreibstil:

"Über uns der Himmel" war mein erstes Buch von Kristin Harmel und ich muss sagen, dass ich begeistert bin von dieser Sprache und dem ganz speziellen Aufbau. Die Verflechtung von Traum und Wirklichkeit hat mich ein wenig an Cecelia Aherns Buch "Zwischen Himmel und Liebe" erinnert. Die Sprache ist sehr schlicht und flüssig und vermag dennoch, starke Emotionen hervorzurufen. Dies liegt sicher auch an den genauen Beschreibungen der Gefühle, Gedanken und Gesichtsaudrücke, welche die einzelnen Emotionen, aber auch die Gebärdensprache gut nachvollziehen lassen. Ausserdem sind die Atmosphären der Handlungsorte sehr stimmig erfasst und laden zum Träumen ein, bewegen und erschüttern.



Meine Empfehlung:

"Über uns der Himmel" hat mir ganz viele Tränen und auch immer wieder einmal ein Schmunzeln entlockt. Die wundervolle Handlung, die mit grandios recherchierten Hintergründen überzeugt und die liebevoll skizzierten Protagonisten, sowie der schlichte und trotzdem sehr berührende Schreibstil machen dieses Buch zu einer stimmungsvollen Lektüre fürs Herzl

Veröffentlicht am 05.09.2019

Eine aussergewöhnliche Idee sehr überzeugend umgesetzt

Die verlorenen Briefe des William Woolf
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Inhalt:
William Woolf arbeitet in einem Traumberuf und darf im Depot der verlorenen Briefe in London dafür sorgen, dass aufgrund von unleserlichen oder fehlenden Adressen unzustellbare Briefe doch noch ...

Inhalt:
William Woolf arbeitet in einem Traumberuf und darf im Depot der verlorenen Briefe in London dafür sorgen, dass aufgrund von unleserlichen oder fehlenden Adressen unzustellbare Briefe doch noch ihre Empfänger erreichen. Er selber steckt aber in der mittlerweile unglücklichen Ehe mit Clare, die ihn zugleich bemitleidet und ihm auch fehlenden Ehrgeiz vorwirft, fest. Schliesslich ist er es, der damals den Traum einer Schriftstellerkarriere aufgegeben hat und sich nun täglich durch fremde Post wühlt. während sie als erfolgreiche Anwältin viel Geld verdient. So einfach ist die ganze Geschichte aber nicht und als William wunderschöne Briefe findet, die scheinbar an ihn adressiert sind, realisiert er plötzlich, dass er in seinem eigenen Leben nur noch eine Statistenrolle einnimmt und beginnt, unbeholfen aber immer überzeugter die Spur der rätselhaften "Winter" zu verfolgen, während sein eigentliches Leben, seine Ehe und sein ganzes Umfeld erschüttert werden.

Meine Meinung:
Bei Friedelchen finde ich jeweils die wundervollen Bücher aus dem Wunderraum-Verlag und habe bei ihr auch schon "Wenn der Rest der Welt schläft" entdeckt, das mich ebenfalls begeistert hat. Mit William habe ich das Depot der verlorenen Briefe kennengelernt. Ein Ort, der aus Träumen gemacht scheint. Schliesslich darf man dort, was sonst verboten ist: in fremden Briefen schnüffeln. Und als wäre das nicht genug, gelingt es manchmal sogar, diese verlorengegangene Post wieder auf den richtigen Weg zu schicken und so den eigentlichen Empfänger glücklich zu machen. Ist das nicht eine wundervolle Idee?
Weiter bin ich beeindruckt von der Art und Weise, mit der Helen Cullen es schafft, die Entfremdung zwischen Clare und William darzustellen. Es sind kleine Alltagssituationen, fehlende Gesten der Zärtlichkeit, eine fehlende Kommunikation und gewisse Verhaltensweisen, welche sich die beiden angeeignet haben, um einander aus dem Weg zu gehen, die in ihrer Gänze zeigen, wie sehr sich Beziehungen verändern können, auch wenn man das so gar nicht will.
Williams Suche nach "Winter" führt ihn nach Dublin, wo er an glückliche Zeiten erinnert wird, während er einem Phantom hinterherjagt. Dies ist manchmal amüsant, meistens aber sehr schmerzlich und voller Mitgefühl und Hoffnung habe ich atemlos Seite um Seite umgeblättert, um herauszufinden, ob und wie unser - genau wie seine Briefe - verlorener Protagonist doch noch den Platz in seinem eigenen Leben finden kann.

Schreibstil:
Sanft und einfühlsam schildert Cullen einen Mann, der einfach nur irgendwie ein wenig aus seinem Leben gefallen ist, der eigentlich alles hat, aber nicht wirklich glücklich sein kann, weil er gar nicht weiss, was er wirklich will. Immer wieder nutzt Cullen die Briefe, die William nicht nur von "Winter" sondern auch von anderen Absendern findet, als Mittel, William eine Tür zu einer neuen Entscheidung oder einem neuen Abenteuer zu öffnen und hat letztendlich mit diesem Buch eine Hommage an den (hand-)geschriebenen Brief verfasst, die Lust macht, gleich selber zu Papier und Stift zu greifen. Mit viel Liebe zum Detail zeigt sie, was ein Brief alles im Sender und Empfänger bewirken kann und lässt zudem viel Poesie und Humor in eine Geschichte einfliessen, die von der ersten bis zur letzten Seite berührt.

Meine Empfehlung:
Ich bin so froh, dieses Buch gelesen zu haben, weil es mich an viele wundervolle Stunden erinnert hat, in denen ich Briefe geschrieben und gelesen habe und weil es mit einer aussergewöhnlichen Handlung, einem liebenswerten Protagonisten und einer einfühlsamen Erzählsprache überzeugen und berühren kann.

Veröffentlicht am 27.08.2019

Das Entdecken einer ganz neuen Welt....

Harry Potter und der Stein der Weisen (Harry Potter 1)
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Zuerst möchte ich anmerken, dass ich dieses Buch als siebenjähriges Kind zum ersten Mal gelesen habe. Meine Rezension habe ich nach dem (ersten und bisher einzigen) Reread im September 2018 getippt).

Die ...

Zuerst möchte ich anmerken, dass ich dieses Buch als siebenjähriges Kind zum ersten Mal gelesen habe. Meine Rezension habe ich nach dem (ersten und bisher einzigen) Reread im September 2018 getippt).

Die Vorgeschichte:
Muss ich euch etwas erzählen von einer Faszination, die mich als Kind befiel und nicht mehr losliess? Von fiebrig glänzenden Augen, zitternden Händen und dem Eintauchen in eine nie dagewesene Welt, die mein ganzes Universum verändert hat?
Ich habe Woodstock und die Queen verpasst, aber ich hatte das Glück, mit Harry Potter aufzuwachsen und nicht nur das: ich gehörte zu einem dieser Jahrgänge, die mit Harry grösser, älter und erwachsener geworden sind.
Ungefähr in den Jahren 1999/2000/2001 las ich nämlich die ersten vier Bände im Alter von sieben, acht und neun Jahren (den vierten Band bekam ich zum neunten Geburtstag) und musste mich nachher jeweils ganze!!! zwei!!! Jahre!!! gedulden, bis ich 2003/2005/2007 den nächsten Band ergattern konnte. Ja, auch ich habe um Mitternacht die Buchhandlungen gestürmt und dann gelesen, bis mir die Augen zugefallen sind. Und dann ging das grosse Warten los, endlos lange, bis der nächste Band endlich da war... Wenigstens war es dazwischen möglich, die Filme anzusehen und so immerhin noch ab und zu in die Potterwelt einzutauchen und nicht komplett die Geduld zu verlieren. Vor allem die ersten drei Filme mit ihrer grandiosen Filmmusik konnten mich überzeugen. Ab dann ging es abwärts, den siebten/achten Film wollte ich mir gar nicht mehr ansehen (und habe dies erst vor zwei Jahren nachgeholt und tatsächlich: die Musik ist eine Katastrophe) und ich hielt mehr und mehr an der Potterwelt fest, die sich mir beim Lesen der Bücher eröffnet hatte.
Aus Angst, im Erwachsenenalter nicht mehr die gleiche Faszination und Liebe für meine Helden und ihre Geschichte aufbringen zu können, verzichtete ich auf einen Reread und verliess mich auf meine positiven Erinnerungen. Aber eigentlich wollte ich schon lange wieder einmal zu den Büchern greifen und in der Nacht vom 1. zum 2. September (mit der Fahrt des Hogwarts-Express beginnt das Schuljahr in Hogwarts am 1.9.) war es dann endlich so weit und ich griff erneut zum ersten Band, nach fast zwanzig Jahren...

Leseeindrücke:
Nicht einmal eine Seite habe ich gebraucht und schon war ich wieder im Ligusterweg 4 und konnte auch nach so vielen Jahren kaum glauben, welche neue Welt sich mit jedem gelesenen Satz, jeder weiteren Figur, die ich wiedererkannte, vor mir auftat. Wie nur kann eine einzelne Autorin so ein komplettes, durchdachtes und in sich logisches Universum aufbauen? Wohl wirklich nur mit Magie...
Ich fasse euch keine Handlung zusammen, ich erzähle jetzt nichts zum Schreibstil und den Figuren, aber etwas erwähne ich wirklich sehr gerne:
Ich hätte nicht gedacht, dass mich diese Geschichte auch Mitte Zwanzig und nach so vielen anderen gelesenen Büchern und so vielen geschauten Filmen noch genau gleich mit ihrem Setting, den Figuren, der ganzen Handlung, der Erzählsprache, den Emotionen und Beschreibungen überzeugen kann, wie vor achtzehn Jahren. Versteht mich nicht falsch: ich habe an den ungebrochenen Zauber dieser Geschichte geglaubt und auch daran, dass keine auf sich aufbauende und siebenteilige Jugendbuchreihe vorher und nachher je wieder so zeitlos, stets aktuell und publikumswirksam sein würde, wie "Harry Potter", aber ich habe nicht damit gerechnet, dass ich die Geschichte auch wirklich immer noch als SOOOO gut und vor allem noch besser empfinde, als damals. Nun nämlich, wo ich weiss, wohin das Ganze führt/führen wird/führen kann, ist der Zauber des ersten Lesens verflogen klar, aber ich bewundere die wunscherschönen Beschreibungen, das ausgereifte Handlungskonstrukt, die grandios skizzierten Figuren, die Recherchearbeit und die der Geschichte eigene (magische) Logik und erzählerische Schönheit noch mehr.

Meine Empfehlung:
Nach so vielen technischen Details und Infos bleibt mir nur zu sagen, dass ich "Harry Potter" ungebrochen empfehle und dass es eigentlich gar keine Worte gibt, um dies zu begründen. Ich bin unendlich dankbar, mit diesen Büchern und Figuren aufgewachsen zu sein und wer diese Emotionen damals nicht durchlebt hat, das Warten auf den nächsten Band, die Spannung, bis um Mitternacht endlich die Türen der Buchhandlung öffneten, der ist erstens zu bedauern und der wird zweitens wohl nie ganz verstehen können, was "Harry Potter" für eine ganze Generation war. Verzichtet aber bitte trotzdem nicht (und NIE) darauf, euch nach Hogwarts zu begeben und die Geschichten nicht nur selber immer wieder zu lesen, sondern diese Bücher auch euren Kindern und Kindeskindern vorzulesen, zu kaufen, zu leihen und ihnen vorzuleben, dass es sich immer wieder lohnt, für seine Überzeugungen zu kämpfen und den Glauben an das Gute nicht zu verlieren. Denn wenn uns Harry und seine Geschichte etwas gelehrt haben, dann dass: auch in Kinder- und Jugendbüchern hat es Platz für Politik und es ist nie zu früh, mit seinen Kindern über Werte, Mitgefühl, Respekt und Toleranz zu sprechen.

Veröffentlicht am 26.08.2019

Liebevoll geschrieben und aussergewöhnlich aufgemacht

Mein Leben mit Mozart
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Meine Meinung:

Mit Mozart verbindet mich eine sehr ambivalente Beziehung. Als Musikerin begleitet er mich durch mein ganzes Leben, er ist in meinem Alltag omnipräsent und weckt wundervolle, aber auch ...

Meine Meinung:

Mit Mozart verbindet mich eine sehr ambivalente Beziehung. Als Musikerin begleitet er mich durch mein ganzes Leben, er ist in meinem Alltag omnipräsent und weckt wundervolle, aber auch sehr ermüdende Erinnerungen. Während vor allem sein Vokalwerk, insbesondere natürlich das Requiem und seine Opern, mit denen ich mich im Studium intensiv befasst habe, mich stets aufs Neue begeistern und berühren, langweilen mich die eigentlich grandios komponierten, aber leider viel zu oft lieblos aufgeführten Klaviersonaten und Sinfonien, die als Einheitsbrei daherkommen, zu Tode... Schmitt hat sich aber auf ganz eine andere Weise mit Mozarts Musik auseinandergesetzt und vor allem an einem sehr verzweifelten Punkt in seinem Leben zum ersten Mal den Zauber dieser grandiosen Kompositionen erlebt.

Von Liebe, Leidenschaft, dem Menschwerden und -sein, vom geschriebenen Wort und dem magischen Moment, die einer Aufführung innewohnen kann, vom Hadern, Suchen und letztendlich Finden schreibt Eric-Emmanuel Schmitt in seiner Briefesammlung "Mein Leben mit Mozart". Und er weckt damit eine Sehnsucht nach der im Buch erwähnten Musik, die hoffentlich zu einem genaueren Hinhören und Umdenken sowohl des Publikums, als auch einiger Kunstschaffender dieser Welt führen kann. Kurze und längere Briefe werden in "Mein Leben mit Mozart" direkt an den grossen Komponisten gerichtet und so erfahren wir Leserinnen und Leser einige Details, Gedanken und Gefühle aus Schmitts Leben. Diese liebevolle Mischung aus musikalischen Details, Lebensgeschichte und schriftstellerischer Glanzleistung, macht "Mein Leben mit Mozart" zu einem ganz wundervollen und aussergewöhnlichen Buch.


Meine Empfehlung:
Eric-Emmanuel Schmitt hat mit diesem Buch geschafft, was sonst nur eine wirklich brillante Aufführung einer Mozartsinfonie schaffen kann: er hat mich - zumindest für den Moment - ein wenig mit Mozart versöhnt. Von mir gibt es deshalb eine deutliche Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 20.08.2019

Stalin aus der Sicht eines Kindes, voller Metaphern und grandios

Guten Morgen, Genosse Elefant
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Meine Meinung:
Der KiWi-Verlag hat mich mit diesem Rezensionsexemplar überrascht und dabei komplett ins Schwarze getroffen. Wer hier schon länger mitliest weiss ja, dass mir die damalige Sowjetunion literarisch ...

Meine Meinung:
Der KiWi-Verlag hat mich mit diesem Rezensionsexemplar überrascht und dabei komplett ins Schwarze getroffen. Wer hier schon länger mitliest weiss ja, dass mir die damalige Sowjetunion literarisch und vor allem musikalisch sehr am Herzen liegt und ich mich sehr für deren Geschichte natürlich auch für Bücher, die dort spielen, interessiere.
Mir wurde "KEIN Wohlfühlbuch" versprochen, aber ein Buch, das zum Nachdenken und Schmunzeln einlädt, eines, das niemanden kalt lässt und viel Diskussionsstoff bietet. Genau dies und noch viel mehr habe ich auch bekommen. Besonders gut gefallen hat mir der wundervolle Protagonist und der Schreibstil, der es geschafft hat, authentisch, intelligent und spannend aus der Sicht eines Zwölfjährigen zu erzählen.
Selbstverständlich geht es in diesem Buch aber nicht nur um Juri, sondern auch um ein System, das mit Doppelgängern, Manipulation, Vertuschung, Saufgelagen und Intrigen arbeitet, mit Machtmissbrauch, Gewalt, Folter und der Auslöschung unerwünschter Stimmen. Was ist wahr? Was ist real? Historische Ereignisse vermischen sich mit Fiktion, Namen werden geändert und als Leser kann man munter miträtseln, wer sich hinter welchem Pseudonym versteckt und wie die Fäden der Geschichte zusammenlaufen (könnten).

"Dieser Patient hat keine Vorgeschichte"
"Aber jeder Mensch hat eine Vorgeschichte", protestiert Papa, "Allein schon, weil er geboren wurde."
"Der Genosse ist ein Elefant, der eine äusserst hohe Stellung einnimmt. Besässe er eine medizinische Vorgeschichte, wäre er krank gewesen, und das könnte ihm als Schwäche ausgelegt werden, als ein Versagen seiner Macht und Vitalität, eine Begrenzung seiner Fähigkeiten."
S. 44


Schreibstil und Handlung:
Juri ist zwölf Jahre alt, leidet nach mehreren schweren Unfällen an Epilepsie, hat ständig ein Grinsen in seinem Gesicht und wirkt auf seine Mitmenschen ein wenig debil. Er ist aber alles andere als das. Vielmehr hat er von seinem Vater sehr viel über das Gehirn von Säugetieren gelernt, denkt logisch und verfügt über eine sehr charmante, kluge und gewinnende Art. Alle Menschen wollen sich ihm anvertrauen und schnell wird dem Leser klar, dass Juri ein kleines Rädchen im grossen Getriebe ist und in dem komplexen und totalitären System verschwinden und eingespannt werden soll.

"Wie es der Zufall will, habe ich eine kleine Aufgabe für dich. Du errätst bestimmt nicht, worum ich dich bitten will."
"Soll ich Augen und Ohren offen halten und Ihnen Bericht erstatten?"
"Gut gebrüllt..." Er blinzelt und runzelt überrascht die Stirn. "Wie um alles in der Welt bist du nur darauf gekommen?"
Ich zucke die Achseln. "Ich bin zwar noch neu im Geschäft der Politik", gestehe ich, "aber ich lerne dazu."
S. 114

Juri erzählt in Ich-Form aus seiner Sicht und schildert interessante, humorvolle und tragische Ereignisse aus seinem Alltag. Dabei hat mich begeistert, wie wunderbar es dem Autoren immer wieder gelingt, Juri im Dunkeln zu lassen, was um ihn herum geschieht. Aufgrund der Andeutungen und dem Wissen, das wir erwachsenen Leser natürlich im Nachhinein von der russischen Geschichte haben, erkennen wir viel schneller, was es mit einigen Begebenheiten auf sich hat, und sehen viel schneller die Gefahren, in die Juri hineinschlittert. Dies ist vom Autor wirklich grandios gelöst und sorgt für uns Leser natürlich auch für eine gewisse Beklemmung, weil wir viel mehr Zusammenhänge erkennen und schneller sehen, was Juri leider auch noch alles erdulden muss.
Ja, es wird traurig, auch brutal und ungemütlich. Und trotzdem hat der KiWi-Verlag recht mit jedem seiner Versprechen: dieses Buch macht auch glücklich. Es regt zum Nachdenken an und lässt zwar tief in ein brutales System blicken (was für fundierteste Recherchen des Autors spricht), es sorgt aber vor allem für ganz viel Liebe zu diesem herzerweichenden Protagonisten und dessen Geschichte, für ganz viel Dankbarkeit, dass man in einer Demokratie leben darf und für immer mehr Lust auf (russische) Geschichte, auf historische Hintergründe und weitere spannende Bücher des Autors.

"Ideen sind mächtiger als Waffen. Wir lassen nicht jeden eine Waffe tragen, warum sollten wir sie also Ideen haben lassen?"
S. 148

Meine Empfehlung:
Dieses berührende, beklemmende und trotzdem immer wieder von einem kindlichen Optimismus geprägte Buch möchte ich euch besonders ans Herz legen. Äusserst fundierte Recherchen des Autors, eine gelungene Verknüpfung historischer Fakten mit Fiktion, viel Humor, der herrlich naive und zugleich kluge und menschenfreundliche Protagonist und ein Schreibstil, der in seiner Finesse und Authentizität seinesgleichen sucht, machen "Guten Morgen, Genosse Elefant" mit jeder Seite zu einem zum Nachdenken anregenden Stück Literatur, das im wahrsten Sinne des Wortes nach den Sternen greift.