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Veröffentlicht am 11.02.2021

Kim Jiyoung, eine Frau wie jede

Kim Jiyoung, geboren 1982
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„Es gibt viele Menschen, die die Augen vor der Tatsache verschließen, dass Dinge wie Wirtschaftsflaute, hohe Preise, ein schlechter Arbeitsmarkt oder persönliche Lebensnöte Mann und Frau gleichermaßen ...

„Es gibt viele Menschen, die die Augen vor der Tatsache verschließen, dass Dinge wie Wirtschaftsflaute, hohe Preise, ein schlechter Arbeitsmarkt oder persönliche Lebensnöte Mann und Frau gleichermaßen treffen.“

Inhalt

Für Chong Daehyon ist es erschreckend, dass seine Frau nach der Geburt des ersten gemeinsamen Kindes ernstlich an einer Depression erkrankt und in bestimmten Momenten ihre Stimme und den Charakter ändert, um stellvertretend für andere zu sprechen. Er geht mit ihr zu einem Therapeuten, der die Ursachen dieser Veränderung herausfinden soll, doch der ist sich ziemlich sicher, dass es für Kim Jiyoung keine Medikamente gibt, denn was die junge Frau durchlebt, hat er selbst an seiner eigenen Frau wahrgenommen und die Gründe sind kein festgeschriebenes Krankheitsbild, sondern die akute Verzweiflung der Frauen immerzu zwischen allen Stühlen zu sitzen und egal welche Entscheidung sie treffen, es ist niemals die richtige. Sie sind gebildet, sie sind höflich und zuvorkommend, sie sind engagiert in ihrem Beruf und ganz bewusst Mutter geworden, doch die Rolle, die sie für die Gesellschaft spielen gesteht ihnen keinen Platz zu und orientiert sich an übernommenen Denkmustern und fehlender Bereitschaft, Frauen als einen wesentlichen Bestandteil der Welt wahrzunehmen …

Meinung

Die junge koreanische Autorin Cho Nam-Joo hat mit diesem Roman ein Statement abgegeben, dem man mit zunehmender Begeisterung folgen kann, weil ihre Gesellschaftskritik weder anmaßend, noch schockierend, noch unbedeutsam erscheint, sondern sich an schlichten, unabwendbaren Fakten orientiert, die sie mittels Quellentexten direkt in die Geschichte einbaut. Sie selbst hat es so erlebt, ebenso wie tausende andere. Im Nachwort gibt sie in einem schlichten Satz wieder, was es eigentlich mit diesem Stück zeitgenössischer Literatur auf sich hat: „Die ganze Zeit über, in der ich diesen Roman schrieb, hatte ich Mitleid mit ihr und war bedrückt. Doch ich weiß, dass sie genauso aufgewachsen ist und keinen anderen Weg gewusst hat.“ Und der Erfolg des Buches, welches sich weltweit schon über zwei Millionen mal verkaufte und mittlerweile erfolgreich verfilmt wurde gibt ihr jene Stimme, die ihre Protagonistin so gerne hätte, ein Wort welches nicht nur eine leere Phrase ist, sondern wirklich Veränderungen herbeizuführen vermag.

Der Schreibstil des Buches ist eher distanziert, man spürt die Emotionen weniger direkt als vielmehr unterschwellig im Verhalten der Akteure. Dieser Abstand zwischen den tatsächlichen Gefühlen wie Wut, Scham, Verletzlichkeit, Unverständnis und Anpassung wird aber gerade durch diese sachliche Intonation sehr generalistisch und präsent. Denn die Autorin führt sehr langsam und Schritt für Schritt an diese geballten Vorwürfe heran, die sie eigentlich nicht als solche entlarvt und die dennoch genau das sind: Vorwürfe, warum es auch in der Gegenwart nicht möglich ist, als Frau freie Entscheidungen zu treffen. Dabei klagt sie nicht nur eine Person an, sondern de facto das Zusammenspiel aller Faktoren, welches sich möglicherweise durch Erziehung und Konsequenz ergibt.

Sie geht auch zurück in die Generation der Mütter und Großmütter, die sich bei der Geburt eines Mädchens schon schlecht fühlten und später sogar zu Abtreibungen angehalten wurden, damit dem Land um Himmels Willen keine männlichen Nachkommen vorenthalten werden. Sie thematisiert das stigmatisierte Heranwachsen der Mädchen, die schon als kleine Kinder all jene Fähigkeiten beigebracht bekommen, die sie später als gute Frau und Mutter beherrschen müssen. Sie macht ebenso deutlich, dass sich die Bildungschancen zwar für beide Geschlechter gebessert haben, aber Geld und Einfluss eine große Rolle spielen, wer, wann, welchen Posten oder welche Ausbildung bekommt. Spätestens wenn die Frauen sich für eine eigene Familie entscheiden, ist ihr berufliches Fortkommen ad acta gelegt, denn die Männer in der Gesellschaft wollen keine arbeitenden Mütter und staatliche Unterstützung bleibt aus, ganz im Gegenteil, sie ist entweder nicht bezahlbar oder nicht lohnenswert, und wenn die Frau dennoch arbeiten möchte, lassen sich weder die Zeiten noch das geringe Einkommen damit vereinbaren. Warum sollte denn eine Mutter arbeiten gehen, wenn doch der Mann der Versorger ist?

Fazit

Ich vergebe sehr gute 4,5 Lesesterne für diesen fiktiven Roman, der so viele Wahrheiten auf wenigen Zeilen hervorzuheben vermag. Der Wert einer Frau, ihr Wirken in der Welt, ihr tatsächlicher Einfluss außerhalb der Familie – all das wird auf bedrückende Art und Weise vermittelt.

Die Geschichte selbst umspielt eine gewisse Zeitlosigkeit, eine Einfachheit, die jeder irgendwo kennt und in mehr oder weniger hohem Maße bestätigen kann. Dadurch wird der Text universell und eignet sich für fast jeden Leser, egal ob für die Verfechter der Frauenrechte oder für Männer, die die Sorgen und Nöte der eigenen Frau nicht verstehen, wenn diese plötzlich Mutter geworden ist. Möglicherweise wird so ein Roman in entsprechenden Kulturen, die eher rückschrittlich orientiert sind, noch mehr Aufruhr verursachen, denn in vielen kleinen Nebensätzen ergießt sich das ganze Ausmaß der Kritik, die hier schön sachlich und wohldosiert verpackt wird.

Schade nur, dass ich den direkten Bezug zu den Personen vermisst habe– dadurch das es eine so universelle Geschichte ist, fehlt ihr eine für mich nennenswerte Individualität. Deshalb ziehe ich ein halbes Sternchen ab, verbunden mit der Bitte, dass sich möglichst viele Leser an die Lektüre wagen und ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen.

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Veröffentlicht am 18.02.2020

Auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte

Klara vergessen
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„Diese Natur hingegen feierte das stetige Erwachen eines Lebens, das immer anders und doch unveränderlich war. Am Ende der Suche nach seiner Großmutter stand die Rückkehr zu ihm selbst.“

Inhalt

Juri ...

„Diese Natur hingegen feierte das stetige Erwachen eines Lebens, das immer anders und doch unveränderlich war. Am Ende der Suche nach seiner Großmutter stand die Rückkehr zu ihm selbst.“

Inhalt

Juri Bondarew kehrt nach vielen Jahren in seine Heimat Russland zurück, um ein letztes Mal am Sterbebett seines Vaters zu stehen. Seiner Familie hat er schon in jungen Jahren den Rücken gekehrt, denn dort fand er weder Liebe noch Anerkennung. Sein Vater Rubin war Kapitän eines Fischtrawlers und bedachte ihn mit Strenge, Züchtigungen, später nur noch mit Verachtung und seine Mutter Reva hat all das hingenommen, ohne sich jemals schützend vor ihren Sohn zustellen.

Mittlerweile ist Juri erfolgreicher Ornithologe in Amerika, der sich seiner Vergangenheit nicht stellen möchte, weil er äußerst genau um ihre wunden Punkte weiß. Doch Rubin steht in seinen letzten Stunden ohnehin nicht der Sinn nach Versöhnung, vielmehr möchte er Juri für die Aufarbeitung der Familiengeschichte sensibilisieren, in deren Zentrum dessen Großmutter Klara stand. Jene Frau, die als erfolgreiche Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der Geologie tätig war und in einer gewaltsamen Nacht- und Nebelaktion spurlos verschwand …

Meinung

Die französische Autorin Isabelle Autissier konnte mich bereits mit ihrem Roman „Herz auf Eis“ absolut begeistern, so dass ich „Klara vergessen“ mit einer entsprechend hohen Erwartungshaltung begonnen habe. Diesmal schildert sie aus drei Perspektiven heraus die Geschichte der russischen Familie Bondarew, die sich im totalitären System Stalins ebenso behaupten musste, wie in der Neuzeit. Damit ist ihr ein umfassender, beeindruckender Generationenroman gelungen, der einerseits die Auswirkungen der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen auf das Leben Einzelner zeigt und andererseits die Versöhnung mit einer dramatisch, bedauernswerten Vergangenheit im Rahmen einer persönlichen Spurensuche.

Die Erzählung besticht durch Vielfältigkeit, die sowohl politische als auch individuelle Entwicklungen in einen stimmigen Kontext setzt und sich letztlich mit dem Seelenfrieden und der Vergebung vergangener Entscheidungen beschäftigt. Darüber hinaus erzeugt sie durch einzigartige Naturbeschreibungen ein eisiges, unwirtliches Bild einer menschenverachtenden Umgebung, in der die Natur die Oberhand über Leben und Tod behält.

Fazit

Ich vergebe 4,5 sehr gute Lesesterne für diesen informativen, fesselnden Roman mit einem stimmungsvollen Hintergrund, der besonders für die russische Nachkriegsgeschichte begeistern kann und zudem authentisch, persönlich und betroffen wirkt, weil Emotionen oder deren Fehlen spürbar werden. Dennoch reicht meine Begeisterung nicht ganz an die ihres Vorgängerromans heran, was vielleicht am Gesamtkontext und der Stimmung selbst liegen mag, denn obwohl beide Bücher schriftstellerisch und sprachlich brilliant sind, bleibt hier nicht so viel Interpretationsspielraum, nachdem man die Lektüre beendet hat. Ein sehr empfehlenswertes Buch, dem ich gerne meine Lesezeit geschenkt habe und welches mehr bietet als bloße Unterhaltungswerte.

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  • Cover
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  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.09.2019

Die grausamen Morde der Heiligen

Blutzeuge
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„Polizisten waren da wie Terroristen – sie warfen verheerende Bomben in das Leben der Freunde und Angehörigen der Opfer, und dann standen sie da und betrachteten den Schaden, den sie angerichtet hatten.“


Inhalt


Jane ...

„Polizisten waren da wie Terroristen – sie warfen verheerende Bomben in das Leben der Freunde und Angehörigen der Opfer, und dann standen sie da und betrachteten den Schaden, den sie angerichtet hatten.“


Inhalt


Jane Rizzoli und Maura Isles werden diesmal mit einer Mordserien konfrontiert, die wie ein biblisches Szenario wirkt, denn die Opfer, egal ob männlich oder weiblich werden durch ein Betäubungsmittel außer Gefecht gesetzt, anschließend erstickt und post mortem in einem bizzaren Bild präsentiert, welches an die Todesart katholischer Heiliger anknüpft. Willkür kann ausgeschlossen werden, denn Maura findet mit Hilfe des Priesters Daniel Brophy heraus, dass die jeweilige Verstümmelung der Toten an das Geburtsdatum der Opfer angepasst ist. Wer immer der Mörder ist, seine Rache scheint vollkommen.

Schon bald stößt Jane auf eine Verbindung in die Vergangenheit, nachdem sie eine junge Frau ausfindig gemacht hat, die mit allen Opfern in direkter Verbindung stand. Denn Holly Devine war vor vielen Jahren ein Kind, welches in einen spektakulären Fall von Kindesmissbrauch unter Schutzbefohlenen beteiligt war. Die Familie der Betreuungspersonen ist damals zu einer langjährigen Haftstrafe verurteil wurden, doch der Sohn der Verurteilten wurde vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen und scheint nun seinen Rachefeldzug begonnen zu haben …


Meinung


Auch in ihrem derzeit aktuellsten Fall der Rizzoli-Isles-Reihe vermag es die amerikanische Bestsellerautorin Tess Gerritsen eine psychologische Geschichte rund um Schuld und Rache mit einer gruseligen Mordserie zu verbinden und den Leser in ein spannungsgeladenes Intermezzo zu schicken.

Gerade die wechselnden Perspektiven aus Sicht des Ermittlerduos und des potentiellen nächsten Opfers fand ich sehr gelungen, zumal man schnell merkt, dass die anscheinend bedrohte junge Frau weit mehr verbirgt, als sie zugeben möchte. Dadurch nimmt die Spannung im zweiten Teil des Buches zwar etwas ab, dafür möchte man nun unbedingt wissen, wie die genauen Zusammenhänge in diesem verzwickten Fall sind.

Warum werden alle Beteiligten, die damals Zeugen in einem Kindesmissbrauchsprozess waren so grausam hingerichtet? Warum beteuert der Verurteilte und nun wieder freie Mann, mit den Morden nichts zu tun zu haben? Wer möchte den letzten beiden Opfern nun Schaden zufügen? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter?

Tess Gerritsen spielt die Klaviatur des Grauens ganz vorzüglich, sie entwirft einen interessanten Plot mit fragwürdigen, undurchschaubaren Protagonisten und schickt den Leser auf eine Reise quer durch die menschliche Gefühlspalette.


Fazit


Auch der 12. Band dieser Reihe ist sehr lesenswert für Thrillerfans und bekommt 4,5 Lesesterne (aufgerundet 5) von mir, sowohl für die Idee als auch ihre Umsetzung: Ein Kinderhort mit Missbrauchsfällen, eine aktuelle Mordserie, ein Szenario rund um Schuld und Rache und ein aufmerksames Ermittlerteam, welches sich nicht so schnell auf die falsche Fährte locken lässt. Krimiliteratur vom Feinsten!

Veröffentlicht am 10.06.2019

Ein Leben am Abgrund, an dessen Ende nichts wartet

All das zu verlieren
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„Wen kümmern im Grunde die Fundamente, für die er sich so abgerackert hat. Wen kümmern die Stabilität, die sakrosante Aufrichtigkeit und abscheuliche Offenheit. Vielleicht, wenn er schwieg, würde es trotz ...

„Wen kümmern im Grunde die Fundamente, für die er sich so abgerackert hat. Wen kümmern die Stabilität, die sakrosante Aufrichtigkeit und abscheuliche Offenheit. Vielleicht, wenn er schwieg, würde es trotz allem halten. Sicher genügte es, die Augen zu verschließen.“


Inhalt


Für Adéle ist jeder Tag ein Spießrutenlauf, sie funktioniert mehr schlecht als recht in ihrem ganz normalen Alltag, zwischen ihrer Arbeit als Journalistin und der Rolle als Frau und Mutter. Doch insgeheim sehnt sie sich nach Extremerfahrungen, sie möchte körperliche Grenzen spüren, sich verlieren und ihr Dasein als Spießbürgerin abstreifen, ohne Rücksicht auf Verluste. Über die Jahre hinweg hat sie sich ein gut funktionierendes Doppelleben aufgebaut: sie trifft sich mit wildfremden Männern zum Sex, baggert ihre Kollegen an, findet ständig Möglichkeiten für ein schnelles sexuelles Abenteuer und kehrt im Anschluss wieder zurück in ihren routinierten Tagesablauf. Immer wieder möchte sie mit dieser Zwangshandlung aufhören, weil sie sich sehr bewusst ist, was sie dafür aufs Spiel setzt, doch sie ist eine Getriebene, ihren Obsessionen ausgeliefert und unfähig einen Schlussstrich zu ziehen. Erst als ihr Mann Richard durch bloßen Zufall das Ausmaß ihres Betruges aufdeckt und sie damit konfrontiert, gelingt es Adéle eine kurzfristige Entscheidung zu Gunsten der Familie zu treffen. Trotzdem steht sie kurze Zeit später erneut vor diesem Abgrund, an dessen Ende nichts wartet.


Meinung


Dieses Buch wollte ich unbedingt lesen, zum einen weil die Handlung sehr ungewöhnlich klingt, zum anderen weil mich die Autorin mit ihrem Werk „Dann schlaf auch du“ bereits von ihrer schriftstellerischen Arbeit überzeugen konnte. Und auch „All das zu verlieren“ hat sich definitiv gelohnt, denn obwohl es die Thematik Betrug innerhalb einer Partnerschaft anschneidet, ist es doch in erster Linie das Porträt einer gestörten Seele, ein Hilfeschrei, eine Auseinandersetzung mit Ängsten und Zwängen und sehr bald taucht man als Leser tief in das Seelenleben der Protagonistin ein.


Sprachlich trifft dieser Roman genau meinen Geschmack, es ist eine gelungene Mischung zwischen Erzählung, Selbstbildnis und objektiver Betrachtung. Gerade der leicht distanzierte Schreibstil aus der dritten Person Singular heraus, macht es mir sehr einfach, eine Grenze zwischen der Adéle im Buch und persönlichen Erfahrungen zu ziehen. Denn obwohl die Protagonistin äußert unangenehm auftritt, ich keinerlei gemeinsame Schnittpunkte oder Denkweisen ermitteln konnte, war es mir ein echtes Bedürfnis, diese Frau über die gut 200 Seiten der Geschichte zu ergründen und ihren Kern ausfindig zu machen. Gerade ihr innerer Zwiespalt zwischen der Sicherheit eines geregelten Lebens an der Seite von Mann und Kind und ihre geheimen Wünsche, die ihr trotz kurzer Erquickung keinerlei Halt schenken, haben mich sehr in ihren Bann gezogen.


Auch die Gliederung der Lektüre, die sich temporär auf eine Zeit vor der Entdeckung konzentriert, in der Adéle die Erzählrolle einnimmt und einer Zeit nach der Entdeckung, in der Richard, der gehörnte Ehemann zu Wort kommt, empfand ich sehr passend. Was zunächst wie eine große Paarkatastrophe anmutet entwickelt sich im Folgenden zum wahren Fiasko gleich mehrerer Leben. Denn das Wissen um die Obsessionen seiner Frau, höhlt Richard innerlich vollkommen aus, lässt ihn einen Ekel gegenüber der geliebten Person entwickeln und einen Kontrollzwang über all ihre Handlungen. Tatsächlich bringt ihm weder ein Umzug, noch ein Neuanfang jene Frau zurück, in die er all seine Liebe gesetzt hat, mit der er alt werden wollte und die er mehr schätzt als alles andere. Und so beginnt der Schrecken ohne Ende, nachdem es einfach nicht gelingen will, ein Ende mit Schrecken zu akzeptieren.


Fazit


Dieser Roman ist ganz nah dran an einem Lieblingsbuch, deshalb vergebe ich 4,5 Lesesterne. Er wirkt auf mich faszinierend, lädt mich ein, eigene Gedankengänge aufzunehmen in der Hoffnung, dem Wesen der Adéle näher zu kommen. Gleichzeitig ist es eine unbequeme, fordernde Lektüre, die sich wunderbar mit inneren Zwängen und dramatischen Abhängigkeiten auseinandersetzt. Trotz der Melancholie und Traurigkeit, die jenem Paar widerfährt, die viele Seiten des Buches regelrecht durchströmt, konnte ich nicht umhin ein eigenes Urteil über die beiden zu fällen und dieses ist jenseits jeder depressiven Phase angesiedelt.

Nur der Ausgang der Geschichte konnte mich nicht ganz überzeugen, da hätte ich mir wiederrum mehr Dramatik gewünscht, gerne auch einen großen Knall, der in allerlei Richtungen hätte gehen können. Leider verläuft diese spektakuläre Erzählung irgendwie im Nichts und mit ihr verblassen die Menschen, die so unfähig sind Entscheidungen zu treffen und Konsequenzen zu tragen. Die nächsten Bücher der Autorin kommen ganz gewiss auf meine Wunschliste, denn sie vermag es ausgezeichnet, die menschliche Natur und diverse Seelenqualen einzufangen und in lesenswerte Texte zu verpacken.

Veröffentlicht am 05.03.2019

Versöhnt mit der Erinnerung an ein glückliches Gestern

Freetown
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„Das meiste spielt sich in unseren Köpfen ab. Die wildesten Vorstellungen werden nie Wirklichkeit. Das Radikalste, Schönste und Gewagteste steckt vor allem in unseren Köpfen, oder wir spüren es körperlich, ...

„Das meiste spielt sich in unseren Köpfen ab. Die wildesten Vorstellungen werden nie Wirklichkeit. Das Radikalste, Schönste und Gewagteste steckt vor allem in unseren Köpfen, oder wir spüren es körperlich, in der Gegend des Herzens.“


Inhalt


Maria sucht nach neun Jahren der Kontaktstille erstmals wieder das Gespräch mit ihrem Ex-Partner Vincent, der als Psychologe tätig war und ein Experte auf dem Gebiet der seelischen Notlagen. Sie vermisst den aus Sierra Leone stammenden Zeitungsjungen Ishmael, den sie vor sieben Jahren an ihrer Haustür kennengelernt hat und den sie fast wie einen eigenen Sohn bei sich aufgenommen hat und ihm ein besseres Leben zu schenken. Doch nachdem Ishmael seinen niederländischen Pass bekommen hat, verschwindet er ohne ein Wort des Abschieds aus dem Leben der 68-Jährigen, die sich nun ratlos und verlassen fühlt.

Vincent freut sich, die Stimme von Maria zu hören und sich mit ihren Sorgen um den jungen Flüchtling auseinanderzusetzen. Endlich ist es möglich, mit ihr auf neutraler Basis Gespräche zu führen, die sich bald nicht mehr nur um Ishmael drehen, sondern um die eigene vergangene Liebesbeziehung zwischen ihm und ihr. Denn damals hat Vincent Maria nach fünf gemeinsamen Jahren der heimlichen Liebe verlassen, weil er sich nicht mehr in der Lage fühlte, ein Doppelleben zu führen, ungeachtet der Tatsache, wie sehr er Maria liebte. Und auch Maria hat Nachholbedarf, sie möchte nicht nur verstehen, warum Ishmael gegangen ist, sondern auch warum sich dieses Verhaltensmuster bei ihr immer wiederholt. Und so agiert ein afrikanischer Flüchtlingsjunge als Katalysator für die Aufarbeitung einer intensiven aber aussichtslosen Paarbeziehung.


Meinung


Bereits vor einigen Jahren habe ich den Roman „Julia“ des niederländischen Autors Otto de Kat gelesen und durfte mich in eine beschwerte, unglückliche Liebesgeschichte einfühlen und auch mit seinem aktuellen Werk gelingt es ihm mit leichter Hand und viel Feingefühl die Verletzungen zweier Menschen im Verlauf ihrer Beziehung lebensnah und real erscheinen zu lassen. Und so ist „Freetown“ viel mehr eine Erzählung über Lebenswege, verletzte Gefühle und Enttäuschungen als eine vordergründige Geschichte um das Schicksal eines Flüchtlings.

Dennoch empfinde ich die Verflechtung dieser beiden Erzählstränge sehr gelungen, ja regelrecht innovativ, zumal sich in Marias Leben die Verhaltensweisen der Männer ähneln und sie gerade in fortgeschrittenen Jahren erfahren möchte, warum das so ist. Die gewählte Altersspanne, die der Autor hier aufgreift, ist ebenfalls nicht die naheliegende für eine Liebesbeziehung, denn die Protagonisten befinden sich beide in der zweiten Lebenshälfte und ihre Beziehung wird weder reaktiviert, noch hat sie das Leben der Betroffenen nachhaltig verändert. Denn sowohl Maria als auch Vincent haben sich dazu entschlossen die Liaison geheim zu halten, ihre jeweiligen Ehepartner lieber zu belügen und weitere Jahre gefangen in einem Käfig aus Gewohnheit und Routine zu verbringen, nur um sich für kurze Glücksmomente aus ihrem Alltag fortzustehlen. Dieser in meinen Augen kritische Weltbild, basierend auf Lügen und Verletzungen, scheint allerdings bei Vincent und Maria durchaus funktioniert zu haben. Beide haben sich eingerichtet und niemals stand die Debatte nach einer alles verändernden Neugestaltung ihrer beider Leben im Raum.

Die Besonderheit und Schönheit des Romans beruhen in weiten Teilen auf einer ansprechenden, gehobenen Sprache mit vielen tiefsinnigen Weisheiten, aus denen Erfahrung und Herzblut spricht. Der Autor liegt mit seinem Schreibstil genau auf meiner Wellenlänge, so dass mir beim umblättern immer wieder die Aussage auf der Zunge lag: „Ach, wie schön …“. Lediglich eine Raffung des Geschehens im letzten Abschnitt empfand ich zu überstürzt, einmal abgesehen von der Wendung, die viel zu schnell und endgültig den Text ereilte. Hier hätte ich mir 100 Seiten mehr Lesestoff gewünscht, um auch die Randpersonen eingebunden zu wissen und mich noch etwas länger in den Entwicklungen zu verlieren. Dieses Buch sollte man vielleicht auch mehrmals im Leben lesen, wenn man selbst in einem anderen Jahrzehnt steckt, denn manchmal hatte ich das Gefühl mit meinen 36 Lebensjahren, längst nicht die Erfahrungswerte der Protagonisten zu besitzen und ich könnte mir vorstellen, dass man die Belange mit 30 Jahren mehr Lebensweisheit wieder anders erlebt. Allein deshalb bietet dieser Roman einen Mehrwert, weil er eine andere Generation ins Zentrum des Geschehens stellt.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen andersartigen Liebesroman, der viele Facetten von menschlichen Verhaltensweisen in den Raum stellt und sich in seinem Verlauf mit den Umständen des Lebens aussöhnt. Als Leser fühlt man sich integriert und auf Abstand gehalten gleichermaßen, man kann sich nicht verlieren in der Geschichte und sich auch nicht finden – beides tut dem Lesevergnügen jedoch keinen Abbruch. Etwas mehr Text, noch ein bisschen mehr Feingeist und dieses Buch hätte es in die Liste meiner Highlights geschafft, so habe ich es einfach nur gern gelesen und seine Aussagen wirken noch ein Weilchen nach. Von mir gibt es eine Leseempfehlung und den Autor behalte ich definitiv im Blick.