Kein schlechtes Buch, aber die Begeisterung blieb leider aus – habe mir mehr von diesem Buchpreis-Gewinner erhofft!
HERKUNFT Spoilerfreie Rezension!
Inhalt
„Herkunft“ ist eine Mischung aus Autobiografie und fiktionalem Roman, die sich mit der Flucht des Autors aus dem ehemaligen Jugoslawien, mit seinen Erinnerungen, seiner ...
Spoilerfreie Rezension!
Inhalt
„Herkunft“ ist eine Mischung aus Autobiografie und fiktionalem Roman, die sich mit der Flucht des Autors aus dem ehemaligen Jugoslawien, mit seinen Erinnerungen, seiner Kindheit und Jugend und seiner Familie (besonders mit seiner dementen Großmutter) beschäftigt.
Übersicht
Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Du-Erzähler, Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis sehr kurz
Tiere im Buch: Eine treue Ziege wird auf den Mond geschossen, wo sie stirbt, eine Taube stirbt bei einem Fahrrad-Unfall, Fleisch (bzw. Lamm) wird gegessen und es wird beschrieben, wie eine Schlange getötet wird.
Triggerwarnung: Rassismus, Flucht, Tod von Menschen und Tieren, Krieg, Gewalt, Vergewaltigung
Warum dieses Buch?
„Herkunft“ hat letztes Jahr (2019) den Deutschen Buchpreis gewonnen und sowohl von den LeserInnen als auch im Feuilleton viel Lob erhalten. Deswegen musste ich das Buch unbedingt lesen!
Meine Meinung
Einstieg (2 Sterne)
„Fiktion, wie ich sie mir denke, sagte ich, ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, das sich am wirklich Geschehenen reibt –“ E-Book, Position 201
In diesen Roman hineinzukommen, fühlte sich für mich an wie Arbeit. Die ersten Kapitel ließen sich schnell und flüssig lesen, trotzdem fand ich keinen richtigen Zugang zum Buch und empfand den Einstieg als langwierig und schwierig.
Schreibstil & Humor (3 Lilien)
„In Bosnien hat es geschossen am 24. August 1992, in Heidelberg hat es geregnet.“ E-Book, Position 1412
Der Autor schreibt flüssig und angenehm lesbar. Seine Sprache ist einfach, teilweise auch locker und mündlich geprägt, wodurch das Buch stellenweise wirkt, als würde jemand einem gerade am Lagerfeuer eine Geschichte erzählen. Es gibt einige schöne, kreative und poetische Sätze und Vergleiche, und ich liebe es, wie der Autor über Sprache reflektiert und philosophiert und mit ihr experimentiert. Auch den subtilen Humor und den ironischen Unterton mochte ich sehr. Trotzdem konnte mich die Sprache nie ganz erreichen, mitreißen, überzeugen und begeistern.
Inhalt, Themen & Ende (3 Lilien)
„Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist. Als solches ein Fluch! Oder, mit etwas Glück, ein Vermögen, das keinem Talent sich verdankt, aber Vorteile und Privilegien schafft.“ E-Book, Position 360
Thematisch konzentriert sich der Autor in „Herkunft“ auf seine Familie, seine Erinnerungen an die Flucht und die ersten schwierigen Jahre in Deutschland, auf geschichtliche Fakten und das komplexe Konzept der „Herkunft“. Diese Themen werden teilweise tiefgehend behandelt, manches bleibt aber auch oberflächlich, weil die Kapitel sehr kurz sind. Eindringlich, sehr authentisch und berührend fand ich die Schilderungen des Zustandes der dementen Großmutter, deren Gesundheitszustand sich immer weiter verschlechtert. Diese Beschreibungen haben mich echt betroffen und traurig gemacht, weil auch ich schon mit dieser Krankheit in Berührung kam. Sehr gut gefallen hat mir auch der innovative Schlussteil – es hat mich sehr überrascht, einen solchen in einem anspruchsvollen literarischen Werk zu finden! Ich fand es spannend und unheimlich erfrischend, dass ich mir mein eigenes Ende aussuchen durfte.
Die meisten Leute, die dieses Buch lesen, scheinen hingerissen zu sein und kommen ins Schwärmen. Nach den vielen positiven Rezensionen und dem Gewinn des Buchpreises waren meine Erwartungen sehr hoch. Ich habe mir ein großartiges Buch erhofft, das mir richtig gut gefällt. Leider war die Enttäuschung beim Lesen dann umso größer. Mir ist bewusst, dass ich mit meiner Meinung so ziemlich alleine bin. Ich möchte mich aber von den vielen positiven Bewertungen nicht einschüchtern lassen, denn auch in dieser Rezension will ich ehrlich sein. Die Wahrheit ist: Ich fand irgendwie keinen richtigen Zugang zur Geschichte (sie erreichte mich nur so halb) und Begeisterung wollte sich auch nicht einstellen. Obwohl es meiner Meinung nach einige schöne, gelungene und auch berührende Kapitel gab, wollte sich einfach kein Lesesog einstellen. Kapitel für Kapitel, in ganz kleinen Happen, arbeitete ich das eigentlich nicht sehr umfangreiche Buch pflichtbewusst ab – in der Hoffnung, dass es mich irgendwann schon noch packen und ebenso begeistern würde wie die anderen LeserInnen – und musste bis fast zum Ende zwingen, weiterzulesen. Lesespaß war leider über weite Strecken nicht vorhanden.
Das episodenhafte, unzusammenhängende, sprunghafte Erzählen voller Abschweifungen, die oft verwirrende Chronologie mit ihren Zeitsprüngen und das Fehlen einer linearen Handlung machten es mir schwer, in die Geschichte einzutauchen und sie zu genießen. Die Mischung aus Geschichten über die Familie und persönlichen Erinnerungen fand ich stellenweise gelungen, stellenweise langatmig. Ich verstehe, dass es für den Autor spannend und wichtig war, die eigene Familiengeschichte zu erforschen und für die Ewigkeit festzuhalten. Manche Anekdoten fand ich auch durchaus sehr interessant, witzig oder charmant. Jedoch ist es nicht meine Familie, über die der Autor schreibt. Für mich hatten die Schilderungen nicht die gleiche emotionale und persönliche Bedeutung wie für ihn, wodurch oft mein Interesse schwand. Auch die geschichtlichen Abhandlungen und Einschübe hätte man spannender formulieren können. Mich konnten sie nicht packen, sondern ich langweilte mich stellenweise sehr. Mich konnte dieser Roman leider nicht so überraschen, begeistern, berühren, zum Nachdenken bringen und überzeugen, wie ich mir das von einem Buchpreis-Gewinner und hochgelobten Buch gewünscht hätte. Geschmäcker sind verschieden – meinen konnte Saša Stanišić mit „Herkunft“ leider nicht treffen.
„Ohne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens.“ E-Book, Position 414
Protagonist (5 Lilien ♥) & Figuren (3 Lilien)
„Heute erinnert sich Großmutter mal an Gavrilo, mal sagt der Name ihr nichts. Über ihr Jetzt hat sich ein Schleier aus Damals gelegt.“ E-Book, Position 533
Den Protagonisten des Romans fand ich unheimlich sympathisch und liebenswert. Ich mochte seine intelligente, aber auch unaufgeregte, lockere und humorvolle Art und habe ihn sehr gerne begleitet. Auch seine Reflexionen, seine Offenheit und seine Fähigkeit, über sich selbst zu lachen und sich über kuriose Eigenheiten beider Kulturen liebevoll (und niemals bösartig) zu amüsieren, haben mir sehr gut gefallen!
Die anderen Figuren sind meiner Meinung nach mit einigen Ausnahmen – die Großmutter ist z. B. sehr liebevoll ausgearbeitet und wirkt authentisch und dreidimensional – nicht so gut gelungen. Durch die Vielzahl an Figuren, die allerdings in einzelnen Episoden nur ganz kurz vorkommen und nicht näher beschrieben werden, bleiben viele von ihnen (besonders die FreundInnen des Protagonisten) leider sehr blass. Ich konnte leider keine Beziehung zu ihnen aufbauen oder mit ihnen mitfühlen, was ich sehr schade finde. Manchmal habe ich sie sogar miteinander verwechselt.
Spannung & Atmosphäre (2 Lilien)
„‘Wann kann ich nach Hause?‘
‚Du bist zu Hause, Oma.‘“ E-Book, Position 1994
Ich fand die atmosphärischen Beschreibungen der Schauplätze sehr gelungen und überzeugend, aber leider gibt es im Buch durch die episodenhafte Erzählweise keinen Spannungsbogen. Ich empfand „Herkunft“ leider als sehr langatmig und hätte es mehrmals am liebsten abgebrochen, weil es mich nicht erreichen und zum Weiterlesen motivieren konnte.
Feministischer Blickwinkel (5 Lilien ♥)
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Beleidigung in einer anderen Sprache (Kur++), ich fi+++ deine Mutter, Hu++
Was die feministische Analyse betrifft, bekommt der Autor für sein Buch alle Punkte. Der Roman besteht den Bechdel-Test, und die wenigen frauenfeindlichen Beleidigungen kann ich verzeihen, weil sie von rebellischen Jugendlichen ausgesprochen werden. In vielen von Männern geschriebenen Autobiografien und Romanen spielen Frauen nur am Rande eine Rolle, aber scheinen kein Eigenleben zu haben. In „Herkunft“ ist das anders: Das Buch enthält viele starke weibliche Figuren, die ihrer Zeit zum Teil sogar weit voraus und sehr modern waren. Besonders die Großmütter sind hier positiv hervorzuheben. Immer wieder wird mit Geschlechterstereotypen gebrochen, sie werden nur selten reproduziert. Außerdem werden Sexismus und Gleichberechtigung angesprochen, was mir sehr gut gefallen hat. Ich habe dadurch Saša Stanišić als modernen, sympathischen Autor abgespeichert, dem ich sicher in Zukunft noch eine Chance geben werde!
Mein Fazit
Nach den positiven Rezensionen und dem Gewinn des Buchpreises waren meine Erwartungen sehr hoch, umso größer war dann auch meine Enttäuschung. Dabei mochte ich den flüssigen, teilweise mündlichen geprägten Schreibstil, den Humor, die vereinzelten schönen, poetischen Sätze und die Reflexionen und Sprachexperimente des Autors eigentlich. Trotzdem konnte mich seine Sprache nie ganz erreichen, mitreißen und begeistern. Den Protagonisten des Romans fand ich hingegen unheimlich sympathisch und liebenswert. Ich mochte seine intelligente, unaufgeregte Art und seine Fähigkeit, sich über kuriose Eigenheiten beider Kulturen liebevoll zu amüsieren. Die anderen Figuren bleiben leider mit einigen Ausnahmen blass. Was die feministische Analyse betrifft, bekommt der Autor aufgrund seiner starken weiblichen Figuren alle Punkte! Ich fand die atmosphärischen Beschreibungen der Schauplätze gelungen, doch insgesamt empfand ich „Herkunft“ leider als sehr langatmig und hätte es stellenweise am liebsten abgebrochen. Das episodenhafte Erzählen, die Zeitsprünge und das Fehlen einer linearen Handlung machten es mir schwer, in die Geschichte einzutauchen und sie zu genießen. Die Mischung aus Geschichten über die Familie, persönlichen Erinnerungen, Reflexionen und geschichtlichen Einschüben fand ich stellenweise tiefgründig, gelungen, berührend, interessant, charmant und witzig, stellenweise aber auch oberflächlich und sehr zäh. Sehr gut gefallen hat mir der innovative und erfrischende Schlussteil. Kurz: Mich konnte dieser Roman leider nicht so überraschen, begeistern, berühren, zum Nachdenken bringen und überzeugen, wie ich mir das von einem Buchpreis-Gewinner und hochgelobten Buch gewünscht hätte. Geschmäcker sind glücklicherweise verschieden – meinen konnte Saša Stanišić mit „Herkunft“ aber leider nicht treffen. Ich werde das Buch zwar nicht zum Geburtstag verschenken, trotzdem würde ich euch empfehlen, ihm eine Chance zu geben, da es so vielen Menschen so gut gefallen hat. Ich selbst werde dem Autor bestimmt auch noch eine Chance geben!
Bewertung
Idee: 4 Lilien
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Lilien
Umsetzung: 3 Lilien
Worldbuilding: 3 Lilien
Einstieg: 2 Lilien
Ende / Auflösung: 5 Lilien ♥
Schreibstil: 3 Lilien
Protagonist: 5 Lilien ♥
Figuren: 3 Lilien
Spannung: 2 Lilien
Atmosphäre: 4 Lilien
Emotionale Involviertheit: 3 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 5 Lilien ♥
Insgesamt:
❀❀❀ Lilien
Dieses Buch bekommt von mir drei Lilien!