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Veröffentlicht am 05.09.2019

Spannende und überzeugende Dystopie

Der Gott am Ende der Straße
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Der Gott am Ende der Straße – Louise Erdrich

Dies war mein erstes Buch dieser Autorin. Auch wenn es kein typisches Buch sein soll, ich mochte es sehr. Ich fand es fesselnd, spannend, furchtbar anspruchsvoll ...

Der Gott am Ende der Straße – Louise Erdrich

Dies war mein erstes Buch dieser Autorin. Auch wenn es kein typisches Buch sein soll, ich mochte es sehr. Ich fand es fesselnd, spannend, furchtbar anspruchsvoll fand ich es eigentlich nicht. Weder inhaltlich noch sprachlich.

Cedar schreibt in Briefen an ihr ungeborenes Kind. Denn die Zeiten verändern sich gerade beunruhigend und es sind schlechte Zeiten um schwanger zu sein. Etwas passiert gerade in den Vereinigten Staaten, aber keiner weiß etwas Genaueres. Die Grenzen nach Kanada und Mexiko sind längst dicht. Scheinbar betrifft das Problem nur die USA.
So genau benennt Erdrich das Problem aber gar nicht. Die Welt ist im Umbruch. Wie meistern die Menschen dies und wo bleibt dabei die Menschlichkeit? Das sind Erdrichs Themen.

Nach und nach kommt der Leser aber doch darauf, wo in etwa das Problem liegt. Die Evolution scheint sich rückwärts zu bewegen. Die Neugeborenen weisen seltsame Genmutationen auf. Viele kommen tot zur Welt. Als Folge werden Schwangerschaften genauestens überwacht. Überlebende Neugeborene der Forschung überantwortet. Die Selbstbestimmung der Frauen scheint dahin. Gerade dieses Thema erinnerte mich ganz stark an Margaret Atwoods Report der Magd.
Auch das Klima scheint sich innerhalb kürzester Zeit verändert zu haben.

Doch dieser Roman beinhaltet noch so viel mehr. Cedar ist Indianerin, von Weißen adoptiert und erzogen worden. Klar, dass insbesondere durch die Schwangerschaft die Frage nach den eigenen Wurzeln wieder auftaucht. Auch die Rolle des Glaubens und der Kirche in schweren Zeiten wird thematisiert.

Erdrich hat einen angenehmen Schreibstil. Knapp und schnörkellos, doch auf den Punkt. Es störte mich kaum, dass man gerade anfangs nichts Genaues über den Grund der Bedrohung erfährt. Schließlich ist man ist auf dem gleichen Stand wie die Hauptfigur. Es hat etwas Realistisches. Die Geschichte hat gezeigt, dass bei Katastrophen die Bevölkerung tatsächlich sehr gerne im Unklaren gelassen wird.

Eine spannende und überzeugende Dystopie. Ich mag den Schreibstil der Autorin und werde mich wohl nach weiteren ihrer Romane umsehen müssen.

Veröffentlicht am 28.07.2019

Traurig und wunderschön

Der Gesang der Flusskrebse
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Der Gesang der Flusskrebse - Delia Owens

Was für ein wunderbares Buch.
Nach wie vor kann ich mich gedanklich kaum vom Zauber der Marschlandschaft und seinen Bewohnern lösen.
Schaut euch das wunderschöne ...

Der Gesang der Flusskrebse - Delia Owens

Was für ein wunderbares Buch.
Nach wie vor kann ich mich gedanklich kaum vom Zauber der Marschlandschaft und seinen Bewohnern lösen.
Schaut euch das wunderschöne Cover an, das Mädchen in seinem Boot allein in der Wildnis. Dieses Bild sagt bereits so viel über die Geschichte aus. Genau diese Stimmung durchzieht das ganze Buch. Ein Meisterwerk.

Kya muss schon früh allein klarkommen. Erst ist die Mutter verschwunden, nach und nach die Geschwister, schließlich verlässt sie auch der gewalttätige und unzuverlässige Vater. Das Mädchen, von den Bewohnern der Stadt Marschmädchen genannt, gibt nicht auf und lebt mit der Natur in einer baufälligen Hütte mitten in der Marsch. Kya eignet sich jede Menge Wissen über Tiere und Pflanzen der Umgebung an. Hier spielt sicher mit rein, dass die Autorin auch Zoologin ist…
Kyas Leben in der Wildnis ist hart und einsam. Mit den Jahren wachsen eine tiefe Traurigkeit und das Gefühl verlassen worden zu sein immer mehr an. Als sie schließlich zwei Jungen bzw. jungen Männern näher kommt, kommt es zur Katastrophe. Einer der beiden wird tot aufgefunden und möglicherweise war es kein Unfall.

Ein grandioser Roman mit starker Sogwirkung. Die Geschehnisse entfalten eine unheimliche Kraft. Die Autorin schafft es, die Naturgegebenheiten derart realistisch zu schildern, dass man tatsächlich alles vor sich sieht und mit Kya mitleidet. Ab Seite hundert ungefähr hatte mich die Geschichte derart in seinen Bann gezogen, dass ich es nicht mehr weglegen konnte und den Rest in einem Rutsch verschlungen habe. Das ist mir schon länger nicht mehr passiert.

So viel Gefühl, so sensibel geht Owens mit ihren Figuren um. Dabei ist die Stimmung traurig und wunderschön. So sehr wünscht man Kya, dass sie endlich jemanden findet, endlich ihren Frieden findet.

Im Vordergrund steht über weite Teile der Geschichte nicht der Kriminalfall, der im Klappentext bereits angekündigt wird und mit dem der Roman auch beginnt. Vielmehr begleitet man über weite Teile Kya und ihren Überlebenskampf in der Marsch. Ihre Versuche, als Außenseiterin Kontakte zu anderen Menschen zu knüpfen. Eigentlich ein sehr sehr ruhiges Buch, in dem man langsam auf eine Eskalation der Situation hingeführt wird. Denn Kyas Lage spitzt sich erst gegen Ende zu.

Eine ganz dicke Leseempfehlung. Eine Geschichte zum darin Versinken, ich wollte gar nicht mehr auftauchen. Ein grandioses Debüt, ich bin gespannt auf weitere Werke von Owens.

Veröffentlicht am 19.07.2019

Eine gläserne Welt

Die Hochhausspringerin
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Die Hochhausspringerin - Julia von Lucadou

"Was macht den Menschen menschlich, wenn er perfekt funktioniert?" Klappentext

Riva und Hitomi, zwei junge Frauen, die es geschafft zu haben scheinen. Sie ...

Die Hochhausspringerin - Julia von Lucadou

"Was macht den Menschen menschlich, wenn er perfekt funktioniert?" Klappentext

Riva und Hitomi, zwei junge Frauen, die es geschafft zu haben scheinen. Sie leben in der Stadt ein perfektes und erfolgreiches Leben. Doch wie lange kann man perfekt sein, ohne daran zu zerbrechen? Denn glücklich sind sie beide nicht in dieser gläsernen Welt; das Damoklesschwert schwebt immer über ihnen. Bei Fehlern oder Nichtfunktionieren können die privilegierten Stadtbewohner jederzeit in die heißen, schmutzigen und stinkenden Peripherien ausgewiesen werden und sich selbst überlassen werden.
Riva, die berühmte Hochhausspringerin, weigert sich von einem Tag auf den anderen zu springen, auch nur zu trainieren. Hitomi soll sie dazu bringen, ihre Arbeit wiederaufzunehmen. Ein Scheitern Hitomis kann für beide die Ausweisung bedeuten. Aus einer effizienten Gesellschaft, die keinerlei Rücksicht auf Individuen nimmt.
In der Stadt ist es ungewöhnlich, seine Bioeltern zu kennen. Anpassung ist das oberste Gebot. Soziale Bindungen sind nicht erwünscht. Diese könnten schließlich das Leistungsvermögen mindern. Eine Horrorvorstellung.

Ein sehr gelungenes Debüt, die spannende Darstellung einer realistischen Dystopie. Wobei die Autorin nur einen kleinen Ausschnitt einer beklemmenden Zukunftsvision zeigt. Denn es geht nur um diese eine Stadt und ihre Peripherien. Auch darüber, wie es zu diesem Ist-Zustand kommen konnte, erfährt der Leser nichts. Doch es fehlte mir auch nichts. Denn die Charaktere sind gut ausgearbeitet und führen uns ganz aktuelle Fragen vor Augen. Was ist Glück? Kann man die Familie wirklich abschaffen? Wie weit darf eine Leistungsgesellschaft gehen? Welche Werte zählen? Sind wir überhaupt überlebensfähig ohne soziale Bindungen?

Dazu hat die Autorin das Ideal einer Hochhausspringerin erfunden. So spannend wie einfach. Und sie kommt ganz ohne Roboter oder KI aus. Gerade das macht diese Geschichte so beängstigend realitätsnah.

So schlicht so gut. Sprachlich und stilistisch recht einfach gehalten und trotzdem sehr berührend.
Ausnahmsweise möchte ich hier auch das Cover erwähnen. Denn es passt perfekt zur Geschichte. Silbern glänzender Hintergrund, eine Frau befindet sich im freien Fall. Es strahl Perfektion und Kälte aus.
Ich fand diesen Roman sehr beeindruckend und beklemmend. Von mir eine absolute Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 03.06.2019

Grandioser Roman über eine Großfamilie

Niemals ohne sie
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Niemals ohne sie – Jocelyne Saucier

Saucier erzählt in diesem Roman die Geschichte einer wirklich chaotischen kanadischen Großfamilie. 21 Kinder, das ist enorm. Es geht drunter und drüber, es wird gezofft ...

Niemals ohne sie – Jocelyne Saucier

Saucier erzählt in diesem Roman die Geschichte einer wirklich chaotischen kanadischen Großfamilie. 21 Kinder, das ist enorm. Es geht drunter und drüber, es wird gezofft und geprügelt. Doch wenn's drauf ankommt, halten die Cardinals zusammen. Denn den sturen Hitzkopf haben sie alle.
Bei einem mehr oder weniger freiwilligen Familientreffen nach 30 Jahren, wird klar, dass ein dunkles, tragisches Geheimnis die Familie damals auseinandergetrieben und in alle Winde verstreut hat.

"Sie glauben, ich hätte schon immer von Australien geträumt. Die Wahrheit ist, dass ich diese Familie nicht mehr ertrage." Seite 138

Es geht um die vielen Geschwister, sowieso ein Wunder, wie Saucier es schafft, dem Leser viele starke, einzigartige Charaktere nahezubringen, allesamt auch noch mit Spitznamen, wie Jeanne D`Arc oder Wapiti. Dennoch gelingt es überraschend gut, den Überblick zu behalten.
Und es geht um die Besitzansprüche an einer alten Mine. Der Familienvater hat einst ein großes Zinkvorkommen entdeckt, wovon sich die Familie finanzielle Sorglosigkeit versprochen hatte. Doch dieser Lohn blieb leider aus.

Abwechselnd wird die Geschichte von verschiedenen Familienmitgliedern erzählt. Saucier hat einen tollen Erzählstil und eine großartige Erzählstimme, getragen von Verlust und Schmerz. Ausgehend von den unterschiedlichen Erinnerungen der jeweiligen Geschwister, bewegt sich die Handlung, spannend wie ein Krimi, zurück bis zu dem einen entscheidenden Moment, der ihrer aller Leben prägte.
Vielleicht ein ganz kleines bisschen arg pathetisch, auf jeden Fall aber unheimlich traurig und zugleich schön.
Dringende Leseempfehlung!

"In dieser Familie ging es nie darum, glücklich zu sein. Also kann man sich auch nicht beschweren, dass wir es nicht geschafft haben." Seite 222






Veröffentlicht am 06.05.2019

Eine große Erzählstimme

Bella Ciao
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Bella Ciao – Raffaella Romagnolo

Nach einem halben Jahrhundert kehrt Giulia Masca als wohlhabende Frau nach Italien zurück. Damals war sie nach dem großen Verrat ihres Verlobten Pietro und ihrer besten ...

Bella Ciao – Raffaella Romagnolo

Nach einem halben Jahrhundert kehrt Giulia Masca als wohlhabende Frau nach Italien zurück. Damals war sie nach dem großen Verrat ihres Verlobten Pietro und ihrer besten Freundin Anita Hals über Kopf in die USA ausgewandert. Während sie es dort zu Wohlstand brachte (American Dream) und mit ihrer Familie in Frieden leben konnte, litten die in Italien Zurückgebliebenen, während zweier Kriege große Not.

Dieser Roman zeichnet sich durch sehr dichte und atmosphärische Erzählweise aus. Die Autorin erzählt sprachgewaltig und dramatisch vom Leben zweier starker Frauen und ihrer Familien in einer unruhigen Zeit in Italien und am Rande auch Amerika. Dabei werden dem Leser die politischen Begebenheiten und typischen Schicksale der einfachen Landbevölkerung nahegebracht. Ich fühlte mich während der Lektüre inspiriert, das ein oder andere Detail was geschichtliche Hintergründe des 20. Jahrhunderts betrifft, zu recherchieren.

Dabei ist diese Geschichte durchaus anspruchsvoll zu lesen. Das liegt am einen an oben bereits erwähnten politischen Zusammenhängen, zum Anderen, springt die Erzählstimme zwischen den Zeiten und auch den verschiedenen Perspektiven und das zum Teil mitten im Absatz. Wenn man sich erstmal eingelesen hat, ist dies aber durchaus logisch und nachvollziehbar, handelt es sich doch um die Erinnerungen von Giulia. Außerdem gibt es unheimlich viel Personal, kein Wunder, schließlich werden fünfzig Jahre abgehandelt und die Geschichte von zwei Familien erzählt. Bei der Orientierung hilft allerdings ein Stammbaum, der auch zweimal aktualisiert wird.

Ein Zusammentreffen der beiden Frauen findet erst im letzten Abschnitt statt. Im Rückblick geht es auch gar nicht primär um dieses Treffen sondern vielmehr um eine berührende und fesselnde Rückschau auf die Leben zweier starker Frauen, die sich einst so nah wie Schwestern waren, deren Schicksale dann aber höchst unterschiedlich verliefen.
So werden dem Leser Not und Leid in Zeiten des Krieges eindrucksvoll vor Augen geführt. Sowohl auf der Seite der jungen Männer, die in den Krieg ziehen müssen, als auch auf der Seite der zurückbleibenden Frauen, Alten und Kinder. Emotional, ohne auf die Tränendrüse zu drücken oder in Kitsch abzugleiten.

Ein sehr lesenswertes und lehrreiches Buch, durch die Sprachgewalt der Autorin wirkt es sehr dominant. Einmal angefangen, kann man sich dem Zauber kaum noch entziehen.

Zum Schluss noch eine Anmerkung zur Bedeutung des Titels „Bella Ciao“. Diesen sehr passenden Titel hat der Diogenes Verlag dem Roman verpasst. Ursprünglich wurde er nämlich unter dem Namen „Destino“ in Italien veröffentlicht.
Die Melodie des Liedes Bella ciao wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von ausgebeuteten Arbeiterinnen gesungen. Es beklagt die harten Arbeitsbedingungen unter der stechenden Sonne. Weltweit bekannt wurde das Lied in seiner Adaption durch die Resistenza, der italienischen Widerstandsbewegung gegen den Faschismus während des Zweiten Weltkrieges. (Quelle: Wikipedia)