New York 1997. Constance kann keine Liebe für ‚das Kind‘ empfinden. „Gabriel heißt er. „Es ist kein Name aus ihrem Land. Ein kongolesischer Pastor im Lager hat ihn ausgesucht. Sie hatte einen anderen Namen auf der Zunge, aber der Pastor meinte, das Kind brauche den Namen eines Engels. Und es sei ein guter Name für einen Jungen, der in Amerika aufwachsen würde.“ (Pos. 80)
Constance badet es. Sie füttert es, sie legt es schlafen, dieses zweijährige Wesen, das sie zur Welt gebracht hat. Aber lieben? Nein, das kann sie nicht. Denn das Kind ist „einer von ihnen“, einer von denen, die Constance in ihrem Heimatland Ruanda verfolgt, ihre Familie ermordet, ihre Nachbarn verstümmelt haben. Nun hat sie in New York Zuflucht gefunden, sie hat ihr Leben behalten – und „das Kind“.
Marina lebt ebenfalls in New York. Marina ist Hochschuldozentin, gutaussehend, gebildet, erfolgreich in dem, was sie tut. Und überdies glücklich verheiratet, sie hat einen Mann, einen halbwüchsigen Stiefsohn, eine liebe Schwiegermutter und ebenso liebe Schwägerin. Sie besitzen ein schönes Zuhause, alles könnte wunderbar sein. Wenn da nicht Marinas vergeblicher, unerfüllter Kinderwunsch wäre. Zufällig beobachtet sie die junge Frau und diesen kleinen, in ihren Augen hinreißenden Jungen, die Mutter und Sohn sein müssen – oder doch nicht? Marina kennt sich nur zu gut mit Müttern aus, die ihre Kinder nicht lieben können. Sie ist selbst ein solches Kind, aufgewachsen im Kinderhaus eines Kibbuz, getrennt von ihrer Mutter, die allerdings auch nach dem Verlassen des Kibbuz kein gesteigertes Interesse an ihrer Tochter und ihrem Sohn zeigte. Sie war eines jener Kinder, die wie Waisen, vernachlässigte oder missbrauchte Kinder auf einer „gierigen Suche“ sind – „nicht nach Nahrung oder Schutz, sondern nach Zuneigung. Nach einem Fetzen Anerkennung, kleinen Freundlichkeiten, die ihnen helfen konnten, ihren Platz in der Welt zu finden“ (Pos. 2548). Marina will der jungen Frau helfen – doch letztlich auch sich selbst.
„Das Kinderhaus“ von Alice Nelson ist eine Geschichte von Müttern, die ihre Kinder nicht lieben können, die gefangen sind in sich selbst, ihrer Biografie, ihren Schicksalen. Manches wird erklärt und verständlich, anderes bleibt im Dunkeln, kann nur vermutet, erahnt, erdacht werden. Und es ist eine Geschichte von Kindern, die nicht anders können, als ihre Mütter zu lieben, nach ihrer Liebe zu verlangen, sich nach ihr zu sehnen, um sie zu betteln und zu buhlen – einfach, weil sie Kinder sind. Manchmal werden diese Kinder ihrerseits zu Eltern, manchmal wollen sie es werden und können es nicht, manchmal wollen sie es nicht und werden es dennoch.
Eine solche Story birgt zweifellos die Gefahr, in Rührseligkeit abrutschen. Doch Alice Nelson erzählt die Lebensgeschichten und -erfahrungen ihrer Figuren behutsam und leise, sachlich und doch eindringlich. Sie erzeugt eine im besten Sinne herzergreifende und aus meiner Sicht vollkommen kitschfreie, versonnene, melancholische Stimmung, die mich immer wieder zum Nachdenken anregte: darüber, was es heißt, eine Mutter zu sein; was für ein Glück es ist, wenn man eine liebevolle oder überhaupt zur Liebe fähige Mutter zu haben; wie schwierig es sein kann, die (vermeintlich?) selbstverständliche Liebe für seine Kinder aufzubringen. Die Erzählerin wertet und verurteilt nicht, sie nimmt niemanden in Schutz und empört sich nicht. Sie beobachtet und berichtet. Und das macht sie richtig gut. Empfehlenswert!