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Veröffentlicht am 22.09.2019

Eine groteske, melancholische, düstere Geschichte über schöne Lügen und hässliche Wahrheiten

Shadowsong
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Nach dem ich den ersten Teil der zweibändigen Dulogie rund um die Sage des Erlkönigs, "Wintersong" vor zwei Jahren aus der Hand gelegt hatte, dachte ich nur zwei Dinge: "WOW!" und "Her mit Band 2". Leider ...

Nach dem ich den ersten Teil der zweibändigen Dulogie rund um die Sage des Erlkönigs, "Wintersong" vor zwei Jahren aus der Hand gelegt hatte, dachte ich nur zwei Dinge: "WOW!" und "Her mit Band 2". Leider hat sich der Verlag relativ viel Zeit gelassen doch jetzt ist es da: das Finale meines Jahreshighlights 2017. Sofort in die Geschichte gestürzt musste ich nach wenigen Seiten feststellen, dass sich die Fortsetzung ganz anders gestaltete, als ich angenommen hatte. Zum Einen ist es sehr schade, dass "Shadowsong" unbekannte Töne anschlägt und den Fokus stark verschiebt, zum anderen sind die Unterschiede zu Band 1 auch ein wundervoller Zugewinn an Tiefe, sodass wir uns neu verlieben können. In diese unglaubliche Geschichte über Musik, Manie, Wahnsinn, Zerrissenheit, Schmerz, Selbstfindung, Opfer und was es heißt, wirklich und aufrichtig zu lieben.


"Bleib und sei bei mir" (…) Sie ruft ihn. Ein Monster hebt seinen Kopf als der Klang von Musik aus der oberen Welt hereindringt. (…) Es ist ein Hilfeschrei."


Schon die Gestaltung, die mal wieder wunderschön ist, lässt sich die düsterere Einfärbung der Geschichte erkennen. Wo Band 1 hell wie Winterschnee, hell wie der Tag war, ist Band 2 dunkelblau wie die Nacht. Wo zuvor karge, winterliche Vogelbeeren zu sehen waren, blühen nun üppige Mohnblumen. Und durch die aufflatternden, schwarzen Vogelsilhouetten und dem Schatten eines Mädchens in einem wehenden Kleid, erhält das Cover eine magische, düstere aber verspielte Note. Der Titel thront in Großbuchstaben im Zentrum des Ganzen und ist mit einem weißen Faden verziert. Das Beste an der Gestaltung ist jedoch das Innenleben des Romans. In vier Teile und übergeordnet in Abschnitte eines Musikstückes geteilt (Ouvertüre, Intermezzo, Zwischenspiel, Coda...) ist es mit wunderschönen Zitaten aus Briefen Beethovens an seine Geliebte und dem auch auf dem Cover zusehenden Kranz Mohnblüten gesäumt, während aufflatternde Vögel jede der liebevoll ausgewählten Kapitelüberschriften umgeben. Ich finde diese Gestaltung wirklich unfassbar schön und um einiges besser gelungen als das der englischen Ausgabe. Letzteres ist zwar auch hübsch anzusehen, mir aber zu verträumt und nicht so atmosphärisch.


Erster Satz: "Auf keinen Fall", rief Constanze und ließ ihren Gehstock auf den Boden krachen."


Nach einer Danksagung (zur besseren Beachtung durch den Leser vorangestellt) und einem aufschlussreichen Vorwort, in dem die Autorin durch eine Triggerwarnung das Hauptthema des Buches vorwegnimmt, steigen wir mit einer Flut von Briefen von Liesl an ihren Bruder Josef in die Geschichte ein. Seit sechs Monaten ist Liesl nun schon zurück aus der Unterwelt nachdem der Erlkönig sie allen Gesetzen zum Trotz hat gehen lassen. Sechs Monate, in denen nur die Routine der Arbeit und die Träume von einem Reich unter der Erde sie am Laufen halten. Sechs Monate, in denen sie von Josef aus Wien keine Briefe erhalten hat. Sechs Monate, in denen sie ihre Musik nicht mehr finden kann. Sechs Monate, in dem sie IHN nicht mehr finden kann. Lange bevor tragische Eistode in ihrem Dorf bestätigen, was ihre Großmutter schon längst befürchtet hat, weiß sie, dass sie den Wahnsinn beenden und in die Unterwelt zurückkehren muss. Denn die alten Gesetze fordern ihr gestohlenes Opfer ein und als ein unheiliges Heer durch die Lande reitet, muss sie sich fragen, was sie noch zu opfern bereit ist...


"Ein König steht in einem Hain, mit Kapuze und Mantel, ein großer, eleganter Fremder. Er steht abgewandt, schaut in den formlosen Nebel, der ihn umgibt, herausfordernd und doch voll Kummer, während das Donnern von Hufen und das glockengleiche Bellen der Jagdhunde die Luft erfüllt. Seine Gesichtszüge liegen im Schatten, aber Büschel federartigen weißen Haares schauen unter seiner Kapuze hervor, ein Funkeln heller Augen, die das seltsame, unendliche Licht um ihn herum widerspiegeln. In der Ferne wachsen Gestalten empor, die flüchtigen Nebelfetzen werden zu Fahnen, Dunst wird zu aufsteigenden Wellen, zu Pferdemähnen, zu Männern. Männern mit Speeren, Männer mit Schilden und Männer mit Schwertern. Ein unheiliges Heer.
"Sie kommen, Elisabeth."


Diese Geschichte im Stil eines düsteren, leidenschaftlichen, zauberhaften und magisch berührenden Märchens hat nichts mit dem typischen New-Adult-Fantasy-Genre gemeinsam, das mittlerweile die Bestsellerlisten in Beschlag nimmt - zum Glück! Wir bekommen hier keine fesselnde Unterhaltung, keine schönen Liebesszenen, keine bewundernswerte Charaktere und keine rasante Handlung - aber wir bekommen etwas viel besseres: Tiefe. Schon im Vorwort wird klar, dass sich die Autorin mit ihrer Fortsetzung auf ein ganz bestimmtes Thema konzentriert: die bipolare Störung ihrer Protagonistin Liesl, die ihrer eigenen Version des Wahnsinns nicht unähnlich sei. Immer wieder drehen wir uns um dieses Thema, fragen uns, was sich Liesl immer wieder fragt: "Ist das Wahnsinn? Oder einfach nur eine andere Art zu sein?" Die ambivalenten Auftritte des Koboldkönigs, die mythischen Hintergründe der "Wilden Jagd", die ungewöhnliche Romanze und die dunkle Unterwelt, die das Herz des ersten Teils waren, rücken hier zugunsten von Liesls Innenleben etwas in den Hintergrund. Von der düsteren, dunklen Fantasiewelt, die gleichzeitig schillernd schön und grausig schrecklich ist, wechseln wir hier zurück in eine von gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen geprägte Umwelt. Die Sage vom Erlkönig, welche ursprünglich aus dem Dänischen kommt und von Johann Wolfgang von Goethe in der bekannten Ballade "Erlkönig" dargestellt wird, formt bloß noch den großen Rahmen. Stattdessen beschäftigen wir uns mit Liesls Persönlichkeit, ihren Fehlern, ihrer Schuld, ihrem Leiden, ihrer Entwicklung, ihrem Genie und ihrer ganz besonderen Form des Wahnsinns.


"Wahnsinn ist keine Gabe", sagte ich wütend.
"Aber auch kein Fluch", erwidert der Graf sanft. "Wahnsinn ist einfach."


Wir lernten die 19-Jährige Ich-Erzählerin als unscheinbares Mädchen kennen, das Provinz Bayerns etwa im 18. Jahrhundert zur Lebzeit Mozarts lebt und zwischen ihrer schönen Schwester Käthe und ihrem virtuosen Bruder Josef untergeht. In der Unterwelt schafft sie es dann, ihre gezähmte, selbstlose, konventionelle Fassade des langweiligen, reizlosen und mittelmäßigen Mädchens abzulegen und sich mit der Frau bekanntzumachen, die darunter liegt. Zwischen all ihrer Mittelmäßigkeit ihres Daseins, ihrem guten Benehmen, ihrer Rücksicht, ihrem Anstand, ihrer Zurückhaltung schlummert eine wilde, ungezähmte Gabe, die an die Oberfläche drängt - eine Leidenschaft für Sonaten, Bagatellen, Symphonien, Etüden, Chaconne und allen anderen Ansammlungen von Tönen. Inspiriert wird sie von der Schönheit der Natur in ihrem Koboldhain hinter dem Haus und vor allem von ihm: ihrem Koboldkönig. Sie entdeckt eine wilde Ungestüm, macht sich mit Wünschen, Sehnsüchten und Eigenarten vertraut, sodass sie wird, was ihr Angetrauter von ihr verlangt: Elisabeth ganz und gar. Zurück in der Realität kann sie nun weder ihr neu entfaltetes Genie ausleben, noch in die langweilige Mittelmäßigkeit zurückfinden, sodass sie zwischen den Welten, ihren Bedürfnissen und ihrer Liebe gefangen und zerrissen ist. Sie ist nicht mehr "Elisabeth ganz und gar" sondern nur "Elisabeth total verloren". In ihrer Orientierungslosigkeit, in ihrem Sehnen, in ihrem Schmerz gibt sie sich ihrem Destruktivität, ihrer Arroganz, ihren Launen, ihrer Egozentrik, ihrer Unvernunft - schlicht ihrem Wahnsinn hin.


"Wahnsinn, Manie, Melancholie. Musik, Zauber, Erinnerungen. Ein Strudel, der um eine Wahrheit kreist, die ich nicht zugeben will. Ich schlafe nicht, weil ich mich vor den Zeichen und Wunden fürchte, die sich sehe, wenn ich erwache. Dornenranken winden sich um Zweige, das Klacken von unsichtbaren Krallen, Blut, das zu einer Blume erblüht."


Geprägt von dieser Geisteshaltung nimmt auch die Handlung langsamere Züge an. Die Geschehnisse erscheinen als zähe, träge vor sich hinfließende Masse und wir verlieren uns zeitweise in Melancholie, Schmerz und Orientierungslosigkeit. Dass die Geschichte trotz der geringen Handlungskraft seine Anziehung nicht verliert, führt die Autorin geheimnisvolle Rückblicke in das Leben des Erlkönigs, eine neue zum Leben gewordene Legende und eine dunkle Verschwörung ein und entführt zuerst nach Wien und dann auf ein mystisches Anwesen in Böhmen. Außerdem rücken neben Liesls Gefühlen auch ihre Beziehungen zu Josef und Käthe stark in den Vordergrund. Besonders mit ihrem Wechselbalg-Bruder, dem "Gärtner ihres Herzens", verbindet sie ein festes Band, eine innige Liebe, die über alle Hürden und Grenzen transzendiert. So entfaltet diese groteske, melancholische und düstere Geschichte auch eine anrührend heilsame Seite, die von leidenschaftlicher Liebe zum Absonderlichen, Wundersamen und Monströsen erzählt.


"Der Mann wird zum Monster, der Junge zum Wechselbalg, die Komponistin zu einer Wahnsinnigen. Wir sind Schmetterlinge und die Unterwelt ist unser Kokon. Ein Ort der Verwandlung und der Magie und der Wunder. "Ich weiß", sage ich. "Er ist zerstört. Ein zerstörter König für eine zerstörte Königin."


Apropos monströs - auch der Koboldkönig entwickelt sich in diesem Buch immens. War er zuvor der eigentliche Reiz der Geschichte und sehr schwer zu fassen, verschmilzt er hier immer mehr mit dem düsteren Setting und geht als fühlende Figur verloren. Was klingt wie Kritik ist jedoch reine Beobachtung. Denn durch den Verlust Elisabeths hat der asketische, liebevolle, fromme und eigenwillige Mann in der Rolle des dunklen Herrschers der Unterwelt, des unsterblichen Herrn des Unheils sein Herz verloren und dient nun der Rolle, der Krone, die ihn zum Erlkönig macht und gleichzeitig in der Unterwelt festhält. Besonders genial an seiner ambivalenten Persönlichkeit ist, dass die Autorin sie nicht klar in "Gut" oder "Böse" teilt sondern ihre Protagonistin beide Seiten an ihrem lieben lässt: das Monster, das zu ihrem Wahnsinn, ihrer Hässlichkeit und ihrer Selbstsucht passt sowie der empfindsame, musikalische Mann, den ihr sensibles, geniales Herz liebt. Genau in diesem Punkt unterscheidet sich das Buch also von den vorgegebenen Mustern an Liebesromanen: er darf als Monster erscheinen, aber dennoch asketische, wichtigtuerische, fromme und eigenwillige Züge haben und Spiele lieben, sie darf hässlich, unvollkommen, wahnsinnig und unscheinbar sein, dabei aber immer wieder über sich selbst hinauswachsen. Zwei verlorene Gestalten, die über die Musik zusammen finden und von uralten Regeln der Magie wieder getrennt werden.


"Brombeerranken und Zweige regten sich beim Klang der Violine. Ein Gefühl der Wachsamkeit regte sich in einer Welt, die noch tief im Winterschlaf steckte. Das Atemholen, bevor sie sich erhob. Unter ihm und um ihn her griff der Wald nach ihm, streckte sich, wuchs, als antwortete er auf seinen Ruf. Die zerbrochenen Spiegel zeigten eine Myriade Jungen unter einer Myriade Bäume, doch Josef sah nicht, dass alle außer einem dasselbe Lied spielten."



Denn so anders dieser zweite Teil auch gegenüber seinem Vorgänger erscheint, so ähnlich ist er ihm auch in vielerlei Hinsichten. Auch diesem Finale wohnt eine unglaubliche Kraft, Poesie, Musik und Wildheit inne, die mich von der ersten Seite an gefesselt hat. Die größte Gemeinsamkeit ist die Liebe zur Musik, die jede Seite verströmt. Bald wird klar, dass der Titel "ShadowSONG" wörtlich zu nehmen ist und wir in die Magie eintauchen dürfen, die Klavier und Geige in Verbindung wirken können. Durch den sehr blumigen, teilweise sogar lyrisch und poetisch anklingenden Schreibstil wird die klassische Musik Vivaldis, Haydns, Mozarts und nicht zuletzt Elisabeths selbst, auf wundervolle Art und Weise magisch und erlebbar gemacht. Trotz des ausführlichen Glossars an musikalischen Fachbegriffen am Ende des Buches sollte man jedoch ein wenig eigene Begeisterung für die Musik mitbringen, um Liesls Leidenschaft nachvollziehen zu können und sich nicht an den Beschreibungen über das Komponieren und das Spielen von Werken zu stören.


"In der Hochzeitssonate war es um mich gegangen. Um meine Gefühle. Wut, Zorn, Frustration, Angst, all das war der erste Satz gewesen. Sehnsucht, Zärtlichkeit, Zuneigung und Hoffnung waren der zweite Satz.
Hass war der dritte. Hass und Selbstverachtung."


Durch die wundersame, lebendige Darstellung der Musik in Kombination mit der dunklen, geheimnisvollen Anziehungskraft der Unterwelt mit der Gestalt des Erlkönigs entwickelt das Buch bald eine ganz eigene, unglaublich fesselnde Atmosphäre, die mich wie der Gesang der Loreley in ihren Bann gezogen und mitgerissen hat, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Wie auch schon die Ballade stellt der Roman die Natur, verkörpert vom schrecklich schönen Erlkönig und seiner Unheilsschar an Kobolden, nicht von ihrer ästhetischen oder gar religiösen Seite dar, sondern gibt ihr eine lockende, bezaubernde, beglückende und tötende Weise. Wie S. Jae-Jones es hinbekommen hat, ungezähmte, wilde, Leidenschaft, zarten, liebevollen Gefühlen gegenüberzustellen, die Kobolde und ihren König gleichsam unheimlich wie faszinierend zu gestalten, sodass man sich wie auch Elisabeth unglaublich lebendig und tot zugleich fühlt, ist wirklich unfassbar!


"Du bist das Monster, das ich für mich beanspruche."
Vielleicht liebte ich das Monströse, weil ich selbst ein Monster war. Josef, der Koboldkönig und ich. Wir waren groteske Figuren in der Oberwelt, zu seltsam, zu talentiert, zu viel. Wir waren alle zu viel."


Mein einziger Kritikpunkt bezieht sich auf die vielen Klischees, die die amerikanische Autorin leider mit ihren Spielorten Bayern, Wien und Böhmen verbindet. Die Protagonisten ernähren sich praktisch nur von Würstchen, Sauerkraut, Knödel und Spätzle und kürzen ihre deutschen Namen auf schreckliche Art und Weise ab. So heißen unsere Protagonisten etwa Liesl (Maria Elisabeth Ingeborg Vogler), Käthe (Anna Katherina Magdalena Ingeborg Vogler) oder Sepperl (Franz Josef Johannes Gottlieb Vogler). Das aller größte Verbrechen gegen meine Vorliebe für schöne Namen begeht sie aber, als sie am Ende den Namen des Erlkönigs enthüllt, den Liesl versteckt im Herzen trägt. Anstatt uns diesen Namen geheimnisvoll vorzuenthalten nennt sie uns einen deutschen Vornamen, der so profan und in Zusammenhang mit dem Erlkönig so lächerlich klingt, dass ich diese Szene einfach nicht ernst nehmen konnte.


"Wer bist du?", flüsterte der Wechselbalg.
Das Spiegelbild lächelte nur. "Ich bin du", antwortete es.
"Was bin ich?", fragte der Wechselbalg.
"Verloren", antwortete das Spiegelbild."


Das Ende nimmt nach dem eher trägen Mittelteil nochmal ordentlich Fahrt auf und ist voll Schmerz, voll Liebe und voll Aufrichtigkeit. Etwas kurz geraten und mit einigen offenen Fragen ist es nicht perfekt aber auf die genau richtige Art gleichzeitig wundervoll und schrecklich, sodass ich mir kein besseres Ende für diese furchtbar schöne (nie hat ein Oxymoron so gut gepasst) Geschichte vorstellen könnte.


"Der Verstand ist ein Gefängnis und nun bin ich frei. Frei, um formlos zu sein. Frei, um gestaltlos zu sein."




Fazit:


Diese groteske, melancholische, düstere Geschichte über schöne Lügen und hässliche Wahrheiten gibt sich so anders als Band 1 und ist dennoch genauso voller Musik und leidenschaftlicher Liebe zum Absonderlichen, Wundersamen und Monströsen. Der Fokus auf Elisabeths Persönlichkeit macht es möglich, sich nochmal komplett neu in dieses Meisterwerk zu verlieben. Denn das ist es trotz etwaiger Schwächen - ein Meisterwerk über Musik, Manie, Wahnsinn, Zerrissenheit, Schmerz, Selbstfindung, Opfer und was es heißt, wirklich und aufrichtig zu lieben.

Veröffentlicht am 22.09.2019

Eine groteske, melancholische, düstere Geschichte über schöne Lügen und hässliche Wahrheiten

Shadowsong
0

Nach dem ich den ersten Teil der zweibändigen Dulogie rund um die Sage des Erlkönigs, "Wintersong" vor zwei Jahren aus der Hand gelegt hatte, dachte ich nur zwei Dinge: "WOW!" und "Her mit Band 2". Leider ...

Nach dem ich den ersten Teil der zweibändigen Dulogie rund um die Sage des Erlkönigs, "Wintersong" vor zwei Jahren aus der Hand gelegt hatte, dachte ich nur zwei Dinge: "WOW!" und "Her mit Band 2". Leider hat sich der Verlag relativ viel Zeit gelassen doch jetzt ist es da: das Finale meines Jahreshighlights 2017. Sofort in die Geschichte gestürzt musste ich nach wenigen Seiten feststellen, dass sich die Fortsetzung ganz anders gestaltete, als ich angenommen hatte. Zum Einen ist es sehr schade, dass "Shadowsong" unbekannte Töne anschlägt und den Fokus stark verschiebt, zum anderen sind die Unterschiede zu Band 1 auch ein wundervoller Zugewinn an Tiefe, sodass wir uns neu verlieben können. In diese unglaubliche Geschichte über Musik, Manie, Wahnsinn, Zerrissenheit, Schmerz, Selbstfindung, Opfer und was es heißt, wirklich und aufrichtig zu lieben.


"Bleib und sei bei mir" (…) Sie ruft ihn. Ein Monster hebt seinen Kopf als der Klang von Musik aus der oberen Welt hereindringt. (…) Es ist ein Hilfeschrei."


Schon die Gestaltung, die mal wieder wunderschön ist, lässt sich die düsterere Einfärbung der Geschichte erkennen. Wo Band 1 hell wie Winterschnee, hell wie der Tag war, ist Band 2 dunkelblau wie die Nacht. Wo zuvor karge, winterliche Vogelbeeren zu sehen waren, blühen nun üppige Mohnblumen. Und durch die aufflatternden, schwarzen Vogelsilhouetten und dem Schatten eines Mädchens in einem wehenden Kleid, erhält das Cover eine magische, düstere aber verspielte Note. Der Titel thront in Großbuchstaben im Zentrum des Ganzen und ist mit einem weißen Faden verziert. Das Beste an der Gestaltung ist jedoch das Innenleben des Romans. In vier Teile und übergeordnet in Abschnitte eines Musikstückes geteilt (Ouvertüre, Intermezzo, Zwischenspiel, Coda...) ist es mit wunderschönen Zitaten aus Briefen Beethovens an seine Geliebte und dem auch auf dem Cover zusehenden Kranz Mohnblüten gesäumt, während aufflatternde Vögel jede der liebevoll ausgewählten Kapitelüberschriften umgeben. Ich finde diese Gestaltung wirklich unfassbar schön und um einiges besser gelungen als das der englischen Ausgabe. Letzteres ist zwar auch hübsch anzusehen, mir aber zu verträumt und nicht so atmosphärisch.


Erster Satz: "Auf keinen Fall", rief Constanze und ließ ihren Gehstock auf den Boden krachen."


Nach einer Danksagung (zur besseren Beachtung durch den Leser vorangestellt) und einem aufschlussreichen Vorwort, in dem die Autorin durch eine Triggerwarnung das Hauptthema des Buches vorwegnimmt, steigen wir mit einer Flut von Briefen von Liesl an ihren Bruder Josef in die Geschichte ein. Seit sechs Monaten ist Liesl nun schon zurück aus der Unterwelt nachdem der Erlkönig sie allen Gesetzen zum Trotz hat gehen lassen. Sechs Monate, in denen nur die Routine der Arbeit und die Träume von einem Reich unter der Erde sie am Laufen halten. Sechs Monate, in denen sie von Josef aus Wien keine Briefe erhalten hat. Sechs Monate, in denen sie ihre Musik nicht mehr finden kann. Sechs Monate, in dem sie IHN nicht mehr finden kann. Lange bevor tragische Eistode in ihrem Dorf bestätigen, was ihre Großmutter schon längst befürchtet hat, weiß sie, dass sie den Wahnsinn beenden und in die Unterwelt zurückkehren muss. Denn die alten Gesetze fordern ihr gestohlenes Opfer ein und als ein unheiliges Heer durch die Lande reitet, muss sie sich fragen, was sie noch zu opfern bereit ist...


"Ein König steht in einem Hain, mit Kapuze und Mantel, ein großer, eleganter Fremder. Er steht abgewandt, schaut in den formlosen Nebel, der ihn umgibt, herausfordernd und doch voll Kummer, während das Donnern von Hufen und das glockengleiche Bellen der Jagdhunde die Luft erfüllt. Seine Gesichtszüge liegen im Schatten, aber Büschel federartigen weißen Haares schauen unter seiner Kapuze hervor, ein Funkeln heller Augen, die das seltsame, unendliche Licht um ihn herum widerspiegeln. In der Ferne wachsen Gestalten empor, die flüchtigen Nebelfetzen werden zu Fahnen, Dunst wird zu aufsteigenden Wellen, zu Pferdemähnen, zu Männern. Männern mit Speeren, Männer mit Schilden und Männer mit Schwertern. Ein unheiliges Heer.
"Sie kommen, Elisabeth."


Diese Geschichte im Stil eines düsteren, leidenschaftlichen, zauberhaften und magisch berührenden Märchens hat nichts mit dem typischen New-Adult-Fantasy-Genre gemeinsam, das mittlerweile die Bestsellerlisten in Beschlag nimmt - zum Glück! Wir bekommen hier keine fesselnde Unterhaltung, keine schönen Liebesszenen, keine bewundernswerte Charaktere und keine rasante Handlung - aber wir bekommen etwas viel besseres: Tiefe. Schon im Vorwort wird klar, dass sich die Autorin mit ihrer Fortsetzung auf ein ganz bestimmtes Thema konzentriert: die bipolare Störung ihrer Protagonistin Liesl, die ihrer eigenen Version des Wahnsinns nicht unähnlich sei. Immer wieder drehen wir uns um dieses Thema, fragen uns, was sich Liesl immer wieder fragt: "Ist das Wahnsinn? Oder einfach nur eine andere Art zu sein?" Die ambivalenten Auftritte des Koboldkönigs, die mythischen Hintergründe der "Wilden Jagd", die ungewöhnliche Romanze und die dunkle Unterwelt, die das Herz des ersten Teils waren, rücken hier zugunsten von Liesls Innenleben etwas in den Hintergrund. Von der düsteren, dunklen Fantasiewelt, die gleichzeitig schillernd schön und grausig schrecklich ist, wechseln wir hier zurück in eine von gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen geprägte Umwelt. Die Sage vom Erlkönig, welche ursprünglich aus dem Dänischen kommt und von Johann Wolfgang von Goethe in der bekannten Ballade "Erlkönig" dargestellt wird, formt bloß noch den großen Rahmen. Stattdessen beschäftigen wir uns mit Liesls Persönlichkeit, ihren Fehlern, ihrer Schuld, ihrem Leiden, ihrer Entwicklung, ihrem Genie und ihrer ganz besonderen Form des Wahnsinns.


"Wahnsinn ist keine Gabe", sagte ich wütend.
"Aber auch kein Fluch", erwidert der Graf sanft. "Wahnsinn ist einfach."


Wir lernten die 19-Jährige Ich-Erzählerin als unscheinbares Mädchen kennen, das Provinz Bayerns etwa im 18. Jahrhundert zur Lebzeit Mozarts lebt und zwischen ihrer schönen Schwester Käthe und ihrem virtuosen Bruder Josef untergeht. In der Unterwelt schafft sie es dann, ihre gezähmte, selbstlose, konventionelle Fassade des langweiligen, reizlosen und mittelmäßigen Mädchens abzulegen und sich mit der Frau bekanntzumachen, die darunter liegt. Zwischen all ihrer Mittelmäßigkeit ihres Daseins, ihrem guten Benehmen, ihrer Rücksicht, ihrem Anstand, ihrer Zurückhaltung schlummert eine wilde, ungezähmte Gabe, die an die Oberfläche drängt - eine Leidenschaft für Sonaten, Bagatellen, Symphonien, Etüden, Chaconne und allen anderen Ansammlungen von Tönen. Inspiriert wird sie von der Schönheit der Natur in ihrem Koboldhain hinter dem Haus und vor allem von ihm: ihrem Koboldkönig. Sie entdeckt eine wilde Ungestüm, macht sich mit Wünschen, Sehnsüchten und Eigenarten vertraut, sodass sie wird, was ihr Angetrauter von ihr verlangt: Elisabeth ganz und gar. Zurück in der Realität kann sie nun weder ihr neu entfaltetes Genie ausleben, noch in die langweilige Mittelmäßigkeit zurückfinden, sodass sie zwischen den Welten, ihren Bedürfnissen und ihrer Liebe gefangen und zerrissen ist. Sie ist nicht mehr "Elisabeth ganz und gar" sondern nur "Elisabeth total verloren". In ihrer Orientierungslosigkeit, in ihrem Sehnen, in ihrem Schmerz gibt sie sich ihrem Destruktivität, ihrer Arroganz, ihren Launen, ihrer Egozentrik, ihrer Unvernunft - schlicht ihrem Wahnsinn hin.


"Wahnsinn, Manie, Melancholie. Musik, Zauber, Erinnerungen. Ein Strudel, der um eine Wahrheit kreist, die ich nicht zugeben will. Ich schlafe nicht, weil ich mich vor den Zeichen und Wunden fürchte, die sich sehe, wenn ich erwache. Dornenranken winden sich um Zweige, das Klacken von unsichtbaren Krallen, Blut, das zu einer Blume erblüht."


Geprägt von dieser Geisteshaltung nimmt auch die Handlung langsamere Züge an. Die Geschehnisse erscheinen als zähe, träge vor sich hinfließende Masse und wir verlieren uns zeitweise in Melancholie, Schmerz und Orientierungslosigkeit. Dass die Geschichte trotz der geringen Handlungskraft seine Anziehung nicht verliert, führt die Autorin geheimnisvolle Rückblicke in das Leben des Erlkönigs, eine neue zum Leben gewordene Legende und eine dunkle Verschwörung ein und entführt zuerst nach Wien und dann auf ein mystisches Anwesen in Böhmen. Außerdem rücken neben Liesls Gefühlen auch ihre Beziehungen zu Josef und Käthe stark in den Vordergrund. Besonders mit ihrem Wechselbalg-Bruder, dem "Gärtner ihres Herzens", verbindet sie ein festes Band, eine innige Liebe, die über alle Hürden und Grenzen transzendiert. So entfaltet diese groteske, melancholische und düstere Geschichte auch eine anrührend heilsame Seite, die von leidenschaftlicher Liebe zum Absonderlichen, Wundersamen und Monströsen erzählt.


"Der Mann wird zum Monster, der Junge zum Wechselbalg, die Komponistin zu einer Wahnsinnigen. Wir sind Schmetterlinge und die Unterwelt ist unser Kokon. Ein Ort der Verwandlung und der Magie und der Wunder. "Ich weiß", sage ich. "Er ist zerstört. Ein zerstörter König für eine zerstörte Königin."


Apropos monströs - auch der Koboldkönig entwickelt sich in diesem Buch immens. War er zuvor der eigentliche Reiz der Geschichte und sehr schwer zu fassen, verschmilzt er hier immer mehr mit dem düsteren Setting und geht als fühlende Figur verloren. Was klingt wie Kritik ist jedoch reine Beobachtung. Denn durch den Verlust Elisabeths hat der asketische, liebevolle, fromme und eigenwillige Mann in der Rolle des dunklen Herrschers der Unterwelt, des unsterblichen Herrn des Unheils sein Herz verloren und dient nun der Rolle, der Krone, die ihn zum Erlkönig macht und gleichzeitig in der Unterwelt festhält. Besonders genial an seiner ambivalenten Persönlichkeit ist, dass die Autorin sie nicht klar in "Gut" oder "Böse" teilt sondern ihre Protagonistin beide Seiten an ihrem lieben lässt: das Monster, das zu ihrem Wahnsinn, ihrer Hässlichkeit und ihrer Selbstsucht passt sowie der empfindsame, musikalische Mann, den ihr sensibles, geniales Herz liebt. Genau in diesem Punkt unterscheidet sich das Buch also von den vorgegebenen Mustern an Liebesromanen: er darf als Monster erscheinen, aber dennoch asketische, wichtigtuerische, fromme und eigenwillige Züge haben und Spiele lieben, sie darf hässlich, unvollkommen, wahnsinnig und unscheinbar sein, dabei aber immer wieder über sich selbst hinauswachsen. Zwei verlorene Gestalten, die über die Musik zusammen finden und von uralten Regeln der Magie wieder getrennt werden.


"Brombeerranken und Zweige regten sich beim Klang der Violine. Ein Gefühl der Wachsamkeit regte sich in einer Welt, die noch tief im Winterschlaf steckte. Das Atemholen, bevor sie sich erhob. Unter ihm und um ihn her griff der Wald nach ihm, streckte sich, wuchs, als antwortete er auf seinen Ruf. Die zerbrochenen Spiegel zeigten eine Myriade Jungen unter einer Myriade Bäume, doch Josef sah nicht, dass alle außer einem dasselbe Lied spielten."



Denn so anders dieser zweite Teil auch gegenüber seinem Vorgänger erscheint, so ähnlich ist er ihm auch in vielerlei Hinsichten. Auch diesem Finale wohnt eine unglaubliche Kraft, Poesie, Musik und Wildheit inne, die mich von der ersten Seite an gefesselt hat. Die größte Gemeinsamkeit ist die Liebe zur Musik, die jede Seite verströmt. Bald wird klar, dass der Titel "ShadowSONG" wörtlich zu nehmen ist und wir in die Magie eintauchen dürfen, die Klavier und Geige in Verbindung wirken können. Durch den sehr blumigen, teilweise sogar lyrisch und poetisch anklingenden Schreibstil wird die klassische Musik Vivaldis, Haydns, Mozarts und nicht zuletzt Elisabeths selbst, auf wundervolle Art und Weise magisch und erlebbar gemacht. Trotz des ausführlichen Glossars an musikalischen Fachbegriffen am Ende des Buches sollte man jedoch ein wenig eigene Begeisterung für die Musik mitbringen, um Liesls Leidenschaft nachvollziehen zu können und sich nicht an den Beschreibungen über das Komponieren und das Spielen von Werken zu stören.


"In der Hochzeitssonate war es um mich gegangen. Um meine Gefühle. Wut, Zorn, Frustration, Angst, all das war der erste Satz gewesen. Sehnsucht, Zärtlichkeit, Zuneigung und Hoffnung waren der zweite Satz.
Hass war der dritte. Hass und Selbstverachtung."


Durch die wundersame, lebendige Darstellung der Musik in Kombination mit der dunklen, geheimnisvollen Anziehungskraft der Unterwelt mit der Gestalt des Erlkönigs entwickelt das Buch bald eine ganz eigene, unglaublich fesselnde Atmosphäre, die mich wie der Gesang der Loreley in ihren Bann gezogen und mitgerissen hat, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Wie auch schon die Ballade stellt der Roman die Natur, verkörpert vom schrecklich schönen Erlkönig und seiner Unheilsschar an Kobolden, nicht von ihrer ästhetischen oder gar religiösen Seite dar, sondern gibt ihr eine lockende, bezaubernde, beglückende und tötende Weise. Wie S. Jae-Jones es hinbekommen hat, ungezähmte, wilde, Leidenschaft, zarten, liebevollen Gefühlen gegenüberzustellen, die Kobolde und ihren König gleichsam unheimlich wie faszinierend zu gestalten, sodass man sich wie auch Elisabeth unglaublich lebendig und tot zugleich fühlt, ist wirklich unfassbar!


"Du bist das Monster, das ich für mich beanspruche."
Vielleicht liebte ich das Monströse, weil ich selbst ein Monster war. Josef, der Koboldkönig und ich. Wir waren groteske Figuren in der Oberwelt, zu seltsam, zu talentiert, zu viel. Wir waren alle zu viel."


Mein einziger Kritikpunkt bezieht sich auf die vielen Klischees, die die amerikanische Autorin leider mit ihren Spielorten Bayern, Wien und Böhmen verbindet. Die Protagonisten ernähren sich praktisch nur von Würstchen, Sauerkraut, Knödel und Spätzle und kürzen ihre deutschen Namen auf schreckliche Art und Weise ab. So heißen unsere Protagonisten etwa Liesl (Maria Elisabeth Ingeborg Vogler), Käthe (Anna Katherina Magdalena Ingeborg Vogler) oder Sepperl (Franz Josef Johannes Gottlieb Vogler). Das aller größte Verbrechen gegen meine Vorliebe für schöne Namen begeht sie aber, als sie am Ende den Namen des Erlkönigs enthüllt, den Liesl versteckt im Herzen trägt. Anstatt uns diesen Namen geheimnisvoll vorzuenthalten nennt sie uns einen deutschen Vornamen, der so profan und in Zusammenhang mit dem Erlkönig so lächerlich klingt, dass ich diese Szene einfach nicht ernst nehmen konnte.


"Wer bist du?", flüsterte der Wechselbalg.
Das Spiegelbild lächelte nur. "Ich bin du", antwortete es.
"Was bin ich?", fragte der Wechselbalg.
"Verloren", antwortete das Spiegelbild."


Das Ende nimmt nach dem eher trägen Mittelteil nochmal ordentlich Fahrt auf und ist voll Schmerz, voll Liebe und voll Aufrichtigkeit. Etwas kurz geraten und mit einigen offenen Fragen ist es nicht perfekt aber auf die genau richtige Art gleichzeitig wundervoll und schrecklich, sodass ich mir kein besseres Ende für diese furchtbar schöne (nie hat ein Oxymoron so gut gepasst) Geschichte vorstellen könnte.


"Der Verstand ist ein Gefängnis und nun bin ich frei. Frei, um formlos zu sein. Frei, um gestaltlos zu sein."




Fazit:


Diese groteske, melancholische, düstere Geschichte über schöne Lügen und hässliche Wahrheiten gibt sich so anders als Band 1 und ist dennoch genauso voller Musik und leidenschaftlicher Liebe zum Absonderlichen, Wundersamen und Monströsen. Der Fokus auf Elisabeths Persönlichkeit macht es möglich, sich nochmal komplett neu in dieses Meisterwerk zu verlieben. Denn das ist es trotz etwaiger Schwächen - ein Meisterwerk über Musik, Manie, Wahnsinn, Zerrissenheit, Schmerz, Selbstfindung, Opfer und was es heißt, wirklich und aufrichtig zu lieben.

Veröffentlicht am 12.09.2019

Episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht - einfach das perfekte Finale

Vollendet - Die Wahrheit (Band 4)
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Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen ...

Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen und ist noch viel gruseliger, genialer, berührender und verstörender als ich es mir vorgestellt hatte! Damit ich diesen Band wirklich genießen und vollständig miterleben kann, habe ich in den letzten Wochen nochmal "Vollendet - Die Flucht", "Vollendet - Der Aufstand" und "Vollendet - Die Rache"gelesen und kann nun mit voller Überzeugung festhalten: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe. Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!

Doch beginnen wir meine Lobeshymne an den Autor mit der Gestaltung des Buches, die wieder sehr an die Vorgänger angelehnt ist. Zusehen ist das Gesicht eines anderen Teenagers in zerstückelter Pixel-Form, die auf die Umwandlung hinweist. Wer die dargestellte Person sein soll und wer die Teenager auf den anderen Cover sind weiß ich zwar nicht, mir gefällt die neue Gestaltung mit dem dunklen Hintergrund und dem grünen Titel aber. Schade ist nur, dass das Buch nur in der neuen Auflage erschienen ist und alle, die die Bücher noch im alten Design haben, nun eine gemischte Reihe besitzen. Ich für meinen Teil störe mich daran überhaupt nicht, bin ich doch viel zu froh, dass der vierte Teil nun endlich überhaupt erschienen ist, nachdem die Reihe in der ersten Auflage nach Band 3 abgesetzt wurde und die englischen Ausgaben ständig vergriffen waren.


Erster Satz: "Ein Betäubungsgeschoss saust so nah an seinem Ohrläppchen vorbei, dass es ein Stückchen Haut mitnimmt."


Nach einer prologähnlichen Ansammlung von kleinen Wiederholungen, die geschickt in den Kontext gebracht dem Leser bei der Auffrischung der vorangegangenen Ereignisse und wichtiger Fachbegriffe helfen, knüpft die Handlung gleich an die des dritten Teils an. Zu Beginn passiert erstmal nicht viel Außergewöhnliches und wir haben viel Zeit, um uns wieder in die Geschichte einzufinden, was vor allem auch den vielen Erzählperspektiven geschuldet ist, die wir mittlerweile angesammelt haben. Wer vielleicht nach dem Klapptext denkt "nunja, sie haben ja jetzt den Organdrucker, also ist wohl das Problem einfach gelöst", dem sei gesagt, dass der Autor von "einfach" bekanntlich nicht viel wissen will. Statt einen großen, triumphalen Siegeszug gegen die Umwandlung anzutreten, quält der Autor unsere armen Leserherze mit neuen Hürden, Missgeschicken, Verrat, Gefangennahme, Gefahr und Tod und es geht erstmal alles ordentlich den Bach runter. Dabei erhalten wir hier noch weniger Verschnaufpausen als zuvor und schnellere Perspektivwechsel, kürzere Abstände, tiefere Abgründe, gefährlichere Aktionen und höherer Druck halten uns ganz schön auf Trab.


"Jansons Maschine ist jetzt euer Baby. Zieht los und repariert die Welt."


USA, die nahe Zukunft: Teenager, die zu viel Ärger machen, werden gnadenlos aus der Gesellschaft ausgestoßen und "umgewandelt". Sie werden in Erntecamps ihre Einzelteile zerlegt und an Empfänger verteilt. Dies ist nach wie vor die erschreckende Basis, auf der die Geschichte fußt. Und wie zuvor auch schon geht der Autor wieder an sämtliche Grenzen und schafft es in einem aufregenden Drahtseilakt uns gleichzeitig zu schockieren und zu berühren.
Immer wieder dachte ich "was soll da jetzt noch kommen, jetzt kann mich nichts mehr schocken". Und dann bringt der Autor wieder ein neuer Aspekt auf den Tisch, lässt Schwarz und Weiß erschreckend verwischen oder bringt fast nicht auszuhaltende Opfer und man denkt sich nur in stillem Entsetzen: hat er nicht gemacht!!! So besichtigen wir eine fliegende, vollautomatische Ernte-Maschine mit elektronischem Erntebegleiter, spielen auf einer Orgel aus Menschenköpfen, die Orgao Orgânico oder Erleben den Aufbau eine Verbundmenschenarmee. Neal Shusterman hält auch hier wieder etliche Wendungen und Erklärungen bereit, um unseren Schock und Ekel vor einer Gesellschaft, die ungeliebte Kinder zum Wohle von geliebten Kindern auslöscht, immer wieder aufs Neue zu entfachen.


"In Cams Augen ist Roberta das Proaktive Bürgerforum. Das Bürgerforum zu besiegen heißt, sie zu besiegen. In der Luft zu zerreißen. Aber das darf sie natürlich nicht wissen. Vorerst muss er noch ihren perfekten Goldjungen spielen. Er wird strahlen wie das Götzenbild, zu dem sie ihn mit großer Sorgfalt gemacht haben. Das Goldene Kalb, das die gesamte Menschheit anbetet. Und es wird umso wunderbarer sein, das entsetzte Erstaunen in Robertas Augen zu sehen, wenn er alles zerstört."


Die Stimmung der allgemeinen Bevölkerung, die dank der gezielten Stimmungsmache des Proaktiven Bürgerforum immer mehr zu kippen droht, wird wieder durch kurze Ausschnitte aus abstrusen Werbekampagnen für die Umwandlung deutlich. Hier geht der Autor mit Kampagnen für das Gesetz zur Aufhebung der elterlichen Rechte, die dem Staat erlauben, wahllos und ohne das Einverständnis der Eltern, Kinder umzuwandeln, für präventive Überwachung von Kindern unter dem umwandlungsfähigen Alter oder für das Track-a-Teen-Projekt aufs Ganze und zeigt uns, wie eine Gesellschaft mit der Weile abstumpft und jegliche Skrupel verliert. In der letzten Hälfte gibt es dann weniger Werbeanzeigen, dafür aber Ausschnitte aus Haydens Radio-Podcasts, in denen er zu einem Generalaufstand gegen die Umwandlung aufruft und die Machenschaften des Proaktiven Bürgerforums entlarvt, die Starkeys Terror und die Klatscher-Bewegung finanzieren, um die gesellschaftliche Zustimmung für die Umwandlung nicht zu verlieren.


"Da durchzuckt in eine Kälte, als würde ein Geist durch seinen Körper fahren. Aber es ist kein Geist. Es ist eine böse Vorahnung der Zukunft. Einer Zukunft, die niemals eintreten darf...
… und zum ersten Mal lässt er einen Gedanken zu, der in jeder Nacht in Millionen Menschen lautlos widerhallt.
Mein Gott... was haben wir getan?"


Ebenfalls wieder vorhanden sind die realen Berichte und Links, die vor jedem der sieben Teile angefügt sind. Dadurch wird uns auf erschütternde Art und Weise klargemacht, dass die Reihe trotz ihrer scheinbaren Absurdität viel zu nahe an der Realität ist, um nicht weiter über die Themen nachzudenken. Egal ob boomender Schwarzmarkt für Organhandel, dokumentierte Fälle in denen Organempfänger Erinnerungen ihrer Spender haben, absurde Kunst aus menschlichen Organen, Sterbehilfegesetze für Kinder, Babyklappen in italienischen Krankenhäusern, die Diskussion über die Todesstrafe für rebellische Kinder, die neue Gefahr durch Körperbomben oder die Chance auf 3D-Drucker - die angesprochenen Themen lassen sich alle auf Aspekte der Handlung beziehen und geben dem Leser ordentlich etwas zu denken!


"Ich war nie ein Kind", sagt er mit einer Traurigkeit, die nur er jemals richtig begreifen wird. "Ich war Zehntopfer, Klatscher, Flüchtling, aber niemals ein Kind."


Der Autor - ein Meister der Handlungsstränge - tischt uns ein komplexes Beziehungsgeflecht voller Wiedersehen, Trennungen, Enden und Neubeginnen, Hass und Liebe auf und beschert uns mit seinem meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen. Dadurch, dass er die Protagonisten immer wieder durchmischt und in anderer Konstellation aufeinander treffen lässt wird bald klar, dass ihre Schicksale enger verknüpft sind, als sie selbst ahnen und. Die ständige Neumischung der Protagonisten sorgt immer wieder für neue Dynamik. Dabei gibt es so viele Handlungsstränge wie noch nie zuvor. Neben dem "alten Kern", Connor, Risa, Lev erzählen wie gehabt auch Cam, Starkey, Nelson, Argent, Grace, Bam, Hayden, Roberta, Una, Sonia und die zwei neuen Protagonisten Jeevan und Divan. Dabei belässt es der Autor selbst in seinem finalen Teil nicht bei den oberflächlichen Charakterisierungen sondern lässt seine Figuren immer wieder neu aufleben, zeigt uns andere Seiten an ihnen und führt uns durch überraschende Entwicklungen vor Auge, dass ein wahrhaft guter Protagonist sich immer verändert.


"Du bist ein Junge. Du kannst nicht erwarten, die Welt aus den Angeln zu haben."
Vielleicht nicht. Aber er träumt davon, den Mond auf die Erde zu holen."


Und es ist wirklich jeder einzelne von ihnen etwas Besonderes:
Connor, der für seine Ziele bereit ist, alles aufzugeben und das größte Opfer bringt.
Lev, der zu drastischen Maßnahmen greift, um auf die Grausamkeit der Umwandlung hinzuweisen und dabei endlich seinen Frieden findet.
Risa, die mit ihrer besonnen Art Hoffnung schenkt und tödliche Wunden heilt.
Cam, der sich trotz seiner gelöschten Erinnerungen endgültig gegen seine Erschaffer auflehnt und für eine Sache kämpft, an die er sich nicht einmal richtig erinnern kann.
Starkey, der durch seine Machtgier in den Ruin getrieben wird und von seinem erbittertsten Feind Gnade erfährt.
Nelson, den der Hass langsam auffrisst, bis nichts mehr von ihm übrig ist.
Argent, der einfach nur einmal im Leben seine Ziele erreichen will und der in letzter Sekunde die richtige Entscheidung trifft.
Grace, die von der ganzen Welt unterschätzt ist, hinter deren schlichtem Gemüt sich aber eine unschlagbare Beobachtungsgabe, sanftes Taktgefühl und ein strategisches Genie verstecken.
Bam, die weiß, dass sie keine gute Anführerin ist und deshalb doch die perfekte Wahl zur Führung der Storche ist.
Hayden, dessen Sarkasmus seinen Schmerz verbirgt und der seinen Einfluss zum Ausrufen eines chancenlosen Aufstands nutzt.
Roberta, die verzweifelt nach einem Platz an der Sonne sucht, stattdessen aber nur den Abgrund findet.
Una, deren Wut ihr bester Freund ist seit sich ihre große Liebe sich für Lev opferte und die angesichts eines gewissen Verbundmenschen ihre Weltansichten überdenken muss.
Sonia, die versucht, sich von einer schrecklichen Schuld reinzuwaschen und ihr Leben der AUF verschrieben hat.
Jeevan, der in einem schicksalshaften Moment nicht Hacker, nicht Wandler, nicht Soldat sondern nur Mensch ist.
Divan, der sich einredet, nur seine Arbeit zu machen, dabei aber in Selbsthass erstickt.



"Sein Leben war es wert, gelebt zu werden, und trotz der schlechten Karten, die ihm ausgeteilt wurden, hat er es in den letzten beiden Jahren ausnehmend gut gelebt. Er weiß, was es bedeutet, vielen Menschen das Leben zu retten. Er weiß, was es bedeutet, ein Leben zu beenden. Aber vor allem weiß er, was es bedeutet zu lieben."


Ich habe sie alle leidenschaftlich geliebt (oder manche natürlich gehasst) und ihre Entwicklungen mit Spannung verfolgt, bis sich am Ende alles fügt und jeder Handlungsstrang zu einem befriedigenden Abschluss geführt wird. Wunderbar sind neben den kurzen Abschnitten aus der Sicht außenstehender Figuren wie beispielsweise einen Ernte-Camp-Gärtner oder eine Mutter, die vielen Andeutungen und kurze Wiedersehen zu Figuren, die uns schon verlassen haben. So kommt Miracolina zum Beispiel noch mal vor und wir erfahren ein bisschen mehr über Roland. Die einzige kleine Kritik, die ich anbringen will, ist dass Risa als einzige keinen großen Auftritt erhält und von ihren Jungs ein bisschen in den Hintergrund gedrängt wird. Im letzten Drittel angelangt erreicht die Geschichte dann für die Protagonisten ihren absoluten Tiefpunkt und als Leser fragt man sich mit kritischem Blick auf die verbliebenen Seiten, wie der Autor das alles noch in so wenig Zeit wieder gerade biegen will. Und dann … dann beginnt der wirklich magische Teil!

"I´ve got you… under my skin"


Dieser Song, den Hayden immer in seinen Podcast verwendet wird hier Programm. Nicht nur thematisch sondern auch im übertragenen Sinn. Denn das Ende geht wirklich unter die Haut und ein OMG-Moment reiht sich an den nächsten. Das war definitiv das beste Ende, das man sich hätte ausdenken können - episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht, einfach das perfekte Finale! In irrsinnigem Tempo schafft es der Autor, das Szenario komplett zu drehen, jeden Handlungsstrang zu einem befriedigenden Ende zu bringen und alle Facetten der Geschehnisse von verschiedenen Seiten auszuleuchten. Drastische Wendungen, schockierende Grausamkeit, ehrliches Mitgefühl, tiefer Schmerz, leidenschaftliche Liebe, angesichts der schnellen Ereignisse konnte ich die Tränen nicht mehr unterdrücken. Natürlich hätte ich mir ganz zum Schluss noch ein paar mehr Infos über den weiteren Verlauf gewünscht. Was machen Connor und Risa jetzt? Finden sie ihren Frieden? Wie geht Lev mit seiner neuen Existenz um? Wird die Umwandlung nun komplett abgeschafft? Was passiert mit der Storchenbrigade und den fliehenden Wandlern …? Das schlussendliche Finale gibt nur die grobe Richtung vor, in die sich die Welt weiter bewegen wird, lässt aber einige Fragen absichtlich offen. Das ist natürlich nur realistisch da es wirklich seltsam gewesen wäre, wenn plötzlich allen Menschen aufgefallen wäre, "huch, das ist ja total blöd was wir da mit unseren Kindern anstellen, lass mal ändern", dennoch hätte ein klitzekleiner Epilog meine Leserseele erfreut und meinen Abschied erleichtert. Das Lebewohlsagen von dieser intensiven Reise durch diese marode Gesellschaft an der Seite unfassbarer Protagonisten, mit denen geliebt, gehasst, gelitten, gelacht und geweint habe, viel mir wirklich sehr schwer. Zum Glück gibt es noch einen Ergänzungsband mit kurzen Geschichten aus dem Universum, in dem wir Connor, Lev, Risa, Cam, Hayden, Bam, Miracolina und wie sie alle heißen nochmal wieder sehen dürfen!




Fazit:


Nach diesem hinreißenden Ende steht für mich fest: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe! Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!

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Veröffentlicht am 12.09.2019

Episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht, einfach das perfekte Finale!

Vollendet - Die Wahrheit (Band 4)
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Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen ...

Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen und ist noch viel gruseliger, genialer, berührender und verstörender als ich es mir vorgestellt hatte! Damit ich diesen Band wirklich genießen und vollständig miterleben kann, habe ich in den letzten Wochen nochmal "Vollendet - Die Flucht", "Vollendet - Der Aufstand" und "Vollendet - Die Rache"gelesen und kann nun mit voller Überzeugung festhalten: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe. Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!

Doch beginnen wir meine Lobeshymne an den Autor mit der Gestaltung des Buches, die wieder sehr an die Vorgänger angelehnt ist. Zusehen ist das Gesicht eines anderen Teenagers in zerstückelter Pixel-Form, die auf die Umwandlung hinweist. Wer die dargestellte Person sein soll und wer die Teenager auf den anderen Cover sind weiß ich zwar nicht, mir gefällt die neue Gestaltung mit dem dunklen Hintergrund und dem grünen Titel aber. Schade ist nur, dass das Buch nur in der neuen Auflage erschienen ist und alle, die die Bücher noch im alten Design haben, nun eine gemischte Reihe besitzen. Ich für meinen Teil störe mich daran überhaupt nicht, bin ich doch viel zu froh, dass der vierte Teil nun endlich überhaupt erschienen ist, nachdem die Reihe in der ersten Auflage nach Band 3 abgesetzt wurde und die englischen Ausgaben ständig vergriffen waren.


Erster Satz: "Ein Betäubungsgeschoss saust so nah an seinem Ohrläppchen vorbei, dass es ein Stückchen Haut mitnimmt."


Nach einer prologähnlichen Ansammlung von kleinen Wiederholungen, die geschickt in den Kontext gebracht dem Leser bei der Auffrischung der vorangegangenen Ereignisse und wichtiger Fachbegriffe helfen, knüpft die Handlung gleich an die des dritten Teils an. Zu Beginn passiert erstmal nicht viel Außergewöhnliches und wir haben viel Zeit, um uns wieder in die Geschichte einzufinden, was vor allem auch den vielen Erzählperspektiven geschuldet ist, die wir mittlerweile angesammelt haben. Wer vielleicht nach dem Klapptext denkt "nunja, sie haben ja jetzt den Organdrucker, also ist wohl das Problem einfach gelöst", dem sei gesagt, dass der Autor von "einfach" bekanntlich nicht viel wissen will. Statt einen großen, triumphalen Siegeszug gegen die Umwandlung anzutreten, quält der Autor unsere armen Leserherze mit neuen Hürden, Missgeschicken, Verrat, Gefangennahme, Gefahr und Tod und es geht erstmal alles ordentlich den Bach runter. Dabei erhalten wir hier noch weniger Verschnaufpausen als zuvor und schnellere Perspektivwechsel, kürzere Abstände, tiefere Abgründe, gefährlichere Aktionen und höherer Druck halten uns ganz schön auf Trab.


"Jansons Maschine ist jetzt euer Baby. Zieht los und repariert die Welt."


USA, die nahe Zukunft: Teenager, die zu viel Ärger machen, werden gnadenlos aus der Gesellschaft ausgestoßen und "umgewandelt". Sie werden in Erntecamps ihre Einzelteile zerlegt und an Empfänger verteilt. Dies ist nach wie vor die erschreckende Basis, auf der die Geschichte fußt. Und wie zuvor auch schon geht der Autor wieder an sämtliche Grenzen und schafft es in einem aufregenden Drahtseilakt uns gleichzeitig zu schockieren und zu berühren.
Immer wieder dachte ich "was soll da jetzt noch kommen, jetzt kann mich nichts mehr schocken". Und dann bringt der Autor wieder ein neuer Aspekt auf den Tisch, lässt Schwarz und Weiß erschreckend verwischen oder bringt fast nicht auszuhaltende Opfer und man denkt sich nur in stillem Entsetzen: hat er nicht gemacht!!! So besichtigen wir eine fliegende, vollautomatische Ernte-Maschine mit elektronischem Erntebegleiter, spielen auf einer Orgel aus Menschenköpfen, die Orgao Orgânico oder Erleben den Aufbau eine Verbundmenschenarmee. Neal Shusterman hält auch hier wieder etliche Wendungen und Erklärungen bereit, um unseren Schock und Ekel vor einer Gesellschaft, die ungeliebte Kinder zum Wohle von geliebten Kindern auslöscht, immer wieder aufs Neue zu entfachen.


"In Cams Augen ist Roberta das Proaktive Bürgerforum. Das Bürgerforum zu besiegen heißt, sie zu besiegen. In der Luft zu zerreißen. Aber das darf sie natürlich nicht wissen. Vorerst muss er noch ihren perfekten Goldjungen spielen. Er wird strahlen wie das Götzenbild, zu dem sie ihn mit großer Sorgfalt gemacht haben. Das Goldene Kalb, das die gesamte Menschheit anbetet. Und es wird umso wunderbarer sein, das entsetzte Erstaunen in Robertas Augen zu sehen, wenn er alles zerstört."


Die Stimmung der allgemeinen Bevölkerung, die dank der gezielten Stimmungsmache des Proaktiven Bürgerforum immer mehr zu kippen droht, wird wieder durch kurze Ausschnitte aus abstrusen Werbekampagnen für die Umwandlung deutlich. Hier geht der Autor mit Kampagnen für das Gesetz zur Aufhebung der elterlichen Rechte, die dem Staat erlauben, wahllos und ohne das Einverständnis der Eltern, Kinder umzuwandeln, für präventive Überwachung von Kindern unter dem umwandlungsfähigen Alter oder für das Track-a-Teen-Projekt aufs Ganze und zeigt uns, wie eine Gesellschaft mit der Weile abstumpft und jegliche Skrupel verliert. In der letzten Hälfte gibt es dann weniger Werbeanzeigen, dafür aber Ausschnitte aus Haydens Radio-Podcasts, in denen er zu einem Generalaufstand gegen die Umwandlung aufruft und die Machenschaften des Proaktiven Bürgerforums entlarvt, die Starkeys Terror und die Klatscher-Bewegung finanzieren, um die gesellschaftliche Zustimmung für die Umwandlung nicht zu verlieren.


"Da durchzuckt in eine Kälte, als würde ein Geist durch seinen Körper fahren. Aber es ist kein Geist. Es ist eine böse Vorahnung der Zukunft. Einer Zukunft, die niemals eintreten darf...
… und zum ersten Mal lässt er einen Gedanken zu, der in jeder Nacht in Millionen Menschen lautlos widerhallt.
Mein Gott... was haben wir getan?"


Ebenfalls wieder vorhanden sind die realen Berichte und Links, die vor jedem der sieben Teile angefügt sind. Dadurch wird uns auf erschütternde Art und Weise klargemacht, dass die Reihe trotz ihrer scheinbaren Absurdität viel zu nahe an der Realität ist, um nicht weiter über die Themen nachzudenken. Egal ob boomender Schwarzmarkt für Organhandel, dokumentierte Fälle in denen Organempfänger Erinnerungen ihrer Spender haben, absurde Kunst aus menschlichen Organen, Sterbehilfegesetze für Kinder, Babyklappen in italienischen Krankenhäusern, die Diskussion über die Todesstrafe für rebellische Kinder, die neue Gefahr durch Körperbomben oder die Chance auf 3D-Drucker - die angesprochenen Themen lassen sich alle auf Aspekte der Handlung beziehen und geben dem Leser ordentlich etwas zu denken!


"Ich war nie ein Kind", sagt er mit einer Traurigkeit, die nur er jemals richtig begreifen wird. "Ich war Zehntopfer, Klatscher, Flüchtling, aber niemals ein Kind."


Der Autor - ein Meister der Handlungsstränge - tischt uns ein komplexes Beziehungsgeflecht voller Wiedersehen, Trennungen, Enden und Neubeginnen, Hass und Liebe auf und beschert uns mit seinem meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen. Dadurch, dass er die Protagonisten immer wieder durchmischt und in anderer Konstellation aufeinander treffen lässt wird bald klar, dass ihre Schicksale enger verknüpft sind, als sie selbst ahnen und. Die ständige Neumischung der Protagonisten sorgt immer wieder für neue Dynamik. Dabei gibt es so viele Handlungsstränge wie noch nie zuvor. Neben dem "alten Kern", Connor, Risa, Lev erzählen wie gehabt auch Cam, Starkey, Nelson, Argent, Grace, Bam, Hayden, Roberta, Una, Sonia und die zwei neuen Protagonisten Jeevan und Divan. Dabei belässt es der Autor selbst in seinem finalen Teil nicht bei den oberflächlichen Charakterisierungen sondern lässt seine Figuren immer wieder neu aufleben, zeigt uns andere Seiten an ihnen und führt uns durch überraschende Entwicklungen vor Auge, dass ein wahrhaft guter Protagonist sich immer verändert.


"Du bist ein Junge. Du kannst nicht erwarten, die Welt aus den Angeln zu haben."
Vielleicht nicht. Aber er träumt davon, den Mond auf die Erde zu holen."


Und es ist wirklich jeder einzelne von ihnen etwas Besonderes:
Connor, der für seine Ziele bereit ist, alles aufzugeben und das größte Opfer bringt.
Lev, der zu drastischen Maßnahmen greift, um auf die Grausamkeit der Umwandlung hinzuweisen und dabei endlich seinen Frieden findet.
Risa, die mit ihrer besonnen Art Hoffnung schenkt und tödliche Wunden heilt.
Cam, der sich trotz seiner gelöschten Erinnerungen endgültig gegen seine Erschaffer auflehnt und für eine Sache kämpft, an die er sich nicht einmal richtig erinnern kann.
Starkey, der durch seine Machtgier in den Ruin getrieben wird und von seinem erbittertsten Feind Gnade erfährt.
Nelson, den der Hass langsam auffrisst, bis nichts mehr von ihm übrig ist.
Argent, der einfach nur einmal im Leben seine Ziele erreichen will und der in letzter Sekunde die richtige Entscheidung trifft.
Grace, die von der ganzen Welt unterschätzt ist, hinter deren schlichtem Gemüt sich aber eine unschlagbare Beobachtungsgabe, sanftes Taktgefühl und ein strategisches Genie verstecken.
Bam, die weiß, dass sie keine gute Anführerin ist und deshalb doch die perfekte Wahl zur Führung der Storche ist.
Hayden, dessen Sarkasmus seinen Schmerz verbirgt und der seinen Einfluss zum Ausrufen eines chancenlosen Aufstands nutzt.
Roberta, die verzweifelt nach einem Platz an der Sonne sucht, stattdessen aber nur den Abgrund findet.
Una, deren Wut ihr bester Freund ist seit sich ihre große Liebe sich für Lev opferte und die angesichts eines gewissen Verbundmenschen ihre Weltansichten überdenken muss.
Sonia, die versucht, sich von einer schrecklichen Schuld reinzuwaschen und ihr Leben der AUF verschrieben hat.
Jeevan, der in einem schicksalshaften Moment nicht Hacker, nicht Wandler, nicht Soldat sondern nur Mensch ist.
Divan, der sich einredet, nur seine Arbeit zu machen, dabei aber in Selbsthass erstickt.



"Sein Leben war es wert, gelebt zu werden, und trotz der schlechten Karten, die ihm ausgeteilt wurden, hat er es in den letzten beiden Jahren ausnehmend gut gelebt. Er weiß, was es bedeutet, vielen Menschen das Leben zu retten. Er weiß, was es bedeutet, ein Leben zu beenden. Aber vor allem weiß er, was es bedeutet zu lieben."


Ich habe sie alle leidenschaftlich geliebt (oder manche natürlich gehasst) und ihre Entwicklungen mit Spannung verfolgt, bis sich am Ende alles fügt und jeder Handlungsstrang zu einem befriedigenden Abschluss geführt wird. Wunderbar sind neben den kurzen Abschnitten aus der Sicht außenstehender Figuren wie beispielsweise einen Ernte-Camp-Gärtner oder eine Mutter, die vielen Andeutungen und kurze Wiedersehen zu Figuren, die uns schon verlassen haben. So kommt Miracolina zum Beispiel noch mal vor und wir erfahren ein bisschen mehr über Roland. Die einzige kleine Kritik, die ich anbringen will, ist dass Risa als einzige keinen großen Auftritt erhält und von ihren Jungs ein bisschen in den Hintergrund gedrängt wird. Im letzten Drittel angelangt erreicht die Geschichte dann für die Protagonisten ihren absoluten Tiefpunkt und als Leser fragt man sich mit kritischem Blick auf die verbliebenen Seiten, wie der Autor das alles noch in so wenig Zeit wieder gerade biegen will. Und dann … dann beginnt der wirklich magische Teil!

"I´ve got you… under my skin"


Dieser Song, den Hayden immer in seinen Podcast verwendet wird hier Programm. Nicht nur thematisch sondern auch im übertragenen Sinn. Denn das Ende geht wirklich unter die Haut und ein OMG-Moment reiht sich an den nächsten. Das war definitiv das beste Ende, das man sich hätte ausdenken können - episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht, einfach das perfekte Finale! In irrsinnigem Tempo schafft es der Autor, das Szenario komplett zu drehen, jeden Handlungsstrang zu einem befriedigenden Ende zu bringen und alle Facetten der Geschehnisse von verschiedenen Seiten auszuleuchten. Drastische Wendungen, schockierende Grausamkeit, ehrliches Mitgefühl, tiefer Schmerz, leidenschaftliche Liebe, angesichts der schnellen Ereignisse konnte ich die Tränen nicht mehr unterdrücken. Natürlich hätte ich mir ganz zum Schluss noch ein paar mehr Infos über den weiteren Verlauf gewünscht. Was machen Connor und Risa jetzt? Finden sie ihren Frieden? Wie geht Lev mit seiner neuen Existenz um? Wird die Umwandlung nun komplett abgeschafft? Was passiert mit der Storchenbrigade und den fliehenden Wandlern …? Das schlussendliche Finale gibt nur die grobe Richtung vor, in die sich die Welt weiter bewegen wird, lässt aber einige Fragen absichtlich offen. Das ist natürlich nur realistisch da es wirklich seltsam gewesen wäre, wenn plötzlich allen Menschen aufgefallen wäre, "huch, das ist ja total blöd was wir da mit unseren Kindern anstellen, lass mal ändern", dennoch hätte ein klitzekleiner Epilog meine Leserseele erfreut und meinen Abschied erleichtert. Das Lebewohlsagen von dieser intensiven Reise durch diese marode Gesellschaft an der Seite unfassbarer Protagonisten, mit denen geliebt, gehasst, gelitten, gelacht und geweint habe, viel mir wirklich sehr schwer. Zum Glück gibt es noch einen Ergänzungsband mit kurzen Geschichten aus dem Universum, in dem wir Connor, Lev, Risa, Cam, Hayden, Bam, Miracolina und wie sie alle heißen nochmal wieder sehen dürfen!




Fazit:


Nach diesem hinreißenden Ende steht für mich fest: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe! Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!

Veröffentlicht am 08.09.2019

Schockiert und berührt!

Vollendet - Die Rache (Band 3)
0

Nachdem mich "Vollendet - Die Flucht" und "Vollendet - Der Aufstand" schockiert, tief berührt und für immer für Neal Shusterman begeistert haben, stand es für mich nicht zur Debatte, auch diese Fortsetzung ...

Nachdem mich "Vollendet - Die Flucht" und "Vollendet - Der Aufstand" schockiert, tief berührt und für immer für Neal Shusterman begeistert haben, stand es für mich nicht zur Debatte, auch diese Fortsetzung zu lesen. Und statt uns mit einem gemächlichen Mittelteil einer Reihe zu enttäuschen fährt der Autor auch hier wieder alle Geschütze auf: drastische Wendungen, schockierende Grausamkeit, ehrliches Mitgefühl, tiefer Schmerz, leidenschaftliche Liebe - diese Geschichte ist genau wie ihre Vorgänger der blanke Wahnsinn!

Die Gestaltung ist mal wieder sehr an die Vorgänger angelehnt. Zusehen ist das Gesicht eines anderen Teenagers in zerstückelter Pixel-Form, die auf die Umwandlung hinweist. Wer die dargestellte Person sein soll und wer die Teenager auf den anderen Cover sind weiß ich zwar nicht, mir gefällt die neue Gestaltung mit dem dunklen Hintergrund und dem gelben Titel aber besser als das Design der älteren Auflage, die ich ebenfalls gelesen habe.

Erste Sätze: "Sie haben unterschrieben. Der Heartland-Krieg ist vorbei."


Die Geschichte knüpft nach einem kurzen Prolog von der Geburtsstunde der Umwandlung über ihren Erfinder Janson Rheinschild direkt an den Geschehnissen von Band 2 an. Connor konnte dank Levs Hilfe von der Razzia auf dem Flugzeugfriedhof und vor Teilepirat Nelson fliehen und ist nun wieder auf der Flucht. Nur dass sein Weglaufen diesmal ein genaues Ziel hat: Sonias Antiquitätenladen in Ohio, wo er auf Antworten hofft, die ihm in seinem Kampf gegen die Umwandlung helfen könnten. Mit seinem Verstoß gegen die Bewährungsunterlagen wird auch Lev wieder zum Flüchtling und als sich im Indianerreservat eine Chance auf Ruhe bietet, steht er vor der Frage, ob er sein Leben weiter dem schweren, aussichtslosen Kampf gegen die Umwandlung widmen will...
Risa sitzt nach der Enttarnung des Proaktiven Bürgerforums auf der Straße und versucht sich alleine durchzuschlagen. Cam verrät die Organisation, die ihn erschaffen hat und setzt alles daran, Risa zu finden. Und als sie alle aufeinandertreffen ist nichts mehr wie zuvor...


"Das bedeutet, dass es in diesem Krieg jetzt drei Seiten gibt", erwidert Lev. Connor gesteht sich ein, dass er recht hat.
"Wenn also die eine Seite von Hass getrieben wird und die zweite von Furcht, was treibt uns an?"
"Hoffnung?", schlägt Lev vor."


Auch wenn die Geschichte insgesamt ein wenig ruhiger voranschreitet als der schnelle Spurt des ersten Teils, bekommen wir auch hier kaum eine Pause zum Verschnaufen. "Vollendet - Die Rache" leidet wie auch schon "Vollendet - Der Aufstand" keineswegs unter dem typischen Mittelteil-Syndrom sondern wartet mit vielen neuen Entwicklungen auf und schafft es, von der ersten bis zur letzten Seite für Hochspannung zu sorgen. Dabei ist die Handlung zwar nicht so dicht und zielführend gepackt wie Teil 1, wieder geht es aber ums Weglaufen vor dem Regime, den JuPos, verrückten Fans und Teilepiraten, kurz: um nackte Überleben von einem Tag auf den anderen. Im Gegensatz zum ersten Teil hat sich jedoch die Ausgangslage geändert: es geht nicht nur darum, über den Tag zu kommen sondern es gilt auch die Umwandlung zu bekämpfen und tausende Wandler vor ihrem grausamen Schicksal zu retten. Die gewonnene Sicherheit und Struktur des Friedhofs im zweiten Band wird hier wieder aufgelöst und da die AUF (Anti-Umwandlungsfront) praktisch am Boden ist, stehen die Flüchtenden fast alleine da. So haben wir es mit einem bekannten und doch ganz neuen Szenario zu tun. Connor, Lev und Risa sind keine hilflosen Kinder mehr, sie sind bekannte Terroristen, Idole unter den Wandlern und sie haben nur zwei Wünsche: Freiheit und das Ende der Umwandlung!

USA, die nahe Zukunft: Teenager, die zu viel Ärger machen, werden gnadenlos aus der Gesellschaft ausgestoßen und "umgewandelt". Sie werden in Erntecamps ihre Einzelteile zerlegt und an Empfänger verteilt. Dies ist die erschreckende Basis, auf der die Geschichte fußt. Und wie zuvor auch schon geht der Autor wieder an sämtliche Grenzen und schafft es in einem aufregenden Drahtseilakt uns gleichzeitig zu schockieren und zu berühren. Wer sich nach Band 1 und Band 2 vielleicht gefragt hat - was soll da noch kommen? - dem sei versichert, dass Neal Shusterman auch hier wieder etliche Wendungen und Erklärungen bereit hält, um unseren Schock und Ekel vor einer Gesellschaft, die ungeliebte Kinder zum Wohle von geliebten Kindern auslöscht, immer wieder aufs Neue zu entfachen. Wieder ist die Handlung so faszinierend, sind die Protagonisten so authentisch und die philosophischen Fragen so aufwühlend, dass wir glatt vergessen, wie absurd, abstoßen und makaber eigentlich dieses Schreckensszenario ist. Diese Idee wird wieder zu einer schockierenden und gleichzeitig wahnsinnig faszinierenden Geschichte, die Spannung, Gesellschaftskritik, Gruppendynamik und einen Schuss Wahnsinn zu einem komplexen Meisterwerk verarbeitet, das man nicht mehr aus der Hand legen kann.


"Willst du den wahren Grund dafür wissen, warum das Umwandeln immer noch so erfolgreich ist, Miss Risa Ward? Nicht wegen der Körperteile, die wir für uns selbst wollen - sondern wegen der Dinge, die wir gewillt sind zu tun, um unsere Kinder zu retten."


Besonders hervorgehoben wird die perfide Idee wieder durch den meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil, der uns einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen beschert ohne grausam oder blutig zu sein. Das Beste ist jedoch des Autors Fähigkeit, neue Handlungsstränge geschickt mit den schon bekannten zu verweben und die Geschichte immer wieder in eine Richtung zu führen, die der Leser nicht erwartet hätte. Anstatt schon Erzähltes zu wiederholen, drehen schicksalhafte Kreise nur um am Ende wieder genau da anzukommen wo wir losgegangen sind: in Akron. Dabei bekommen wir auch endlich neue Hintergrundinformationen über den Heartland-Krieg, die Beginne der Umwandlung, die Jugend-Revolten und blicken immer mehr in den Abgrund des Proaktiven Bürgerforums, das seine Finger tiefer im Spiel hat, als man jemals geahnt hätte. Durch die Rückblenden aus der Sicht von Janson und Sonia Rheinschild erfahren wir auch interessante Details über die Gründung der AUF, des Proaktiven Bürgerforums und technische Hintergründe zur Umwandlung und die alles entscheidende Frage tritt auf: was wenn es eine Alternative zur Umwandlung gäbe...?

"Leuchte, Cam", sagt Roberta zu ihm. "Leuchte wie der Stern, der du bist."

Die Stimmung der allgemeinen Bevölkerung wird außerdem durch kurze Ausschnitte aus abstrusen Werbekampagnen für die Umwandlung deutlich. Statt nur wie in den Teilen zuvor an das Sicherheitsbestreben der Gesellschaft zu appellieren, werden die Werbeanzeigen immer schockierender und verlieren jegliche Skrupel. So wird bald auch das freiwillige Umwandeln von Erwachsenen gegen Geld ein Thema genau wie ein Gesetz über das Aushülsen von Gewaltverbrechern und die Umwandlung aller Sträflinge, das in einigen Bundesländern diskutiert wird. Außerdem versprechen neue Marken wie ThinkFast, NeuroWeave oder Sculptura mit denen man neue Eigenschaften kaufen, das Gedächtnis aufpeppen oder seinen Körper zum Traumbody werden lassen kann Luxus, Schönheit und Unsterblichkeit. Der Autor wirft immer wieder ein Leserbrief, ein politisches Statement oder eine Werbeanzeige ein, die uns der absolute Wahnsinn der Umwandlung vor Augen führt und stellt gleichzeitig reale Berichte vor einem jeden der sechs Teile gegenüber. Durch das Einfügen von realen Nachrichten und Links, die sich mit dem Thema beschäftigen wird uns auf erschütternde Art und Weise klar gemacht, dass die Reihe trotz ihrer scheinbaren Absurdität viel zu nahe an der Realität ist, um nicht weiter über die Themen nachzudenken. Egal ob boomender Schwarzmarkt für Organhandel, dokumentierte Fälle in denen Organempfänger Erinnerungen ihrer Spender haben, Babyklappen in italienischen Krankenhäusern, die Diskussion über die Todesstrafe für rebellische Kinder oder die neue Gefahr durch Körperbomben - die angesprochenen Themen geben dem Leser ordentlich etwas zu denken!


"Die Umwandlung ist die gewinnträchtigste Brache Amerikas, vielleicht der ganzen Welt. So ein Wirtschaftsmotor schützt sich selbst. Wenn wir die zerstören wollen, müssen wir klüger sein als sie." Und dann lächelt Cam. "Aber sie haben einen großen Fehler gemacht."
"Und der wäre?"
"Sie haben jemanden gebaut, der klüger ist als sie."


Um den Leser auf Trab zu halten, bekommen wir hier natürlich wieder neue Handlungsstränge serviert. Es erzählen in personaler Er-Erzähl-Perspektive Connor, Risa, Lev, Cam, Starkey, Bam, Hayden, Nelson, Roberta, die Rheinschilds aus der Vergangenheit und die drei neuen Protagonisten Grace, Argent und Una. Die Geschwister Grace und Argent Skinner leben in Heartsdale ein gewöhnliches, langweiliges Leben, bis der fanatische Connor-Fan Argent sein Idol im Supermarkt trifft und glatt entführt. Während Argent ein absolut berechnender, dumm-dreister Widerling ist, ist seine minderbemittelte, unförmige Schwester Grace harmlos aber liebenswert. Denkt Connor zumindest, denn hinter dem schlichten Gemüt verstecken sich eine unschlagbare Beobachtungsgabe, sanftes Taktgefühl und ein strategisches Genie, sodass sie (bald mein Lieblingscharakter) zu einer wertvollen Verbündeten wird. Auch Unas Leben ist eng mit dem von Lev, Connor, Risa und Cam verbunden, denn ihr Verlobter Wil begab sich in die Hände von Teilepiraten um Lev zu retten. Kein Wunder dass sie wütend ist: auf Lev und Connor die im Reservat auftauchen genau wie auf die Teilepiraten, die Umwandlung und ein gewisser Verbundmensch der die talentierten Gitarren-Hände ihrer großen Liebe erhalten hat...

Ein Rückzugsort im Indianerreservat, ein Unfall auf einer Straußenfarm, die Gefangenschaft eines fanatische Fans, ein Massenlager im Bergwerk, eine Tarnung auf einem Campingplatz, ein Überfall auf ein Ernte Camp, ein Wiedersehen im Antiquitätenladen, eine Therapiesitzung in einer Revival Community, eine Falle von Teilepiraten - wir haben mehr Sichtweisen als je zuvor, reisen mit den Protagonisten durch ganz Amerika und finden uns in den unterschiedlichsten Situationen wieder. Auch Hannah und die kleine Didi aus Teil eins haben nochmal ihren Auftritt und wir erfahren, dass CiFy mit seinen Väter die Tyler-Walker-Stiftung gegründet hat, die WGs fördern, in denen die Empfänger der Teile einer Person zusammenleben und den Umgewandelten somit wieder ganz machen. Dadurch, dass er die Protagonisten immer wieder durchmischt und in anderer Konstellation aufeinander treffen lässt wird bald klar, dass ihre Schicksale enger verknüpft sind, als sie selbst ahnen und. Die ständige Neumischung der Protagonisten sorgt immer wieder für neue Dynamik sodass es trotz etwas entschleunigter Handlung nie langweilig wird.


"Wir sind keine Helden", antwortet Lev. Darüber muss Elina lächeln: "Wahre Helden glauben nie, dass sie welche sind.", sagt sie zum ihm. "mach nur so weiter, Leb, und leugne es mit jeder Faser deines Daseins."


Das Beste ist jedoch, dass Neal Shusterman seine zentralen Figuren Lev, Risa und Connor durch Cam erweitert und liebevoll weiterentwickelt, sodass wir immer wieder ganz neue Seiten an ihnen kennen lernen. Der impulsive, unbesonnene Connor, der auf dem Flugplatz Respekt, Verantwortung und Berechnung gelernt hat, muss mit seinem Versagen leben und sich fragen, was er wirklich erreichen will. Die zielstrebige und mitfühlende Risa hat ihren Kampfgeist an das Proaktive Bürgerforum verloren, sehnt sich einfach nach Frieden, ist das Flüchten so leid und weiß nicht, was sie gegenüber einem Wesen aus Wandlerteilen empfindet. Der verwirrte, orientierungslose Lev, dessen Gang durch die Hölle sein Kämpferherz freigelegt hat, kehrt in das Indianerreservat zurück, das ihn beherbergt hat und kümmert sich mehr um seine verwundete Seele als um die Revolution.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich den "Flüchtling aus Akron", den "Klatscher, der nicht klatschte" und das "Mädchen mit den gebrochenen Flügeln und einem gebrochenen Rückgrat" einmal noch mehr ins Herz schließen könnte, doch das ist hier passiert. Ich wünsche den dreien so von Herzen Glück, dass es mit jedem Satz mehr wehtut, wenn sie alles verlieren, was sie lieben und zusehen müssen, wie das wofür sie gekämpft haben in Flammen aufgeht. Mindestens genauso sehr wünsche ich Mason Michael Starkey das Verderben, der sich hier immer weiter als absolut skrupelloser, machtgeiler Terrorist entpuppt und mit seinen Taten die ganze Welt in Schrecken versetzt.


"Die denken, wir sind gewalttätig und müssten deshalb umgewandelt werden", beschwor er. "Wir müssen der Welt beweisen, dass das nicht stimmt."
Doch es braucht nur Starkey und fünf umgestoßene Stühle, um alles zu zerstören, wofür sich Connor eingesetzt hat."


Das geheime Highlight der Geschichte ist aber Camus Comprix, der erste Verbundmensch der Geschichte. Die sensible Art und Weise, wie der Autor durch ihn philosophische Fragen einfließen lässt und sie dann durch die intensive, einfühlsame Charakterstudie beantwortet, ist einfach hinreißend! Sind wir mehr als die Summe unserer Einzelteile? Was macht einen Menschen, ein Individuum aus? Ist Cam viele Menschen oder ein einzelner? Kann er als Eigentum seiner Erschaffer gelten oder hat er dieselben Rechte wie alle Menschen? Kann man ein fühlendes, denkendes Wesen sein wenn man nicht geboren wurde? Auch wenn der Gedanke an seine Existenz viel zu verschickt ist, um es ganz zu begreifen, muss man den verlorenen Jungen einfach ins Herz schließen, den die Welt für ein Monster hält und der die unfassbare Aufgabe hat, mehrere hundert Einzelteile zu einem harmonischen Ganzen zu vereinen. Mit seiner wilden Assoziations-Sprache, seinem verzweifelten Ringen um Ich-Gefühl und seiner Sehnsucht nach Liebe hat er mich tief berührt! Auch wenn er hier immer mehr Charakterzüge zeigt, die mir nicht gefallen haben und seine Besessenheit von Risa ins Gruselige tendiert beginnt er von einem harmlosen Ausstellungsobjekt zum ernstzunehmenden Gegner des Proaktiven Bürgerforums zu werden.


“Bin ich wirklich am Leben? Existiere ich überhaupt? Gewiss existiert er als organische Masse, aber als fühlendes Wesen? Eher als jemand denn als etwas? Zu oft in seinem Leben weiß er es einfach nicht. Und wenn am Ende jeder Einzelne vor seinem Richter steht, wird er dann auch dort stehen, oder werden die einzelnen Teile in ihm zu ihren wahren Besitzern zurückkehren und eine Leere hinterlassen, wo er einst war?”


Das Ende lässt uns dann mit einem riesigen Cliffhanger und tausend unbeantworteten Fragen zurück, die es dringend erforderlich machen, den vierten Teil zu lesen (der nun ENDLICH auch auf Deutsch herausgekommen ist). Auch wenn Band 3 nicht ganz an das Niveau von Band 1 und 2 heranreicht stellt er eine wichtige und superspannende Vorbereitung auf das Finale dar und ich habe mit gleichermaßen Faszination und Abscheu beobachtet, wie sich ein blutiger Dreifrontenkrieg anbahnt. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der ich durch das Buch gehetzt und in den Strudel der Ereignisse gezogen wurde, lässt sich zum Abschluss also nur sagen, dass dieser Roman eine mehr als würdige Fortsetzung darstellt!



Fazit:


Wie die ganze Reihe schockiert und berührt uns "Vollendet - Die Rache" durch tiefgründige Charaktere, eine absurde Idee mit einem gruselig hohen Wirklichkeitsgehalt, philosophische Fragen, eine ordentliche Portion Gesellschaftskritik und ein kleiner Schuss Wahnsinn.
Eine etwas gemächlichere aber umso wichtigere Vorbereitung auf das große Finale, dem ich nun mit Spannung entgegenfiebere.

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