Episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht, einfach das perfekte Finale!
Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen ...
Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen und ist noch viel gruseliger, genialer, berührender und verstörender als ich es mir vorgestellt hatte! Damit ich diesen Band wirklich genießen und vollständig miterleben kann, habe ich in den letzten Wochen nochmal "Vollendet - Die Flucht", "Vollendet - Der Aufstand" und "Vollendet - Die Rache"gelesen und kann nun mit voller Überzeugung festhalten: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe. Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!
Doch beginnen wir meine Lobeshymne an den Autor mit der Gestaltung des Buches, die wieder sehr an die Vorgänger angelehnt ist. Zusehen ist das Gesicht eines anderen Teenagers in zerstückelter Pixel-Form, die auf die Umwandlung hinweist. Wer die dargestellte Person sein soll und wer die Teenager auf den anderen Cover sind weiß ich zwar nicht, mir gefällt die neue Gestaltung mit dem dunklen Hintergrund und dem grünen Titel aber. Schade ist nur, dass das Buch nur in der neuen Auflage erschienen ist und alle, die die Bücher noch im alten Design haben, nun eine gemischte Reihe besitzen. Ich für meinen Teil störe mich daran überhaupt nicht, bin ich doch viel zu froh, dass der vierte Teil nun endlich überhaupt erschienen ist, nachdem die Reihe in der ersten Auflage nach Band 3 abgesetzt wurde und die englischen Ausgaben ständig vergriffen waren.
Erster Satz: "Ein Betäubungsgeschoss saust so nah an seinem Ohrläppchen vorbei, dass es ein Stückchen Haut mitnimmt."
Nach einer prologähnlichen Ansammlung von kleinen Wiederholungen, die geschickt in den Kontext gebracht dem Leser bei der Auffrischung der vorangegangenen Ereignisse und wichtiger Fachbegriffe helfen, knüpft die Handlung gleich an die des dritten Teils an. Zu Beginn passiert erstmal nicht viel Außergewöhnliches und wir haben viel Zeit, um uns wieder in die Geschichte einzufinden, was vor allem auch den vielen Erzählperspektiven geschuldet ist, die wir mittlerweile angesammelt haben. Wer vielleicht nach dem Klapptext denkt "nunja, sie haben ja jetzt den Organdrucker, also ist wohl das Problem einfach gelöst", dem sei gesagt, dass der Autor von "einfach" bekanntlich nicht viel wissen will. Statt einen großen, triumphalen Siegeszug gegen die Umwandlung anzutreten, quält der Autor unsere armen Leserherze mit neuen Hürden, Missgeschicken, Verrat, Gefangennahme, Gefahr und Tod und es geht erstmal alles ordentlich den Bach runter. Dabei erhalten wir hier noch weniger Verschnaufpausen als zuvor und schnellere Perspektivwechsel, kürzere Abstände, tiefere Abgründe, gefährlichere Aktionen und höherer Druck halten uns ganz schön auf Trab.
"Jansons Maschine ist jetzt euer Baby. Zieht los und repariert die Welt."
USA, die nahe Zukunft: Teenager, die zu viel Ärger machen, werden gnadenlos aus der Gesellschaft ausgestoßen und "umgewandelt". Sie werden in Erntecamps ihre Einzelteile zerlegt und an Empfänger verteilt. Dies ist nach wie vor die erschreckende Basis, auf der die Geschichte fußt. Und wie zuvor auch schon geht der Autor wieder an sämtliche Grenzen und schafft es in einem aufregenden Drahtseilakt uns gleichzeitig zu schockieren und zu berühren.
Immer wieder dachte ich "was soll da jetzt noch kommen, jetzt kann mich nichts mehr schocken". Und dann bringt der Autor wieder ein neuer Aspekt auf den Tisch, lässt Schwarz und Weiß erschreckend verwischen oder bringt fast nicht auszuhaltende Opfer und man denkt sich nur in stillem Entsetzen: hat er nicht gemacht!!! So besichtigen wir eine fliegende, vollautomatische Ernte-Maschine mit elektronischem Erntebegleiter, spielen auf einer Orgel aus Menschenköpfen, die Orgao Orgânico oder Erleben den Aufbau eine Verbundmenschenarmee. Neal Shusterman hält auch hier wieder etliche Wendungen und Erklärungen bereit, um unseren Schock und Ekel vor einer Gesellschaft, die ungeliebte Kinder zum Wohle von geliebten Kindern auslöscht, immer wieder aufs Neue zu entfachen.
"In Cams Augen ist Roberta das Proaktive Bürgerforum. Das Bürgerforum zu besiegen heißt, sie zu besiegen. In der Luft zu zerreißen. Aber das darf sie natürlich nicht wissen. Vorerst muss er noch ihren perfekten Goldjungen spielen. Er wird strahlen wie das Götzenbild, zu dem sie ihn mit großer Sorgfalt gemacht haben. Das Goldene Kalb, das die gesamte Menschheit anbetet. Und es wird umso wunderbarer sein, das entsetzte Erstaunen in Robertas Augen zu sehen, wenn er alles zerstört."
Die Stimmung der allgemeinen Bevölkerung, die dank der gezielten Stimmungsmache des Proaktiven Bürgerforum immer mehr zu kippen droht, wird wieder durch kurze Ausschnitte aus abstrusen Werbekampagnen für die Umwandlung deutlich. Hier geht der Autor mit Kampagnen für das Gesetz zur Aufhebung der elterlichen Rechte, die dem Staat erlauben, wahllos und ohne das Einverständnis der Eltern, Kinder umzuwandeln, für präventive Überwachung von Kindern unter dem umwandlungsfähigen Alter oder für das Track-a-Teen-Projekt aufs Ganze und zeigt uns, wie eine Gesellschaft mit der Weile abstumpft und jegliche Skrupel verliert. In der letzten Hälfte gibt es dann weniger Werbeanzeigen, dafür aber Ausschnitte aus Haydens Radio-Podcasts, in denen er zu einem Generalaufstand gegen die Umwandlung aufruft und die Machenschaften des Proaktiven Bürgerforums entlarvt, die Starkeys Terror und die Klatscher-Bewegung finanzieren, um die gesellschaftliche Zustimmung für die Umwandlung nicht zu verlieren.
"Da durchzuckt in eine Kälte, als würde ein Geist durch seinen Körper fahren. Aber es ist kein Geist. Es ist eine böse Vorahnung der Zukunft. Einer Zukunft, die niemals eintreten darf...
… und zum ersten Mal lässt er einen Gedanken zu, der in jeder Nacht in Millionen Menschen lautlos widerhallt.
Mein Gott... was haben wir getan?"
Ebenfalls wieder vorhanden sind die realen Berichte und Links, die vor jedem der sieben Teile angefügt sind. Dadurch wird uns auf erschütternde Art und Weise klargemacht, dass die Reihe trotz ihrer scheinbaren Absurdität viel zu nahe an der Realität ist, um nicht weiter über die Themen nachzudenken. Egal ob boomender Schwarzmarkt für Organhandel, dokumentierte Fälle in denen Organempfänger Erinnerungen ihrer Spender haben, absurde Kunst aus menschlichen Organen, Sterbehilfegesetze für Kinder, Babyklappen in italienischen Krankenhäusern, die Diskussion über die Todesstrafe für rebellische Kinder, die neue Gefahr durch Körperbomben oder die Chance auf 3D-Drucker - die angesprochenen Themen lassen sich alle auf Aspekte der Handlung beziehen und geben dem Leser ordentlich etwas zu denken!
"Ich war nie ein Kind", sagt er mit einer Traurigkeit, die nur er jemals richtig begreifen wird. "Ich war Zehntopfer, Klatscher, Flüchtling, aber niemals ein Kind."
Der Autor - ein Meister der Handlungsstränge - tischt uns ein komplexes Beziehungsgeflecht voller Wiedersehen, Trennungen, Enden und Neubeginnen, Hass und Liebe auf und beschert uns mit seinem meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen. Dadurch, dass er die Protagonisten immer wieder durchmischt und in anderer Konstellation aufeinander treffen lässt wird bald klar, dass ihre Schicksale enger verknüpft sind, als sie selbst ahnen und. Die ständige Neumischung der Protagonisten sorgt immer wieder für neue Dynamik. Dabei gibt es so viele Handlungsstränge wie noch nie zuvor. Neben dem "alten Kern", Connor, Risa, Lev erzählen wie gehabt auch Cam, Starkey, Nelson, Argent, Grace, Bam, Hayden, Roberta, Una, Sonia und die zwei neuen Protagonisten Jeevan und Divan. Dabei belässt es der Autor selbst in seinem finalen Teil nicht bei den oberflächlichen Charakterisierungen sondern lässt seine Figuren immer wieder neu aufleben, zeigt uns andere Seiten an ihnen und führt uns durch überraschende Entwicklungen vor Auge, dass ein wahrhaft guter Protagonist sich immer verändert.
"Du bist ein Junge. Du kannst nicht erwarten, die Welt aus den Angeln zu haben."
Vielleicht nicht. Aber er träumt davon, den Mond auf die Erde zu holen."
Und es ist wirklich jeder einzelne von ihnen etwas Besonderes:
Connor, der für seine Ziele bereit ist, alles aufzugeben und das größte Opfer bringt.
Lev, der zu drastischen Maßnahmen greift, um auf die Grausamkeit der Umwandlung hinzuweisen und dabei endlich seinen Frieden findet.
Risa, die mit ihrer besonnen Art Hoffnung schenkt und tödliche Wunden heilt.
Cam, der sich trotz seiner gelöschten Erinnerungen endgültig gegen seine Erschaffer auflehnt und für eine Sache kämpft, an die er sich nicht einmal richtig erinnern kann.
Starkey, der durch seine Machtgier in den Ruin getrieben wird und von seinem erbittertsten Feind Gnade erfährt.
Nelson, den der Hass langsam auffrisst, bis nichts mehr von ihm übrig ist.
Argent, der einfach nur einmal im Leben seine Ziele erreichen will und der in letzter Sekunde die richtige Entscheidung trifft.
Grace, die von der ganzen Welt unterschätzt ist, hinter deren schlichtem Gemüt sich aber eine unschlagbare Beobachtungsgabe, sanftes Taktgefühl und ein strategisches Genie verstecken.
Bam, die weiß, dass sie keine gute Anführerin ist und deshalb doch die perfekte Wahl zur Führung der Storche ist.
Hayden, dessen Sarkasmus seinen Schmerz verbirgt und der seinen Einfluss zum Ausrufen eines chancenlosen Aufstands nutzt.
Roberta, die verzweifelt nach einem Platz an der Sonne sucht, stattdessen aber nur den Abgrund findet.
Una, deren Wut ihr bester Freund ist seit sich ihre große Liebe sich für Lev opferte und die angesichts eines gewissen Verbundmenschen ihre Weltansichten überdenken muss.
Sonia, die versucht, sich von einer schrecklichen Schuld reinzuwaschen und ihr Leben der AUF verschrieben hat.
Jeevan, der in einem schicksalshaften Moment nicht Hacker, nicht Wandler, nicht Soldat sondern nur Mensch ist.
Divan, der sich einredet, nur seine Arbeit zu machen, dabei aber in Selbsthass erstickt.
"Sein Leben war es wert, gelebt zu werden, und trotz der schlechten Karten, die ihm ausgeteilt wurden, hat er es in den letzten beiden Jahren ausnehmend gut gelebt. Er weiß, was es bedeutet, vielen Menschen das Leben zu retten. Er weiß, was es bedeutet, ein Leben zu beenden. Aber vor allem weiß er, was es bedeutet zu lieben."
Ich habe sie alle leidenschaftlich geliebt (oder manche natürlich gehasst) und ihre Entwicklungen mit Spannung verfolgt, bis sich am Ende alles fügt und jeder Handlungsstrang zu einem befriedigenden Abschluss geführt wird. Wunderbar sind neben den kurzen Abschnitten aus der Sicht außenstehender Figuren wie beispielsweise einen Ernte-Camp-Gärtner oder eine Mutter, die vielen Andeutungen und kurze Wiedersehen zu Figuren, die uns schon verlassen haben. So kommt Miracolina zum Beispiel noch mal vor und wir erfahren ein bisschen mehr über Roland. Die einzige kleine Kritik, die ich anbringen will, ist dass Risa als einzige keinen großen Auftritt erhält und von ihren Jungs ein bisschen in den Hintergrund gedrängt wird. Im letzten Drittel angelangt erreicht die Geschichte dann für die Protagonisten ihren absoluten Tiefpunkt und als Leser fragt man sich mit kritischem Blick auf die verbliebenen Seiten, wie der Autor das alles noch in so wenig Zeit wieder gerade biegen will. Und dann … dann beginnt der wirklich magische Teil!
"I´ve got you… under my skin"
Dieser Song, den Hayden immer in seinen Podcast verwendet wird hier Programm. Nicht nur thematisch sondern auch im übertragenen Sinn. Denn das Ende geht wirklich unter die Haut und ein OMG-Moment reiht sich an den nächsten. Das war definitiv das beste Ende, das man sich hätte ausdenken können - episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht, einfach das perfekte Finale! In irrsinnigem Tempo schafft es der Autor, das Szenario komplett zu drehen, jeden Handlungsstrang zu einem befriedigenden Ende zu bringen und alle Facetten der Geschehnisse von verschiedenen Seiten auszuleuchten. Drastische Wendungen, schockierende Grausamkeit, ehrliches Mitgefühl, tiefer Schmerz, leidenschaftliche Liebe, angesichts der schnellen Ereignisse konnte ich die Tränen nicht mehr unterdrücken. Natürlich hätte ich mir ganz zum Schluss noch ein paar mehr Infos über den weiteren Verlauf gewünscht. Was machen Connor und Risa jetzt? Finden sie ihren Frieden? Wie geht Lev mit seiner neuen Existenz um? Wird die Umwandlung nun komplett abgeschafft? Was passiert mit der Storchenbrigade und den fliehenden Wandlern …? Das schlussendliche Finale gibt nur die grobe Richtung vor, in die sich die Welt weiter bewegen wird, lässt aber einige Fragen absichtlich offen. Das ist natürlich nur realistisch da es wirklich seltsam gewesen wäre, wenn plötzlich allen Menschen aufgefallen wäre, "huch, das ist ja total blöd was wir da mit unseren Kindern anstellen, lass mal ändern", dennoch hätte ein klitzekleiner Epilog meine Leserseele erfreut und meinen Abschied erleichtert. Das Lebewohlsagen von dieser intensiven Reise durch diese marode Gesellschaft an der Seite unfassbarer Protagonisten, mit denen geliebt, gehasst, gelitten, gelacht und geweint habe, viel mir wirklich sehr schwer. Zum Glück gibt es noch einen Ergänzungsband mit kurzen Geschichten aus dem Universum, in dem wir Connor, Lev, Risa, Cam, Hayden, Bam, Miracolina und wie sie alle heißen nochmal wieder sehen dürfen!
Fazit:
Nach diesem hinreißenden Ende steht für mich fest: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe! Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!