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Veröffentlicht am 08.11.2019

1104 Seiten pure Spannung, Epos und Leidenschaft - der absolute Wahnsinn!

Throne of Glass – Herrscherin über Asche und Zorn
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"Es war einmal, in einem Land, das längst zu Asche verbrannt ist, eine junge Prinzessin, die ihr Königreich liebte..."

Ich habe diesen siebten Teil gleich nach der Erscheinung gekauft, mich ganz lange ...


"Es war einmal, in einem Land, das längst zu Asche verbrannt ist, eine junge Prinzessin, die ihr Königreich liebte..."


Ich habe diesen siebten Teil gleich nach der Erscheinung gekauft, mich ganz lange aber nicht herangetraut da ich auf der einen Seite die Vorfreunde noch ein wenig herauszögern wollte, auf der anderen Seite aber auch Angst vor einer Enttäuschung hatte. Das wies sich als total unbegründet heraus - Sarah J. Maas setzt uns hier mal wieder ein ultimatives Fantasy-Epos vor, das an Bildgewalt, emotionaler Tiefe und Plotkonstruktion kaum noch zu übertreffen ist. Ich kann gar nicht sagen wie sehr ich diese Welt und ihre Bewohner liebe und wieder jeden Lesemoment genossen habe! Mein Herz platzte vor lauter Gefühlen fast und ich habe die 1104 Seiten in drei Tagen weggelesen, weil ich einfach nicht aufhören konnte. Wir werden auf eine unglaublich epische Achterbahnfahrt gefüllt mit den unterschiedlichsten Facetten und Farben mitgenommen: eine Geschichte, die an Genialität, Gefühlen, Atmosphäre, Nervenkitzel und purem Lesevergnügen nicht mehr zu übertreffen ist (außer vielleicht durch weitere Bände der Autorin, die hoffentlich bald kommen werden...)!


Erster Satz: "Er suchte nach ihr, seit man sie ihm geraubt hatte."

Doch bevor ich meine Lobeshymne beginnen will, erst noch ein paar Bemerkungen zur Gestaltung. Auch der siebte Teil reiht sich wieder in die Gestaltung ein und wenn ich am Anfang den "mangamäßigen" Motiven noch sehr kritisch gegenüberstand, muss ich echt sagen, dass sie mir mit jedem Band besser gefallen. Denn auch hier kann man sofort Aelin wiedererkennen: stark, unerschrocken, in eine imposante Rüstung gekleidet, kämpferisch mit dem Schwert in der Hand und mächtig mit ihren Flammen und ihrer Wassermagie - eine dunkle Königin und mächtige Magierin! Schön sind auch die vielen passenden Details wie der rote Rubin von Goldryn oder wehende Umhang in den Farben Terrasens. Wieder ist der Hintergrund weiß und unsere Lieblingsprotagonistin wird von ihrer Feuermagie umgeben. Mit seinen 1104 Seiten ist dieser Band der längste der Reihe - die Länge hat zusammen mit der Qualität und der Bandnummerierung zugenommen - und somit als Taschenbuch äußerst schwierig zu lesen. Ich bin aber sehr dankbar, dass der Verlag nicht auf die Idee gekommen ist, den Band geteilt herauszubringen. Mit sieben Bänden ist die Reihe umfangreich genug! Die vorangestellte Karte von Erilea hilft mal wieder sehr, den Überblick über die etlichen Handlungsorten zu behalten, vor allem da die Protagonisten hier gerade zu Beginn viel herumreisen und sich an den unterschiedlichsten Ecken und Enden der Königreiche aufhalten. Für all die Leser, bei denen (wie bei mir) die Lektüre der vorangegangenen Bände schon eine Weile zurückliegt, hätte sich vielleicht ein Glossar angeboten. Die Geschichte ist mit ihren vielen Protagonisten und Nebenfiguren, Handlungsorten, Bündnissen, Intrigen und der langen Zeitspanne der Erzählung doch sehr komplex und ich hätte es sehr hilfreich gefunden, ab und zu einen Begriff nachschlagen zu können. Ein Glück gibt es ja ein umfangreiches "Throne of Glass"-Wiki...


„Während alle anderen Sternbilder vorbeigezogen waren, war der Herr des Nordens geblieben, und der unsterbliche Stern zwischen den Ästen seines Geweihs wies den Weg nach Hause. Nach Terrasen. "Sag ihm, dass er kämpfen muss. Er muss Terrasen retten und sich an die Schwüre halten, die er mir geleistet hat." Die Zeit war nicht auf ihrer Seite, wegen Maeve, wegen des Krieges, der erneut auf ihrem eigenen Kontinent entbrannte. Aber er hatte nicht die Absicht, ohne sie zurückzukehren, ganz gleich, worum sie ihn zum Abschied gebeten hatte, ungeachtet der Eide, die er bei der Heirat mit ihr geschworen hatte, Terrasen zu bewachen und zu regieren. "Und sag ihm danke - dass er diesen dunklen Pfad mit mir zurück ins Licht gegangen ist." Es war ihm eine Ehre gewesen. Von Anfang an war es ihm eine Ehre gewesen, die größte seines unsterblichen Lebens."


Nach zwei vorangestellten Prologen aus der Sicht des "Prinzen" (Rowan) und der "Prinzessin" (Aelin) starten wir in den ersten und umfangreichsten der beiden Teile "Armeen und Verbündete".
Ich muss zugeben, auch wenn ich gefühlsmäßig sofort wieder in der Handlung war und gepackt wurde, hatte ich schon wieder viele Details und Einzelheiten der an eben jenen nicht besonders armen vorhergegangenen Bänden vergessen, sodass ich immer eine ganze Weile gebraucht habe, um Zusammenhänge und Anspielungen zu verstehen. Da spielte ebenfalls mit hinein, dass die anfänglichen Beziehungsprobleme zwischen Elide und Lorcan sowie Aedion und Lysandra etwas gekünstelt nicht notwendig erschienen. Ein weiterer Punkt, der mir den Einstieg in die Geschichte erschwert hat, ist dass ich es leider verpasst habe, Chaols Geschichte zu lesen, welche zwischen Band "Sturmbringerin" und "Herrscherin über Asche und Zorn" spielt. Da ich Chaol eigentlich immer als recht langweilige Randfigur empfunden hatte, befand ich es nicht für notwendig, den Zwischenteil zu lesen, doch das habe ich im ersten Drittel dieses Bandes bald bereut. Zwar wird die Wissenslücke über Yrene, Chaol, die Armee des Großkhanats und die Ruk-Reiter im Laufe der Geschichte langsam gefüllt, es verbleibt aber trotzdem ein unbefriedigendes Loch im Gesamtkonstrukt, wenn man "Throne of Glass 6 - Der verwundete Krieger" nicht gelesen hat.

Wieder bekommen wir die Gesamtgeschichte aus verschiedenen Perspektiven an verschiedenen Orten vermittelt. Während Gavriel, Lorcan, Elide und Rowan in Wendlyn nach Aelin suchen, kämpfen Lysandra, Aedion mit den Truppen Terrasens gegen die Truppen Moraths um ihre Heimat während der Abwesenheit ihrer Königin zu schützen. Mindestens genauso unmöglich ist Manons, Dorians Ziel, die zusammen mit der Dreizehn in den White Fangs unterwegs sind um den dritten Wyrdschlüssel zu suchen und eine die verfeindeten Crochans und Ironteeth zu einer Armee zu vereinen. Derweil reisen Chaol und seine Frau Yrene mit der Armee des Großkhanats durch das Land und versuchen, Ardalans Städte auf dem Weg nach Terrasen vor Moraths Truppen zu schützen. Dabei sind alle der Handlungsstränge so spannend und berührend entwickelt, dass ich diesmal gar nicht wusste, welchen ich am spannendsten fand und sich bei einem Perspektivwechsel Bedauern und Vorfreude die Hand gaben.


"Das Licht der Krone tanzte über Manons Gesicht, als sie sie über ihren Kopf hob und sie sich auf ihr offenes, weißes Haar setzte. (...) Manon leuchtete, als pulsierten die Sterne auf ihrem Kopf durch ihren Körper. Eine wundersame und mächtige Schönheit wie keine andere auf der Welt. Wie keine, die je existiert hatte oder je wieder existieren würde. Die Crochan-Königin, neu gekrönt."


Die Fokussierung der Erzählweise hat genau wie die Handlungsorte, die Charaktere und der Schreibstil einen deutlichen Wandel über die Bände hinweg hinter sich. Nachdem wir Celeana zuerst im harten Wettkampf als kaltherzige Assassine kennenlernten, der zweite Teil sich dann eher auf die Intrigen am Hof des Königs konzentrierte, "Throne of Glass - Erbin des Feuers" eine eher dunkle, düstere und magische Fortsetzung war, die sehr viel mit den inneren Dämonen ihrer Charaktere spielt, sich der vierten Teil vor allem auf die globalen Entwicklungen im Mächteverhältnis in Erilea durch viele epische Szenen und Action konzentrierte und wir im fünften Teil unsere Protagonisten auf ihrer Suche nach Verbündeten für den großen Kampf begleiteten, kommt es hier nun endlich zum großen Endkampf aller Parteien, der über sechs Bände hinweg vorbereitet wurde. Dazu reisen wir wieder durch ganz Erilea, lernen viele neuen Parteien kennen, treffen alte Bekannte wieder, erfahren mehr über die Vergangenheit des Kontinents und ihrer Bewohner und sehen zu, wie sich das komplexe Netz aus Intrigen, Beziehungen und Macht immer weiter zuzieht bis sich sowohl Erawans dunkle Armee, Maeves Fae, Manons Hexen, Chaols Großkhanat und Aelins Verbündete zu der wohl epischsten Schlacht seit der Welt der Bücher vor den Toren Orynths treffen. Dadurch dass die Protagonisten immer in Bewegung sind und sich Schritt für Schritt wieder treffen, bietet sich natürlich die ein oder andere Gelegenheit für eine epische Schlacht oder eine überraschende Wendung, welche die gute alte Sarah natürlich immer bis zum Anschlag ausnutzt: wieder und wieder hat mich das Buch eiskalt erwischt und aufs Neue entsetzt und begeistert!

Mir gefällt es, wie die ganze Geschichte lebt. Manche Fantasy-Welten werden einmal aufgebaut und dann spielt sich die Handlung in diesem statischen Bühnenbild ab. Doch nicht bei dieser Reihe: Ständig verändert sich der Fokus, der Blickwinkel, der Handlungsort der Geschichte, es werden neue Dinge aufgenommen, bestehende ändern sich - eine stetige Entwicklung, die die Geschichte so perfekt und schlüssig erweitert, dass aus dem roten Fanden, ein rotes Band wird. Das ist eine Fähigkeit, für die ich Sarah J. Maas immer bewundern werde: ihre zusammenhängende Darstellung der Welt, die immer komplexer, verschachtelter und geheimnisvoller wird, mit jedem Charakter und Handlungsstrang der dazukommt. Dabei verliert sie nie das Wesentliche aus den Augen und überlädt die Story auch nicht - sie pickt sich einzelne interessante Aspekte gekonnt heraus, welche dann weiter gesponnen und vernetzt werden, bis ein umwerfendes Gesamtergebnis entsteht! Dazu trägt auch ihr außergewöhnlicher Schreibstil bei. Wie für die ganze Reihe gibt es ein Wort, das ihr erstaunliches Talent, Worte in Sätzen so zu platzieren, dass sie der Geschichte alleine durch den Schreibstil ein imposantes Auftreten verleihen, super beschreibt: EPISCH. Durch ihre teils sehr außergewöhnliche Wahl der Worte und ihre intensiven Szenenbeschreibungen, fühlt man sich oft, als würde man einem Film zusehen, der vor den eigenen Augen abläuft - Ein wunderbarer Film voller Action, Gefühle und Hintergrund und mit genialen Schauspielern natürlich


"Er hatte auf der ganzen Welt gemordet; er war öfter, als er sich erinnern mochte, in den Krieg gezogen und daraus heimgekehrt. Und trotz all dem, trotz des Zorns, der Verzweiflung und des Eises, die um sein Herz lagen, hatte er Aelin gefunden. Jeder Horizont, zu dem er geschaut hatte, unfähig und unwillig, während jener Jahrhunderte zu rasten; jeder Berg und jeder Ozean, den er gesehen und bei dem er sich gefragt hatte, was dahinterlag... es war sie gewesen. Es war Aelin gewesen und der stumme Ruf des Seelenbundes hatte ihn angetrieben. Sie hatten zusammen diesen dunklen Pfad zurück ins Licht beschritten. Er würde nicht zulassen, dass der Weg hier endete."


Das ganz besondere Herzstück der Geschichte, das diese Fantasy-Geschichte von vielen anderen im High-Fantasy-Bereich abhebt, sind jedoch die Protagonisten. Sobald epische Schlachten, ganze Königreiche und unendliche Macht ins Spiel kommen, neigen Autoren dazu, nur noch über die "großen Themen" zu schwafeln und ihre Protagonisten dabei zu Statisten verkommen zu lassen. Hier ist das jedoch eher umgekehrt: die Anzahl an Charaktere, die ich nie wieder vergessen werde, wächst mit jedem Buch weiter an und meine Verbindung zu ihnen wird immer tiefer. Durch die Aufteilung der Handlungsstränge kommen die einzelnen Protagonisten noch besser zur Geltung und so lässt sich kaum mehr sagen, wer denn nun der Hauptprotagonist ist. Aelin, Rowan, Lysandra, Aedion, Gavriel, Lorcan, Elide, Fenrys, Manon, Dorian, Chaol und Yrene - ich habe selten eine Geschichte gelesen, in der so viele fast gleichberechtigte Protagonisten in den Fokus der Geschichte rücken und ihre kleine Nische bekommen, um sich weiterzuentwickeln. Besonders toll dabei ist, dass die Saga nun einen Zeitpunkt erreicht, an dem fast alle wichtigen, mächtigen Persönlichkeiten, die elementar über die Geschicke Erileas entscheiden weiblich sind. Dadurch, dass sich aus unseren Protagonistinnen starke Königinnen, clevere Anführerinnen und integre Ladies entwickeln, bekommt die Geschichte nebenbei (als bräuchte ich noch einen Grund, diese Saga zu lieben) noch eine deutlich feministische Note.

Aelin Ashryver Whitethorn Galathynius alias Caleana Sardothien ist eine ganze besondere Protagonistin, über die ich sehr gerne lese und die in jedem Teil ein neuer Teil ihrer Persönlichkeit zu entdecken scheint. In den vergangenen Bänden ist schon so viel mit ihr passiert und obwohl sie immer wieder zwischen verschiedenen Rollen und Identitäten stand und eine unglaubliche Entwicklung durchlaufen hat, kann man in ihr immer noch das sture, starke Mädchen mit dem Feuerherz erkennen, das wir in Band 1 kennengelernt haben. Von der Sklavin zur Assassine, zur Prinzessin, zur Fae, zur Gefangenen, zum Opferlamm, zur Königin. Ich habe mit sehr viel Bewunderung diesen Weg mitverfolgt und zugesehen, wie jede Spur von Unsicherheit und Verantwortungslosigkeit bei ihr verschwindet und sie ganz zu der großen Magierin, Kämpferin und Königin geworden, die nötig ist, um eine Chance im Kampf gegen Erawan und Maeve zu haben. Mit ihrer direkten und stürmischen Art, ist sie mir wirklich ans Herz gewachsen - enger als kaum eine andere Protagonistin je zuvor - und ihre Stärke, ihr Durchhaltevermögen, ihre Intelligenz, ihr Mut, ihr Beschützerinstinkt, ihre Autorität und ihre Güte haben mich immer wieder inspiriert. Ihre Fähigkeit, aus jeder Situation das Beste zu machen und mindestens ein Ass in jedem Ärmel zu haben und ihre schier bodenlose Macht machen sie außerdem zu einer Protagonistin, die immer wieder für eine Überraschung gut ist. Im letzten Teil musste ich leider kritisieren, dass sie leider zur übermächtigen Super-Heldin wird, und mit ihrer ewigen Steigerung die Grenzen des Wahrscheinlichen deutlich überstrapaziert. Dadurch dass sie nun aber zu Beginn der Geschichte als Gefangene Maeves Folter und Erniedrigung ertragen muss, bekommt ihre Überheldinnen-Rolle einen Knacks und sie kann durch die Beschäftigung mit inneren Dämonen und ihrer Verantwortung wieder mehr Tiefe und Authentizität erreichen. Das ist wohl das erste Mal in der Geschichte eines Buches, in der ich der Folterung einer Protagonistin einen positiven Effekt abgewinnen kann (auch wenn ich mich etwas schlecht deswegen fühle... )

"Ihr Name war Aelin Ashryver Whitethorn Galathynius. Und sie würde keine Angst haben."


An ihrer Seite sabber, schmacht, seufz steht unverrückbar, mächtig, liebend und aufopferungsvoll der unsterbliche Fae-Prinz mit dem knallharten Krieger-Körper, dem tätowierten Gesicht und dem weichen, verletzten Herzen: Rowan Whitethorn. Auch er hat in seiner Vergangenheit traumatische Erfahrungen durchlitten und kämpft immer noch mit seinen inneren Narben, hat sich aber für Aelin und die ganze Truppe zu einem verlässlichen Fels in der Brandung entwickelt. Ohne ihn mit seiner pragmatischen, sarkastischen und draufgängerischen Art könnte ich mir die Geschichte nicht vorstellen und dass die beiden sich endlich voll und ganz aufeinander einlassen können (natürlich mit der ein oder anderen schönen Szene) hat mir sehr gut gefallen. Irgendwie seltsam sind die beiden mit ihren ewigen Besitzansprüchen und ihrem ewigen Rumgeknurre aber schon, sodass sie ihre Rolle als Dream-Pairing leider verloren haben (ob an Manon und Dorian oder an Lorcan und Elide kann ich mich nicht so ganz entscheiden...).

Wie konnte ich nur denken, dass Dorian Havilliard langweilig sei? Nachdem er von einem Valgprinzen besessen zuvor weit ins Reich der Schatten zurückgetreten war, hat er sich ins Licht zurückgekämpft und ist vom verwöhnten Prinzen zum Bad-Ass-König geworden, dessen unverblümte Art ich sehr zu schätzen gelernt habe. Sein erlittener Schmerz, seine neue Verantwortung und seine neuentdeckte Macht haben ihn zu einem neuen Menschen gemacht, den man erstmal neu kennenlernen muss, der sich aber wunderbar in das Handlungsgefüge einfindet. Es ist sehr interessant und amüsant zu lesen, wie er sich immer mehr seiner Magie und Manon annähert. Die beiden unabhängigen Sturköpfe, die sich sehr schwer tun, sich ihre Gefühle füreinander einzugestehen muss man einfach als Paar lieben!

Ein weiteres Paar, das jedes Leserherz erweichen wird, ist die verkrüppelte Halbhexe Elide Lochan und der unsterbliche, todbringende Fae-Krieger Lorcan Salvaterre. Erstere besitzt eigentlich keine besonderen Fähigkeiten außer einem wachen Geist und ihrer Empfindsamkeit, wodurch sie einen frischen Wind in den Kreis an alteingesessenen Charakteren bringt, die alle durch besondere Macht bestechen können. Gerade weil sie nichts Besonderes an sich hat, kann man einfach nicht anders, als die Stärke und Klugheit zu bewundern, die in ihr stecken. Dass gerade der eiskalte, todbringende Fae Lorcan sich in sie verlieben würde, nachdem sie sich in den unwirtlichen Weiten des Oakwald Forests zu einer unliebsamen Zweckgemeinschaft zusammenschlossen, war außerdem eine wirklich unvorhersehbare Wendung.


"Seid die Brücke, seid das Licht. Wenn Eisen schmilzt, wenn Blumen aus blutgetränkten Feldern sprießen - lasst das Land Zeuge sein und kehrt nach Hause zurück."


Die Gestaltwandlerin Lysandra Ennar ist mir schon in Band 4 und in Band 5 so fest ans Herz gewachsen, dass ich schon fast vergessen habe, dass sie noch gar nicht von Beginn an Teil der Truppe um Aelin war. Mir war die schlagfertige und listige Kurtisane sofort sympathisch, da sich hinter ihrer attraktiven Fassaden eine innere Stärke verbirgt, die ich zu Beginn nicht vermutet hätte. In ihr stecken außerdem eine Menge Überraschungen, denn als Gestaltwandlerin, die nach den Jahren ohne Magie immer mehr von ihren Möglichkeiten ausprobiert, stehen ihr viele Wege offen... Außerdem ist sehr interessant, wie sich die anbahnende Beziehung zwischen ihr und Aedion Ashryver weiterentwickelt, mit dem ich leider immer noch nicht so viel anfangen kann, da er hier übergangslos vom laufender Eifersuchtsbolzen mit übersteigertem Beschützerinstinkt zum Kriegsheld und Kommandanten wird. Spannend ist an seiner Entwicklung aber vor allem die Beziehung zu seinem Vater Gavriel, dem "goldenen Löwen von Doranelle", der seit Jahrhunderten an Rowans Seite zusammen mit Fenrys Moonbeam kämpft. Letzterer war zuvor noch etwas blass, bekommt aber durch das gemeinsam mit Aelin durchgestandene Leid in Doranelle mehr Farbe.

Wer sich seit einigen Hundert Seiten zu meiner absoluten Lieblingsperson gemausert hat, ist Manon Blackbeack, vormalige Schwarmführerin der Ironteeth Hexen, Erbin der Krone der Ironteeth und letzte Nachfahrin von Rhiannon Crochan. Nachdem ich schon in Band 4 sehr überrascht war, wie mir diese gefühlslose, kalte und grausame Hexe so ans Herz wachsen konnte, habe ich sie im Laufe des fünften Teiles immer mehr lieben gelernt. Denn sie, die doch immer so diszipliniert und autoritär war, hat sich langsam gegen Moraths brutale Kriegsmaschinerie aufgelehnt und sich schließlich für den Kampf für eine bessere Welt entschieden. Man kann die vielen Risse fast durch die Seiten fühlen, die ihre gute Taten in ihrem todbringenden und grausamen Image entstehen ließen und als sie schließlich akzeptiert, dass sie nicht als Monster geboren sondern zum Monster gemacht wurde und sich aus freien Stücken für die Freiheit entscheidet, wurde sie für mich endgültig zur Heldin. Zusehen, wie sie hier mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft gegen ihre ehemaligen Schwestern kämpft und zwei zutiefst verfeindete Völker als Kind des Friedens anstatt des Krieges zusammenbringt ist einfach wunderschön! An ihrer Seite stehen unverrückbar ihre Dreizehn und ihr Flugwyvern Abraxos, der Manon erst den Weg in mein Herz geöffnet hat. Denn diesen großen Krieger mit viel Mut, Liebe, Mitgefühl und einer Vorliebe für Blumen, in die er immer seine Nase steckt, muss man als Fantasy-Liebhaber einfach lieben!


"Es gibt eine bessere Welt dort draußen", wiederholte sie. "Und ich werde für diese Welt kämpfen." Sie drehte Abraxos herum. "Was werdet ihr tun?"
Sie war kein Kind des Krieges.
Sondern des Friedens."


Ein letzter Handlungsstrang, der ebenfalls ausschlaggebend für den Verlauf der Handlung ist, erzählt die Geschichte von Chaol Westfall und Yrene Towers, welche wir schon beide aus dem ersten Teil in Rifthold kennen. Der verkrüppelte Kommandant und die mächtige Heilerin haben sich im Zwischenteil "Der verwundete Krieger" gefunden und kehren nach einem spannenden Abenteuer zusammen mit einer großen Armee nach Erilea zurück. Auch wenn mir dadurch dass ich den Zwischenteil nicht gelesen habe, essenzielle Informationen gefehlt haben, sind mir die beiden sehr ans Herz gewachsen.

Ihr seht also, diese Geschichte ist mal wieder unglaublich komplex, brutal, schonungslos, herzbrechend, wunderschön, magisch, liebevoll, bildgewaltig, detailreich und episch! Wenn man es genauer bedenkt ist eigentlich die ganze Reihe eine krasse Steigerung. Sobald man denkt, dass man schon auf dem allerhöchsten Level ist, kommt wieder eine epische Schlacht, die alles noch einmal toppt. Alles wird größer, mächtiger, epischer, spannender, herzzerreißender, gefährlicher, leidenschaftlicher und ich weiß nicht wo das hinführen soll. Wie soll ich jemals andere Fantasy lesen und nicht angesichts des riesigen Unterschieds verzweifeln? Mein absolutes Highlight dieser Geschichte ist definitiv der letzte Teil "Götter und Tore", der sowohl die spannende Endschlacht vor den Toren Orynths als auch die Frage nach dem Opfer zum Verschluss der Wyrdtore enthält. Die ultrakomplexe Endschlacht mit den vielen Parteien wurde durch die Tatsache, dass die verschiedenen Armeen im Laufe der 1104 Seiten immer wieder unabhängig voneinander auf Moraths Truppen treffen, erfolgreich entzerrt, was das Ende jedoch nicht weniger episch macht.


"Ein Meer aus Sternen - in dieser Höhle. Schönheit. Es gab immer noch Schönheit in dieser Welt. Immer noch konnten Sterne leuchten, konnten noch hell brennen, selbst tief unter der Erde begraben. Die Sterne ins Wanken bringen. Sie hatte versprochen, das zu tun. Es gab noch Schönheit - und sie würde dafür kämpfen."


Ich weiß nicht, wann mich das letzte Mal ein Buch so unter Strom gesetzt hat. Emotionen sind die eine Sache - Spannung und krasse Dramatik die andere. Die letzten Seiten waren so außergewöhnlich mitreißend, überraschend, spannend, actionreich, richtungsändernd und eindrucksvoll, sodass ich es wahrscheinlich nie vergessen werde. Alleine für dieses Finale sollte diese Reihe von allen Fantasy-Liebhabern der Welt gelesen werden! Eine Wendung jagt die nächste, man hat eigentlich durchgängig Gänsehaut, Tränenausbrüche und unkontrollierte Zuckungen, sodass ich bestimmt die Gehirnströme einer Epileptikerin hatte, als die letzten Seiten durch mein Hirn jagten. An einigen Stellen konnte ich auch tatsächlich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Spätestens ab jetzt ist diese Reihe zu meiner "all time favourite Geschichte" geworden und ich konnte dem actionreichen, dramatischen und unglaublich tragischen Schluss nur gebannt folgen. Auch das typische "plötzlich-kommen-Verbündete-aus-dem-Nichts-und-retten-alle"-Phänomen, das leider bei allen epischen Schlachten auftritt, konnte nicht mehr verhindern, dass die Endschlacht zu meiner Lieblingsschlacht überhaupt wurde (sogar noch vor "Herr der Ringe" und "Game of Thrones" und das muss etwas heißen!). Das wirkliche Ende, vor dem ich zugegebenermaßen ein wenig Angst hatte, ist dann genauso wundervoll und stimmig, wie sich mein Leserherz das gewünscht hat. Natürlich tut es unfassbar weh, die Protagonisten zu verlassen, die ich nun über so viele Lesejahre begleitet habe, doch ich hätte mir alles in allem nichts anderes für meine Lieblinge gewünscht.



"Sie - sie hat keine Magie mehr übrig." Die Stimme der Gestaltwandlerin brach. "Sie hat nichts mehr." Trotzdem hob Aelin ihr Schwert. Flamen züngelten über die Klinge. Eine Flamme gegen die gesammelte Dunkelheit. Eine Flamme, um die Nacht zu erhellen. Aelin hob ihren Schild und Flammen umgaben auch ihn. Hell brennend, unerschrocken. Eine Vision von etwas Uraltem, das wiedergeboren war. Der Ruf ging über sämtliche Wehrgänge der Burg, durch die Stadt, an den Mauern entlang. Die Königin war endlich nach Hause gekommen."



Fazit:



1104 Seiten pure Spannung, Epos und Leidenschaft - der absolute Wahnsinn! Eine Geschichte, die an Genialität, Gefühlen, Atmosphäre, Nervenkitzel und purem Lesevergnügen nicht mehr zu übertreffen ist!

Veröffentlicht am 22.09.2019

Eine groteske, melancholische, düstere Geschichte über schöne Lügen und hässliche Wahrheiten

Shadowsong
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Nach dem ich den ersten Teil der zweibändigen Dulogie rund um die Sage des Erlkönigs, "Wintersong" vor zwei Jahren aus der Hand gelegt hatte, dachte ich nur zwei Dinge: "WOW!" und "Her mit Band 2". Leider ...

Nach dem ich den ersten Teil der zweibändigen Dulogie rund um die Sage des Erlkönigs, "Wintersong" vor zwei Jahren aus der Hand gelegt hatte, dachte ich nur zwei Dinge: "WOW!" und "Her mit Band 2". Leider hat sich der Verlag relativ viel Zeit gelassen doch jetzt ist es da: das Finale meines Jahreshighlights 2017. Sofort in die Geschichte gestürzt musste ich nach wenigen Seiten feststellen, dass sich die Fortsetzung ganz anders gestaltete, als ich angenommen hatte. Zum Einen ist es sehr schade, dass "Shadowsong" unbekannte Töne anschlägt und den Fokus stark verschiebt, zum anderen sind die Unterschiede zu Band 1 auch ein wundervoller Zugewinn an Tiefe, sodass wir uns neu verlieben können. In diese unglaubliche Geschichte über Musik, Manie, Wahnsinn, Zerrissenheit, Schmerz, Selbstfindung, Opfer und was es heißt, wirklich und aufrichtig zu lieben.


"Bleib und sei bei mir" (…) Sie ruft ihn. Ein Monster hebt seinen Kopf als der Klang von Musik aus der oberen Welt hereindringt. (…) Es ist ein Hilfeschrei."


Schon die Gestaltung, die mal wieder wunderschön ist, lässt sich die düsterere Einfärbung der Geschichte erkennen. Wo Band 1 hell wie Winterschnee, hell wie der Tag war, ist Band 2 dunkelblau wie die Nacht. Wo zuvor karge, winterliche Vogelbeeren zu sehen waren, blühen nun üppige Mohnblumen. Und durch die aufflatternden, schwarzen Vogelsilhouetten und dem Schatten eines Mädchens in einem wehenden Kleid, erhält das Cover eine magische, düstere aber verspielte Note. Der Titel thront in Großbuchstaben im Zentrum des Ganzen und ist mit einem weißen Faden verziert. Das Beste an der Gestaltung ist jedoch das Innenleben des Romans. In vier Teile und übergeordnet in Abschnitte eines Musikstückes geteilt (Ouvertüre, Intermezzo, Zwischenspiel, Coda...) ist es mit wunderschönen Zitaten aus Briefen Beethovens an seine Geliebte und dem auch auf dem Cover zusehenden Kranz Mohnblüten gesäumt, während aufflatternde Vögel jede der liebevoll ausgewählten Kapitelüberschriften umgeben. Ich finde diese Gestaltung wirklich unfassbar schön und um einiges besser gelungen als das der englischen Ausgabe. Letzteres ist zwar auch hübsch anzusehen, mir aber zu verträumt und nicht so atmosphärisch.


Erster Satz: "Auf keinen Fall", rief Constanze und ließ ihren Gehstock auf den Boden krachen."


Nach einer Danksagung (zur besseren Beachtung durch den Leser vorangestellt) und einem aufschlussreichen Vorwort, in dem die Autorin durch eine Triggerwarnung das Hauptthema des Buches vorwegnimmt, steigen wir mit einer Flut von Briefen von Liesl an ihren Bruder Josef in die Geschichte ein. Seit sechs Monaten ist Liesl nun schon zurück aus der Unterwelt nachdem der Erlkönig sie allen Gesetzen zum Trotz hat gehen lassen. Sechs Monate, in denen nur die Routine der Arbeit und die Träume von einem Reich unter der Erde sie am Laufen halten. Sechs Monate, in denen sie von Josef aus Wien keine Briefe erhalten hat. Sechs Monate, in denen sie ihre Musik nicht mehr finden kann. Sechs Monate, in dem sie IHN nicht mehr finden kann. Lange bevor tragische Eistode in ihrem Dorf bestätigen, was ihre Großmutter schon längst befürchtet hat, weiß sie, dass sie den Wahnsinn beenden und in die Unterwelt zurückkehren muss. Denn die alten Gesetze fordern ihr gestohlenes Opfer ein und als ein unheiliges Heer durch die Lande reitet, muss sie sich fragen, was sie noch zu opfern bereit ist...


"Ein König steht in einem Hain, mit Kapuze und Mantel, ein großer, eleganter Fremder. Er steht abgewandt, schaut in den formlosen Nebel, der ihn umgibt, herausfordernd und doch voll Kummer, während das Donnern von Hufen und das glockengleiche Bellen der Jagdhunde die Luft erfüllt. Seine Gesichtszüge liegen im Schatten, aber Büschel federartigen weißen Haares schauen unter seiner Kapuze hervor, ein Funkeln heller Augen, die das seltsame, unendliche Licht um ihn herum widerspiegeln. In der Ferne wachsen Gestalten empor, die flüchtigen Nebelfetzen werden zu Fahnen, Dunst wird zu aufsteigenden Wellen, zu Pferdemähnen, zu Männern. Männern mit Speeren, Männer mit Schilden und Männer mit Schwertern. Ein unheiliges Heer.
"Sie kommen, Elisabeth."


Diese Geschichte im Stil eines düsteren, leidenschaftlichen, zauberhaften und magisch berührenden Märchens hat nichts mit dem typischen New-Adult-Fantasy-Genre gemeinsam, das mittlerweile die Bestsellerlisten in Beschlag nimmt - zum Glück! Wir bekommen hier keine fesselnde Unterhaltung, keine schönen Liebesszenen, keine bewundernswerte Charaktere und keine rasante Handlung - aber wir bekommen etwas viel besseres: Tiefe. Schon im Vorwort wird klar, dass sich die Autorin mit ihrer Fortsetzung auf ein ganz bestimmtes Thema konzentriert: die bipolare Störung ihrer Protagonistin Liesl, die ihrer eigenen Version des Wahnsinns nicht unähnlich sei. Immer wieder drehen wir uns um dieses Thema, fragen uns, was sich Liesl immer wieder fragt: "Ist das Wahnsinn? Oder einfach nur eine andere Art zu sein?" Die ambivalenten Auftritte des Koboldkönigs, die mythischen Hintergründe der "Wilden Jagd", die ungewöhnliche Romanze und die dunkle Unterwelt, die das Herz des ersten Teils waren, rücken hier zugunsten von Liesls Innenleben etwas in den Hintergrund. Von der düsteren, dunklen Fantasiewelt, die gleichzeitig schillernd schön und grausig schrecklich ist, wechseln wir hier zurück in eine von gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen geprägte Umwelt. Die Sage vom Erlkönig, welche ursprünglich aus dem Dänischen kommt und von Johann Wolfgang von Goethe in der bekannten Ballade "Erlkönig" dargestellt wird, formt bloß noch den großen Rahmen. Stattdessen beschäftigen wir uns mit Liesls Persönlichkeit, ihren Fehlern, ihrer Schuld, ihrem Leiden, ihrer Entwicklung, ihrem Genie und ihrer ganz besonderen Form des Wahnsinns.


"Wahnsinn ist keine Gabe", sagte ich wütend.
"Aber auch kein Fluch", erwidert der Graf sanft. "Wahnsinn ist einfach."


Wir lernten die 19-Jährige Ich-Erzählerin als unscheinbares Mädchen kennen, das Provinz Bayerns etwa im 18. Jahrhundert zur Lebzeit Mozarts lebt und zwischen ihrer schönen Schwester Käthe und ihrem virtuosen Bruder Josef untergeht. In der Unterwelt schafft sie es dann, ihre gezähmte, selbstlose, konventionelle Fassade des langweiligen, reizlosen und mittelmäßigen Mädchens abzulegen und sich mit der Frau bekanntzumachen, die darunter liegt. Zwischen all ihrer Mittelmäßigkeit ihres Daseins, ihrem guten Benehmen, ihrer Rücksicht, ihrem Anstand, ihrer Zurückhaltung schlummert eine wilde, ungezähmte Gabe, die an die Oberfläche drängt - eine Leidenschaft für Sonaten, Bagatellen, Symphonien, Etüden, Chaconne und allen anderen Ansammlungen von Tönen. Inspiriert wird sie von der Schönheit der Natur in ihrem Koboldhain hinter dem Haus und vor allem von ihm: ihrem Koboldkönig. Sie entdeckt eine wilde Ungestüm, macht sich mit Wünschen, Sehnsüchten und Eigenarten vertraut, sodass sie wird, was ihr Angetrauter von ihr verlangt: Elisabeth ganz und gar. Zurück in der Realität kann sie nun weder ihr neu entfaltetes Genie ausleben, noch in die langweilige Mittelmäßigkeit zurückfinden, sodass sie zwischen den Welten, ihren Bedürfnissen und ihrer Liebe gefangen und zerrissen ist. Sie ist nicht mehr "Elisabeth ganz und gar" sondern nur "Elisabeth total verloren". In ihrer Orientierungslosigkeit, in ihrem Sehnen, in ihrem Schmerz gibt sie sich ihrem Destruktivität, ihrer Arroganz, ihren Launen, ihrer Egozentrik, ihrer Unvernunft - schlicht ihrem Wahnsinn hin.


"Wahnsinn, Manie, Melancholie. Musik, Zauber, Erinnerungen. Ein Strudel, der um eine Wahrheit kreist, die ich nicht zugeben will. Ich schlafe nicht, weil ich mich vor den Zeichen und Wunden fürchte, die sich sehe, wenn ich erwache. Dornenranken winden sich um Zweige, das Klacken von unsichtbaren Krallen, Blut, das zu einer Blume erblüht."


Geprägt von dieser Geisteshaltung nimmt auch die Handlung langsamere Züge an. Die Geschehnisse erscheinen als zähe, träge vor sich hinfließende Masse und wir verlieren uns zeitweise in Melancholie, Schmerz und Orientierungslosigkeit. Dass die Geschichte trotz der geringen Handlungskraft seine Anziehung nicht verliert, führt die Autorin geheimnisvolle Rückblicke in das Leben des Erlkönigs, eine neue zum Leben gewordene Legende und eine dunkle Verschwörung ein und entführt zuerst nach Wien und dann auf ein mystisches Anwesen in Böhmen. Außerdem rücken neben Liesls Gefühlen auch ihre Beziehungen zu Josef und Käthe stark in den Vordergrund. Besonders mit ihrem Wechselbalg-Bruder, dem "Gärtner ihres Herzens", verbindet sie ein festes Band, eine innige Liebe, die über alle Hürden und Grenzen transzendiert. So entfaltet diese groteske, melancholische und düstere Geschichte auch eine anrührend heilsame Seite, die von leidenschaftlicher Liebe zum Absonderlichen, Wundersamen und Monströsen erzählt.


"Der Mann wird zum Monster, der Junge zum Wechselbalg, die Komponistin zu einer Wahnsinnigen. Wir sind Schmetterlinge und die Unterwelt ist unser Kokon. Ein Ort der Verwandlung und der Magie und der Wunder. "Ich weiß", sage ich. "Er ist zerstört. Ein zerstörter König für eine zerstörte Königin."


Apropos monströs - auch der Koboldkönig entwickelt sich in diesem Buch immens. War er zuvor der eigentliche Reiz der Geschichte und sehr schwer zu fassen, verschmilzt er hier immer mehr mit dem düsteren Setting und geht als fühlende Figur verloren. Was klingt wie Kritik ist jedoch reine Beobachtung. Denn durch den Verlust Elisabeths hat der asketische, liebevolle, fromme und eigenwillige Mann in der Rolle des dunklen Herrschers der Unterwelt, des unsterblichen Herrn des Unheils sein Herz verloren und dient nun der Rolle, der Krone, die ihn zum Erlkönig macht und gleichzeitig in der Unterwelt festhält. Besonders genial an seiner ambivalenten Persönlichkeit ist, dass die Autorin sie nicht klar in "Gut" oder "Böse" teilt sondern ihre Protagonistin beide Seiten an ihrem lieben lässt: das Monster, das zu ihrem Wahnsinn, ihrer Hässlichkeit und ihrer Selbstsucht passt sowie der empfindsame, musikalische Mann, den ihr sensibles, geniales Herz liebt. Genau in diesem Punkt unterscheidet sich das Buch also von den vorgegebenen Mustern an Liebesromanen: er darf als Monster erscheinen, aber dennoch asketische, wichtigtuerische, fromme und eigenwillige Züge haben und Spiele lieben, sie darf hässlich, unvollkommen, wahnsinnig und unscheinbar sein, dabei aber immer wieder über sich selbst hinauswachsen. Zwei verlorene Gestalten, die über die Musik zusammen finden und von uralten Regeln der Magie wieder getrennt werden.


"Brombeerranken und Zweige regten sich beim Klang der Violine. Ein Gefühl der Wachsamkeit regte sich in einer Welt, die noch tief im Winterschlaf steckte. Das Atemholen, bevor sie sich erhob. Unter ihm und um ihn her griff der Wald nach ihm, streckte sich, wuchs, als antwortete er auf seinen Ruf. Die zerbrochenen Spiegel zeigten eine Myriade Jungen unter einer Myriade Bäume, doch Josef sah nicht, dass alle außer einem dasselbe Lied spielten."



Denn so anders dieser zweite Teil auch gegenüber seinem Vorgänger erscheint, so ähnlich ist er ihm auch in vielerlei Hinsichten. Auch diesem Finale wohnt eine unglaubliche Kraft, Poesie, Musik und Wildheit inne, die mich von der ersten Seite an gefesselt hat. Die größte Gemeinsamkeit ist die Liebe zur Musik, die jede Seite verströmt. Bald wird klar, dass der Titel "ShadowSONG" wörtlich zu nehmen ist und wir in die Magie eintauchen dürfen, die Klavier und Geige in Verbindung wirken können. Durch den sehr blumigen, teilweise sogar lyrisch und poetisch anklingenden Schreibstil wird die klassische Musik Vivaldis, Haydns, Mozarts und nicht zuletzt Elisabeths selbst, auf wundervolle Art und Weise magisch und erlebbar gemacht. Trotz des ausführlichen Glossars an musikalischen Fachbegriffen am Ende des Buches sollte man jedoch ein wenig eigene Begeisterung für die Musik mitbringen, um Liesls Leidenschaft nachvollziehen zu können und sich nicht an den Beschreibungen über das Komponieren und das Spielen von Werken zu stören.


"In der Hochzeitssonate war es um mich gegangen. Um meine Gefühle. Wut, Zorn, Frustration, Angst, all das war der erste Satz gewesen. Sehnsucht, Zärtlichkeit, Zuneigung und Hoffnung waren der zweite Satz.
Hass war der dritte. Hass und Selbstverachtung."


Durch die wundersame, lebendige Darstellung der Musik in Kombination mit der dunklen, geheimnisvollen Anziehungskraft der Unterwelt mit der Gestalt des Erlkönigs entwickelt das Buch bald eine ganz eigene, unglaublich fesselnde Atmosphäre, die mich wie der Gesang der Loreley in ihren Bann gezogen und mitgerissen hat, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Wie auch schon die Ballade stellt der Roman die Natur, verkörpert vom schrecklich schönen Erlkönig und seiner Unheilsschar an Kobolden, nicht von ihrer ästhetischen oder gar religiösen Seite dar, sondern gibt ihr eine lockende, bezaubernde, beglückende und tötende Weise. Wie S. Jae-Jones es hinbekommen hat, ungezähmte, wilde, Leidenschaft, zarten, liebevollen Gefühlen gegenüberzustellen, die Kobolde und ihren König gleichsam unheimlich wie faszinierend zu gestalten, sodass man sich wie auch Elisabeth unglaublich lebendig und tot zugleich fühlt, ist wirklich unfassbar!


"Du bist das Monster, das ich für mich beanspruche."
Vielleicht liebte ich das Monströse, weil ich selbst ein Monster war. Josef, der Koboldkönig und ich. Wir waren groteske Figuren in der Oberwelt, zu seltsam, zu talentiert, zu viel. Wir waren alle zu viel."


Mein einziger Kritikpunkt bezieht sich auf die vielen Klischees, die die amerikanische Autorin leider mit ihren Spielorten Bayern, Wien und Böhmen verbindet. Die Protagonisten ernähren sich praktisch nur von Würstchen, Sauerkraut, Knödel und Spätzle und kürzen ihre deutschen Namen auf schreckliche Art und Weise ab. So heißen unsere Protagonisten etwa Liesl (Maria Elisabeth Ingeborg Vogler), Käthe (Anna Katherina Magdalena Ingeborg Vogler) oder Sepperl (Franz Josef Johannes Gottlieb Vogler). Das aller größte Verbrechen gegen meine Vorliebe für schöne Namen begeht sie aber, als sie am Ende den Namen des Erlkönigs enthüllt, den Liesl versteckt im Herzen trägt. Anstatt uns diesen Namen geheimnisvoll vorzuenthalten nennt sie uns einen deutschen Vornamen, der so profan und in Zusammenhang mit dem Erlkönig so lächerlich klingt, dass ich diese Szene einfach nicht ernst nehmen konnte.


"Wer bist du?", flüsterte der Wechselbalg.
Das Spiegelbild lächelte nur. "Ich bin du", antwortete es.
"Was bin ich?", fragte der Wechselbalg.
"Verloren", antwortete das Spiegelbild."


Das Ende nimmt nach dem eher trägen Mittelteil nochmal ordentlich Fahrt auf und ist voll Schmerz, voll Liebe und voll Aufrichtigkeit. Etwas kurz geraten und mit einigen offenen Fragen ist es nicht perfekt aber auf die genau richtige Art gleichzeitig wundervoll und schrecklich, sodass ich mir kein besseres Ende für diese furchtbar schöne (nie hat ein Oxymoron so gut gepasst) Geschichte vorstellen könnte.


"Der Verstand ist ein Gefängnis und nun bin ich frei. Frei, um formlos zu sein. Frei, um gestaltlos zu sein."




Fazit:


Diese groteske, melancholische, düstere Geschichte über schöne Lügen und hässliche Wahrheiten gibt sich so anders als Band 1 und ist dennoch genauso voller Musik und leidenschaftlicher Liebe zum Absonderlichen, Wundersamen und Monströsen. Der Fokus auf Elisabeths Persönlichkeit macht es möglich, sich nochmal komplett neu in dieses Meisterwerk zu verlieben. Denn das ist es trotz etwaiger Schwächen - ein Meisterwerk über Musik, Manie, Wahnsinn, Zerrissenheit, Schmerz, Selbstfindung, Opfer und was es heißt, wirklich und aufrichtig zu lieben.

Veröffentlicht am 22.09.2019

Eine groteske, melancholische, düstere Geschichte über schöne Lügen und hässliche Wahrheiten

Shadowsong
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Nach dem ich den ersten Teil der zweibändigen Dulogie rund um die Sage des Erlkönigs, "Wintersong" vor zwei Jahren aus der Hand gelegt hatte, dachte ich nur zwei Dinge: "WOW!" und "Her mit Band 2". Leider ...

Nach dem ich den ersten Teil der zweibändigen Dulogie rund um die Sage des Erlkönigs, "Wintersong" vor zwei Jahren aus der Hand gelegt hatte, dachte ich nur zwei Dinge: "WOW!" und "Her mit Band 2". Leider hat sich der Verlag relativ viel Zeit gelassen doch jetzt ist es da: das Finale meines Jahreshighlights 2017. Sofort in die Geschichte gestürzt musste ich nach wenigen Seiten feststellen, dass sich die Fortsetzung ganz anders gestaltete, als ich angenommen hatte. Zum Einen ist es sehr schade, dass "Shadowsong" unbekannte Töne anschlägt und den Fokus stark verschiebt, zum anderen sind die Unterschiede zu Band 1 auch ein wundervoller Zugewinn an Tiefe, sodass wir uns neu verlieben können. In diese unglaubliche Geschichte über Musik, Manie, Wahnsinn, Zerrissenheit, Schmerz, Selbstfindung, Opfer und was es heißt, wirklich und aufrichtig zu lieben.


"Bleib und sei bei mir" (…) Sie ruft ihn. Ein Monster hebt seinen Kopf als der Klang von Musik aus der oberen Welt hereindringt. (…) Es ist ein Hilfeschrei."


Schon die Gestaltung, die mal wieder wunderschön ist, lässt sich die düsterere Einfärbung der Geschichte erkennen. Wo Band 1 hell wie Winterschnee, hell wie der Tag war, ist Band 2 dunkelblau wie die Nacht. Wo zuvor karge, winterliche Vogelbeeren zu sehen waren, blühen nun üppige Mohnblumen. Und durch die aufflatternden, schwarzen Vogelsilhouetten und dem Schatten eines Mädchens in einem wehenden Kleid, erhält das Cover eine magische, düstere aber verspielte Note. Der Titel thront in Großbuchstaben im Zentrum des Ganzen und ist mit einem weißen Faden verziert. Das Beste an der Gestaltung ist jedoch das Innenleben des Romans. In vier Teile und übergeordnet in Abschnitte eines Musikstückes geteilt (Ouvertüre, Intermezzo, Zwischenspiel, Coda...) ist es mit wunderschönen Zitaten aus Briefen Beethovens an seine Geliebte und dem auch auf dem Cover zusehenden Kranz Mohnblüten gesäumt, während aufflatternde Vögel jede der liebevoll ausgewählten Kapitelüberschriften umgeben. Ich finde diese Gestaltung wirklich unfassbar schön und um einiges besser gelungen als das der englischen Ausgabe. Letzteres ist zwar auch hübsch anzusehen, mir aber zu verträumt und nicht so atmosphärisch.


Erster Satz: "Auf keinen Fall", rief Constanze und ließ ihren Gehstock auf den Boden krachen."


Nach einer Danksagung (zur besseren Beachtung durch den Leser vorangestellt) und einem aufschlussreichen Vorwort, in dem die Autorin durch eine Triggerwarnung das Hauptthema des Buches vorwegnimmt, steigen wir mit einer Flut von Briefen von Liesl an ihren Bruder Josef in die Geschichte ein. Seit sechs Monaten ist Liesl nun schon zurück aus der Unterwelt nachdem der Erlkönig sie allen Gesetzen zum Trotz hat gehen lassen. Sechs Monate, in denen nur die Routine der Arbeit und die Träume von einem Reich unter der Erde sie am Laufen halten. Sechs Monate, in denen sie von Josef aus Wien keine Briefe erhalten hat. Sechs Monate, in denen sie ihre Musik nicht mehr finden kann. Sechs Monate, in dem sie IHN nicht mehr finden kann. Lange bevor tragische Eistode in ihrem Dorf bestätigen, was ihre Großmutter schon längst befürchtet hat, weiß sie, dass sie den Wahnsinn beenden und in die Unterwelt zurückkehren muss. Denn die alten Gesetze fordern ihr gestohlenes Opfer ein und als ein unheiliges Heer durch die Lande reitet, muss sie sich fragen, was sie noch zu opfern bereit ist...


"Ein König steht in einem Hain, mit Kapuze und Mantel, ein großer, eleganter Fremder. Er steht abgewandt, schaut in den formlosen Nebel, der ihn umgibt, herausfordernd und doch voll Kummer, während das Donnern von Hufen und das glockengleiche Bellen der Jagdhunde die Luft erfüllt. Seine Gesichtszüge liegen im Schatten, aber Büschel federartigen weißen Haares schauen unter seiner Kapuze hervor, ein Funkeln heller Augen, die das seltsame, unendliche Licht um ihn herum widerspiegeln. In der Ferne wachsen Gestalten empor, die flüchtigen Nebelfetzen werden zu Fahnen, Dunst wird zu aufsteigenden Wellen, zu Pferdemähnen, zu Männern. Männern mit Speeren, Männer mit Schilden und Männer mit Schwertern. Ein unheiliges Heer.
"Sie kommen, Elisabeth."


Diese Geschichte im Stil eines düsteren, leidenschaftlichen, zauberhaften und magisch berührenden Märchens hat nichts mit dem typischen New-Adult-Fantasy-Genre gemeinsam, das mittlerweile die Bestsellerlisten in Beschlag nimmt - zum Glück! Wir bekommen hier keine fesselnde Unterhaltung, keine schönen Liebesszenen, keine bewundernswerte Charaktere und keine rasante Handlung - aber wir bekommen etwas viel besseres: Tiefe. Schon im Vorwort wird klar, dass sich die Autorin mit ihrer Fortsetzung auf ein ganz bestimmtes Thema konzentriert: die bipolare Störung ihrer Protagonistin Liesl, die ihrer eigenen Version des Wahnsinns nicht unähnlich sei. Immer wieder drehen wir uns um dieses Thema, fragen uns, was sich Liesl immer wieder fragt: "Ist das Wahnsinn? Oder einfach nur eine andere Art zu sein?" Die ambivalenten Auftritte des Koboldkönigs, die mythischen Hintergründe der "Wilden Jagd", die ungewöhnliche Romanze und die dunkle Unterwelt, die das Herz des ersten Teils waren, rücken hier zugunsten von Liesls Innenleben etwas in den Hintergrund. Von der düsteren, dunklen Fantasiewelt, die gleichzeitig schillernd schön und grausig schrecklich ist, wechseln wir hier zurück in eine von gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen geprägte Umwelt. Die Sage vom Erlkönig, welche ursprünglich aus dem Dänischen kommt und von Johann Wolfgang von Goethe in der bekannten Ballade "Erlkönig" dargestellt wird, formt bloß noch den großen Rahmen. Stattdessen beschäftigen wir uns mit Liesls Persönlichkeit, ihren Fehlern, ihrer Schuld, ihrem Leiden, ihrer Entwicklung, ihrem Genie und ihrer ganz besonderen Form des Wahnsinns.


"Wahnsinn ist keine Gabe", sagte ich wütend.
"Aber auch kein Fluch", erwidert der Graf sanft. "Wahnsinn ist einfach."


Wir lernten die 19-Jährige Ich-Erzählerin als unscheinbares Mädchen kennen, das Provinz Bayerns etwa im 18. Jahrhundert zur Lebzeit Mozarts lebt und zwischen ihrer schönen Schwester Käthe und ihrem virtuosen Bruder Josef untergeht. In der Unterwelt schafft sie es dann, ihre gezähmte, selbstlose, konventionelle Fassade des langweiligen, reizlosen und mittelmäßigen Mädchens abzulegen und sich mit der Frau bekanntzumachen, die darunter liegt. Zwischen all ihrer Mittelmäßigkeit ihres Daseins, ihrem guten Benehmen, ihrer Rücksicht, ihrem Anstand, ihrer Zurückhaltung schlummert eine wilde, ungezähmte Gabe, die an die Oberfläche drängt - eine Leidenschaft für Sonaten, Bagatellen, Symphonien, Etüden, Chaconne und allen anderen Ansammlungen von Tönen. Inspiriert wird sie von der Schönheit der Natur in ihrem Koboldhain hinter dem Haus und vor allem von ihm: ihrem Koboldkönig. Sie entdeckt eine wilde Ungestüm, macht sich mit Wünschen, Sehnsüchten und Eigenarten vertraut, sodass sie wird, was ihr Angetrauter von ihr verlangt: Elisabeth ganz und gar. Zurück in der Realität kann sie nun weder ihr neu entfaltetes Genie ausleben, noch in die langweilige Mittelmäßigkeit zurückfinden, sodass sie zwischen den Welten, ihren Bedürfnissen und ihrer Liebe gefangen und zerrissen ist. Sie ist nicht mehr "Elisabeth ganz und gar" sondern nur "Elisabeth total verloren". In ihrer Orientierungslosigkeit, in ihrem Sehnen, in ihrem Schmerz gibt sie sich ihrem Destruktivität, ihrer Arroganz, ihren Launen, ihrer Egozentrik, ihrer Unvernunft - schlicht ihrem Wahnsinn hin.


"Wahnsinn, Manie, Melancholie. Musik, Zauber, Erinnerungen. Ein Strudel, der um eine Wahrheit kreist, die ich nicht zugeben will. Ich schlafe nicht, weil ich mich vor den Zeichen und Wunden fürchte, die sich sehe, wenn ich erwache. Dornenranken winden sich um Zweige, das Klacken von unsichtbaren Krallen, Blut, das zu einer Blume erblüht."


Geprägt von dieser Geisteshaltung nimmt auch die Handlung langsamere Züge an. Die Geschehnisse erscheinen als zähe, träge vor sich hinfließende Masse und wir verlieren uns zeitweise in Melancholie, Schmerz und Orientierungslosigkeit. Dass die Geschichte trotz der geringen Handlungskraft seine Anziehung nicht verliert, führt die Autorin geheimnisvolle Rückblicke in das Leben des Erlkönigs, eine neue zum Leben gewordene Legende und eine dunkle Verschwörung ein und entführt zuerst nach Wien und dann auf ein mystisches Anwesen in Böhmen. Außerdem rücken neben Liesls Gefühlen auch ihre Beziehungen zu Josef und Käthe stark in den Vordergrund. Besonders mit ihrem Wechselbalg-Bruder, dem "Gärtner ihres Herzens", verbindet sie ein festes Band, eine innige Liebe, die über alle Hürden und Grenzen transzendiert. So entfaltet diese groteske, melancholische und düstere Geschichte auch eine anrührend heilsame Seite, die von leidenschaftlicher Liebe zum Absonderlichen, Wundersamen und Monströsen erzählt.


"Der Mann wird zum Monster, der Junge zum Wechselbalg, die Komponistin zu einer Wahnsinnigen. Wir sind Schmetterlinge und die Unterwelt ist unser Kokon. Ein Ort der Verwandlung und der Magie und der Wunder. "Ich weiß", sage ich. "Er ist zerstört. Ein zerstörter König für eine zerstörte Königin."


Apropos monströs - auch der Koboldkönig entwickelt sich in diesem Buch immens. War er zuvor der eigentliche Reiz der Geschichte und sehr schwer zu fassen, verschmilzt er hier immer mehr mit dem düsteren Setting und geht als fühlende Figur verloren. Was klingt wie Kritik ist jedoch reine Beobachtung. Denn durch den Verlust Elisabeths hat der asketische, liebevolle, fromme und eigenwillige Mann in der Rolle des dunklen Herrschers der Unterwelt, des unsterblichen Herrn des Unheils sein Herz verloren und dient nun der Rolle, der Krone, die ihn zum Erlkönig macht und gleichzeitig in der Unterwelt festhält. Besonders genial an seiner ambivalenten Persönlichkeit ist, dass die Autorin sie nicht klar in "Gut" oder "Böse" teilt sondern ihre Protagonistin beide Seiten an ihrem lieben lässt: das Monster, das zu ihrem Wahnsinn, ihrer Hässlichkeit und ihrer Selbstsucht passt sowie der empfindsame, musikalische Mann, den ihr sensibles, geniales Herz liebt. Genau in diesem Punkt unterscheidet sich das Buch also von den vorgegebenen Mustern an Liebesromanen: er darf als Monster erscheinen, aber dennoch asketische, wichtigtuerische, fromme und eigenwillige Züge haben und Spiele lieben, sie darf hässlich, unvollkommen, wahnsinnig und unscheinbar sein, dabei aber immer wieder über sich selbst hinauswachsen. Zwei verlorene Gestalten, die über die Musik zusammen finden und von uralten Regeln der Magie wieder getrennt werden.


"Brombeerranken und Zweige regten sich beim Klang der Violine. Ein Gefühl der Wachsamkeit regte sich in einer Welt, die noch tief im Winterschlaf steckte. Das Atemholen, bevor sie sich erhob. Unter ihm und um ihn her griff der Wald nach ihm, streckte sich, wuchs, als antwortete er auf seinen Ruf. Die zerbrochenen Spiegel zeigten eine Myriade Jungen unter einer Myriade Bäume, doch Josef sah nicht, dass alle außer einem dasselbe Lied spielten."



Denn so anders dieser zweite Teil auch gegenüber seinem Vorgänger erscheint, so ähnlich ist er ihm auch in vielerlei Hinsichten. Auch diesem Finale wohnt eine unglaubliche Kraft, Poesie, Musik und Wildheit inne, die mich von der ersten Seite an gefesselt hat. Die größte Gemeinsamkeit ist die Liebe zur Musik, die jede Seite verströmt. Bald wird klar, dass der Titel "ShadowSONG" wörtlich zu nehmen ist und wir in die Magie eintauchen dürfen, die Klavier und Geige in Verbindung wirken können. Durch den sehr blumigen, teilweise sogar lyrisch und poetisch anklingenden Schreibstil wird die klassische Musik Vivaldis, Haydns, Mozarts und nicht zuletzt Elisabeths selbst, auf wundervolle Art und Weise magisch und erlebbar gemacht. Trotz des ausführlichen Glossars an musikalischen Fachbegriffen am Ende des Buches sollte man jedoch ein wenig eigene Begeisterung für die Musik mitbringen, um Liesls Leidenschaft nachvollziehen zu können und sich nicht an den Beschreibungen über das Komponieren und das Spielen von Werken zu stören.


"In der Hochzeitssonate war es um mich gegangen. Um meine Gefühle. Wut, Zorn, Frustration, Angst, all das war der erste Satz gewesen. Sehnsucht, Zärtlichkeit, Zuneigung und Hoffnung waren der zweite Satz.
Hass war der dritte. Hass und Selbstverachtung."


Durch die wundersame, lebendige Darstellung der Musik in Kombination mit der dunklen, geheimnisvollen Anziehungskraft der Unterwelt mit der Gestalt des Erlkönigs entwickelt das Buch bald eine ganz eigene, unglaublich fesselnde Atmosphäre, die mich wie der Gesang der Loreley in ihren Bann gezogen und mitgerissen hat, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Wie auch schon die Ballade stellt der Roman die Natur, verkörpert vom schrecklich schönen Erlkönig und seiner Unheilsschar an Kobolden, nicht von ihrer ästhetischen oder gar religiösen Seite dar, sondern gibt ihr eine lockende, bezaubernde, beglückende und tötende Weise. Wie S. Jae-Jones es hinbekommen hat, ungezähmte, wilde, Leidenschaft, zarten, liebevollen Gefühlen gegenüberzustellen, die Kobolde und ihren König gleichsam unheimlich wie faszinierend zu gestalten, sodass man sich wie auch Elisabeth unglaublich lebendig und tot zugleich fühlt, ist wirklich unfassbar!


"Du bist das Monster, das ich für mich beanspruche."
Vielleicht liebte ich das Monströse, weil ich selbst ein Monster war. Josef, der Koboldkönig und ich. Wir waren groteske Figuren in der Oberwelt, zu seltsam, zu talentiert, zu viel. Wir waren alle zu viel."


Mein einziger Kritikpunkt bezieht sich auf die vielen Klischees, die die amerikanische Autorin leider mit ihren Spielorten Bayern, Wien und Böhmen verbindet. Die Protagonisten ernähren sich praktisch nur von Würstchen, Sauerkraut, Knödel und Spätzle und kürzen ihre deutschen Namen auf schreckliche Art und Weise ab. So heißen unsere Protagonisten etwa Liesl (Maria Elisabeth Ingeborg Vogler), Käthe (Anna Katherina Magdalena Ingeborg Vogler) oder Sepperl (Franz Josef Johannes Gottlieb Vogler). Das aller größte Verbrechen gegen meine Vorliebe für schöne Namen begeht sie aber, als sie am Ende den Namen des Erlkönigs enthüllt, den Liesl versteckt im Herzen trägt. Anstatt uns diesen Namen geheimnisvoll vorzuenthalten nennt sie uns einen deutschen Vornamen, der so profan und in Zusammenhang mit dem Erlkönig so lächerlich klingt, dass ich diese Szene einfach nicht ernst nehmen konnte.


"Wer bist du?", flüsterte der Wechselbalg.
Das Spiegelbild lächelte nur. "Ich bin du", antwortete es.
"Was bin ich?", fragte der Wechselbalg.
"Verloren", antwortete das Spiegelbild."


Das Ende nimmt nach dem eher trägen Mittelteil nochmal ordentlich Fahrt auf und ist voll Schmerz, voll Liebe und voll Aufrichtigkeit. Etwas kurz geraten und mit einigen offenen Fragen ist es nicht perfekt aber auf die genau richtige Art gleichzeitig wundervoll und schrecklich, sodass ich mir kein besseres Ende für diese furchtbar schöne (nie hat ein Oxymoron so gut gepasst) Geschichte vorstellen könnte.


"Der Verstand ist ein Gefängnis und nun bin ich frei. Frei, um formlos zu sein. Frei, um gestaltlos zu sein."




Fazit:


Diese groteske, melancholische, düstere Geschichte über schöne Lügen und hässliche Wahrheiten gibt sich so anders als Band 1 und ist dennoch genauso voller Musik und leidenschaftlicher Liebe zum Absonderlichen, Wundersamen und Monströsen. Der Fokus auf Elisabeths Persönlichkeit macht es möglich, sich nochmal komplett neu in dieses Meisterwerk zu verlieben. Denn das ist es trotz etwaiger Schwächen - ein Meisterwerk über Musik, Manie, Wahnsinn, Zerrissenheit, Schmerz, Selbstfindung, Opfer und was es heißt, wirklich und aufrichtig zu lieben.

Veröffentlicht am 12.09.2019

Episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht - einfach das perfekte Finale

Vollendet - Die Wahrheit (Band 4)
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Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen ...

Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen und ist noch viel gruseliger, genialer, berührender und verstörender als ich es mir vorgestellt hatte! Damit ich diesen Band wirklich genießen und vollständig miterleben kann, habe ich in den letzten Wochen nochmal "Vollendet - Die Flucht", "Vollendet - Der Aufstand" und "Vollendet - Die Rache"gelesen und kann nun mit voller Überzeugung festhalten: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe. Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!

Doch beginnen wir meine Lobeshymne an den Autor mit der Gestaltung des Buches, die wieder sehr an die Vorgänger angelehnt ist. Zusehen ist das Gesicht eines anderen Teenagers in zerstückelter Pixel-Form, die auf die Umwandlung hinweist. Wer die dargestellte Person sein soll und wer die Teenager auf den anderen Cover sind weiß ich zwar nicht, mir gefällt die neue Gestaltung mit dem dunklen Hintergrund und dem grünen Titel aber. Schade ist nur, dass das Buch nur in der neuen Auflage erschienen ist und alle, die die Bücher noch im alten Design haben, nun eine gemischte Reihe besitzen. Ich für meinen Teil störe mich daran überhaupt nicht, bin ich doch viel zu froh, dass der vierte Teil nun endlich überhaupt erschienen ist, nachdem die Reihe in der ersten Auflage nach Band 3 abgesetzt wurde und die englischen Ausgaben ständig vergriffen waren.


Erster Satz: "Ein Betäubungsgeschoss saust so nah an seinem Ohrläppchen vorbei, dass es ein Stückchen Haut mitnimmt."


Nach einer prologähnlichen Ansammlung von kleinen Wiederholungen, die geschickt in den Kontext gebracht dem Leser bei der Auffrischung der vorangegangenen Ereignisse und wichtiger Fachbegriffe helfen, knüpft die Handlung gleich an die des dritten Teils an. Zu Beginn passiert erstmal nicht viel Außergewöhnliches und wir haben viel Zeit, um uns wieder in die Geschichte einzufinden, was vor allem auch den vielen Erzählperspektiven geschuldet ist, die wir mittlerweile angesammelt haben. Wer vielleicht nach dem Klapptext denkt "nunja, sie haben ja jetzt den Organdrucker, also ist wohl das Problem einfach gelöst", dem sei gesagt, dass der Autor von "einfach" bekanntlich nicht viel wissen will. Statt einen großen, triumphalen Siegeszug gegen die Umwandlung anzutreten, quält der Autor unsere armen Leserherze mit neuen Hürden, Missgeschicken, Verrat, Gefangennahme, Gefahr und Tod und es geht erstmal alles ordentlich den Bach runter. Dabei erhalten wir hier noch weniger Verschnaufpausen als zuvor und schnellere Perspektivwechsel, kürzere Abstände, tiefere Abgründe, gefährlichere Aktionen und höherer Druck halten uns ganz schön auf Trab.


"Jansons Maschine ist jetzt euer Baby. Zieht los und repariert die Welt."


USA, die nahe Zukunft: Teenager, die zu viel Ärger machen, werden gnadenlos aus der Gesellschaft ausgestoßen und "umgewandelt". Sie werden in Erntecamps ihre Einzelteile zerlegt und an Empfänger verteilt. Dies ist nach wie vor die erschreckende Basis, auf der die Geschichte fußt. Und wie zuvor auch schon geht der Autor wieder an sämtliche Grenzen und schafft es in einem aufregenden Drahtseilakt uns gleichzeitig zu schockieren und zu berühren.
Immer wieder dachte ich "was soll da jetzt noch kommen, jetzt kann mich nichts mehr schocken". Und dann bringt der Autor wieder ein neuer Aspekt auf den Tisch, lässt Schwarz und Weiß erschreckend verwischen oder bringt fast nicht auszuhaltende Opfer und man denkt sich nur in stillem Entsetzen: hat er nicht gemacht!!! So besichtigen wir eine fliegende, vollautomatische Ernte-Maschine mit elektronischem Erntebegleiter, spielen auf einer Orgel aus Menschenköpfen, die Orgao Orgânico oder Erleben den Aufbau eine Verbundmenschenarmee. Neal Shusterman hält auch hier wieder etliche Wendungen und Erklärungen bereit, um unseren Schock und Ekel vor einer Gesellschaft, die ungeliebte Kinder zum Wohle von geliebten Kindern auslöscht, immer wieder aufs Neue zu entfachen.


"In Cams Augen ist Roberta das Proaktive Bürgerforum. Das Bürgerforum zu besiegen heißt, sie zu besiegen. In der Luft zu zerreißen. Aber das darf sie natürlich nicht wissen. Vorerst muss er noch ihren perfekten Goldjungen spielen. Er wird strahlen wie das Götzenbild, zu dem sie ihn mit großer Sorgfalt gemacht haben. Das Goldene Kalb, das die gesamte Menschheit anbetet. Und es wird umso wunderbarer sein, das entsetzte Erstaunen in Robertas Augen zu sehen, wenn er alles zerstört."


Die Stimmung der allgemeinen Bevölkerung, die dank der gezielten Stimmungsmache des Proaktiven Bürgerforum immer mehr zu kippen droht, wird wieder durch kurze Ausschnitte aus abstrusen Werbekampagnen für die Umwandlung deutlich. Hier geht der Autor mit Kampagnen für das Gesetz zur Aufhebung der elterlichen Rechte, die dem Staat erlauben, wahllos und ohne das Einverständnis der Eltern, Kinder umzuwandeln, für präventive Überwachung von Kindern unter dem umwandlungsfähigen Alter oder für das Track-a-Teen-Projekt aufs Ganze und zeigt uns, wie eine Gesellschaft mit der Weile abstumpft und jegliche Skrupel verliert. In der letzten Hälfte gibt es dann weniger Werbeanzeigen, dafür aber Ausschnitte aus Haydens Radio-Podcasts, in denen er zu einem Generalaufstand gegen die Umwandlung aufruft und die Machenschaften des Proaktiven Bürgerforums entlarvt, die Starkeys Terror und die Klatscher-Bewegung finanzieren, um die gesellschaftliche Zustimmung für die Umwandlung nicht zu verlieren.


"Da durchzuckt in eine Kälte, als würde ein Geist durch seinen Körper fahren. Aber es ist kein Geist. Es ist eine böse Vorahnung der Zukunft. Einer Zukunft, die niemals eintreten darf...
… und zum ersten Mal lässt er einen Gedanken zu, der in jeder Nacht in Millionen Menschen lautlos widerhallt.
Mein Gott... was haben wir getan?"


Ebenfalls wieder vorhanden sind die realen Berichte und Links, die vor jedem der sieben Teile angefügt sind. Dadurch wird uns auf erschütternde Art und Weise klargemacht, dass die Reihe trotz ihrer scheinbaren Absurdität viel zu nahe an der Realität ist, um nicht weiter über die Themen nachzudenken. Egal ob boomender Schwarzmarkt für Organhandel, dokumentierte Fälle in denen Organempfänger Erinnerungen ihrer Spender haben, absurde Kunst aus menschlichen Organen, Sterbehilfegesetze für Kinder, Babyklappen in italienischen Krankenhäusern, die Diskussion über die Todesstrafe für rebellische Kinder, die neue Gefahr durch Körperbomben oder die Chance auf 3D-Drucker - die angesprochenen Themen lassen sich alle auf Aspekte der Handlung beziehen und geben dem Leser ordentlich etwas zu denken!


"Ich war nie ein Kind", sagt er mit einer Traurigkeit, die nur er jemals richtig begreifen wird. "Ich war Zehntopfer, Klatscher, Flüchtling, aber niemals ein Kind."


Der Autor - ein Meister der Handlungsstränge - tischt uns ein komplexes Beziehungsgeflecht voller Wiedersehen, Trennungen, Enden und Neubeginnen, Hass und Liebe auf und beschert uns mit seinem meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen. Dadurch, dass er die Protagonisten immer wieder durchmischt und in anderer Konstellation aufeinander treffen lässt wird bald klar, dass ihre Schicksale enger verknüpft sind, als sie selbst ahnen und. Die ständige Neumischung der Protagonisten sorgt immer wieder für neue Dynamik. Dabei gibt es so viele Handlungsstränge wie noch nie zuvor. Neben dem "alten Kern", Connor, Risa, Lev erzählen wie gehabt auch Cam, Starkey, Nelson, Argent, Grace, Bam, Hayden, Roberta, Una, Sonia und die zwei neuen Protagonisten Jeevan und Divan. Dabei belässt es der Autor selbst in seinem finalen Teil nicht bei den oberflächlichen Charakterisierungen sondern lässt seine Figuren immer wieder neu aufleben, zeigt uns andere Seiten an ihnen und führt uns durch überraschende Entwicklungen vor Auge, dass ein wahrhaft guter Protagonist sich immer verändert.


"Du bist ein Junge. Du kannst nicht erwarten, die Welt aus den Angeln zu haben."
Vielleicht nicht. Aber er träumt davon, den Mond auf die Erde zu holen."


Und es ist wirklich jeder einzelne von ihnen etwas Besonderes:
Connor, der für seine Ziele bereit ist, alles aufzugeben und das größte Opfer bringt.
Lev, der zu drastischen Maßnahmen greift, um auf die Grausamkeit der Umwandlung hinzuweisen und dabei endlich seinen Frieden findet.
Risa, die mit ihrer besonnen Art Hoffnung schenkt und tödliche Wunden heilt.
Cam, der sich trotz seiner gelöschten Erinnerungen endgültig gegen seine Erschaffer auflehnt und für eine Sache kämpft, an die er sich nicht einmal richtig erinnern kann.
Starkey, der durch seine Machtgier in den Ruin getrieben wird und von seinem erbittertsten Feind Gnade erfährt.
Nelson, den der Hass langsam auffrisst, bis nichts mehr von ihm übrig ist.
Argent, der einfach nur einmal im Leben seine Ziele erreichen will und der in letzter Sekunde die richtige Entscheidung trifft.
Grace, die von der ganzen Welt unterschätzt ist, hinter deren schlichtem Gemüt sich aber eine unschlagbare Beobachtungsgabe, sanftes Taktgefühl und ein strategisches Genie verstecken.
Bam, die weiß, dass sie keine gute Anführerin ist und deshalb doch die perfekte Wahl zur Führung der Storche ist.
Hayden, dessen Sarkasmus seinen Schmerz verbirgt und der seinen Einfluss zum Ausrufen eines chancenlosen Aufstands nutzt.
Roberta, die verzweifelt nach einem Platz an der Sonne sucht, stattdessen aber nur den Abgrund findet.
Una, deren Wut ihr bester Freund ist seit sich ihre große Liebe sich für Lev opferte und die angesichts eines gewissen Verbundmenschen ihre Weltansichten überdenken muss.
Sonia, die versucht, sich von einer schrecklichen Schuld reinzuwaschen und ihr Leben der AUF verschrieben hat.
Jeevan, der in einem schicksalshaften Moment nicht Hacker, nicht Wandler, nicht Soldat sondern nur Mensch ist.
Divan, der sich einredet, nur seine Arbeit zu machen, dabei aber in Selbsthass erstickt.



"Sein Leben war es wert, gelebt zu werden, und trotz der schlechten Karten, die ihm ausgeteilt wurden, hat er es in den letzten beiden Jahren ausnehmend gut gelebt. Er weiß, was es bedeutet, vielen Menschen das Leben zu retten. Er weiß, was es bedeutet, ein Leben zu beenden. Aber vor allem weiß er, was es bedeutet zu lieben."


Ich habe sie alle leidenschaftlich geliebt (oder manche natürlich gehasst) und ihre Entwicklungen mit Spannung verfolgt, bis sich am Ende alles fügt und jeder Handlungsstrang zu einem befriedigenden Abschluss geführt wird. Wunderbar sind neben den kurzen Abschnitten aus der Sicht außenstehender Figuren wie beispielsweise einen Ernte-Camp-Gärtner oder eine Mutter, die vielen Andeutungen und kurze Wiedersehen zu Figuren, die uns schon verlassen haben. So kommt Miracolina zum Beispiel noch mal vor und wir erfahren ein bisschen mehr über Roland. Die einzige kleine Kritik, die ich anbringen will, ist dass Risa als einzige keinen großen Auftritt erhält und von ihren Jungs ein bisschen in den Hintergrund gedrängt wird. Im letzten Drittel angelangt erreicht die Geschichte dann für die Protagonisten ihren absoluten Tiefpunkt und als Leser fragt man sich mit kritischem Blick auf die verbliebenen Seiten, wie der Autor das alles noch in so wenig Zeit wieder gerade biegen will. Und dann … dann beginnt der wirklich magische Teil!

"I´ve got you… under my skin"


Dieser Song, den Hayden immer in seinen Podcast verwendet wird hier Programm. Nicht nur thematisch sondern auch im übertragenen Sinn. Denn das Ende geht wirklich unter die Haut und ein OMG-Moment reiht sich an den nächsten. Das war definitiv das beste Ende, das man sich hätte ausdenken können - episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht, einfach das perfekte Finale! In irrsinnigem Tempo schafft es der Autor, das Szenario komplett zu drehen, jeden Handlungsstrang zu einem befriedigenden Ende zu bringen und alle Facetten der Geschehnisse von verschiedenen Seiten auszuleuchten. Drastische Wendungen, schockierende Grausamkeit, ehrliches Mitgefühl, tiefer Schmerz, leidenschaftliche Liebe, angesichts der schnellen Ereignisse konnte ich die Tränen nicht mehr unterdrücken. Natürlich hätte ich mir ganz zum Schluss noch ein paar mehr Infos über den weiteren Verlauf gewünscht. Was machen Connor und Risa jetzt? Finden sie ihren Frieden? Wie geht Lev mit seiner neuen Existenz um? Wird die Umwandlung nun komplett abgeschafft? Was passiert mit der Storchenbrigade und den fliehenden Wandlern …? Das schlussendliche Finale gibt nur die grobe Richtung vor, in die sich die Welt weiter bewegen wird, lässt aber einige Fragen absichtlich offen. Das ist natürlich nur realistisch da es wirklich seltsam gewesen wäre, wenn plötzlich allen Menschen aufgefallen wäre, "huch, das ist ja total blöd was wir da mit unseren Kindern anstellen, lass mal ändern", dennoch hätte ein klitzekleiner Epilog meine Leserseele erfreut und meinen Abschied erleichtert. Das Lebewohlsagen von dieser intensiven Reise durch diese marode Gesellschaft an der Seite unfassbarer Protagonisten, mit denen geliebt, gehasst, gelitten, gelacht und geweint habe, viel mir wirklich sehr schwer. Zum Glück gibt es noch einen Ergänzungsband mit kurzen Geschichten aus dem Universum, in dem wir Connor, Lev, Risa, Cam, Hayden, Bam, Miracolina und wie sie alle heißen nochmal wieder sehen dürfen!




Fazit:


Nach diesem hinreißenden Ende steht für mich fest: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe! Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!

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Veröffentlicht am 12.09.2019

Episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht, einfach das perfekte Finale!

Vollendet - Die Wahrheit (Band 4)
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Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen ...

Da ist er nun - der vierte Teil der Vollendet-Dystologie, auf den ich so lange warten musste und von dem ich schon dachte, ich könne ihn nie lesen... Da ist er nun und hat alle Erwartungen übertroffen und ist noch viel gruseliger, genialer, berührender und verstörender als ich es mir vorgestellt hatte! Damit ich diesen Band wirklich genießen und vollständig miterleben kann, habe ich in den letzten Wochen nochmal "Vollendet - Die Flucht", "Vollendet - Der Aufstand" und "Vollendet - Die Rache"gelesen und kann nun mit voller Überzeugung festhalten: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe. Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!

Doch beginnen wir meine Lobeshymne an den Autor mit der Gestaltung des Buches, die wieder sehr an die Vorgänger angelehnt ist. Zusehen ist das Gesicht eines anderen Teenagers in zerstückelter Pixel-Form, die auf die Umwandlung hinweist. Wer die dargestellte Person sein soll und wer die Teenager auf den anderen Cover sind weiß ich zwar nicht, mir gefällt die neue Gestaltung mit dem dunklen Hintergrund und dem grünen Titel aber. Schade ist nur, dass das Buch nur in der neuen Auflage erschienen ist und alle, die die Bücher noch im alten Design haben, nun eine gemischte Reihe besitzen. Ich für meinen Teil störe mich daran überhaupt nicht, bin ich doch viel zu froh, dass der vierte Teil nun endlich überhaupt erschienen ist, nachdem die Reihe in der ersten Auflage nach Band 3 abgesetzt wurde und die englischen Ausgaben ständig vergriffen waren.


Erster Satz: "Ein Betäubungsgeschoss saust so nah an seinem Ohrläppchen vorbei, dass es ein Stückchen Haut mitnimmt."


Nach einer prologähnlichen Ansammlung von kleinen Wiederholungen, die geschickt in den Kontext gebracht dem Leser bei der Auffrischung der vorangegangenen Ereignisse und wichtiger Fachbegriffe helfen, knüpft die Handlung gleich an die des dritten Teils an. Zu Beginn passiert erstmal nicht viel Außergewöhnliches und wir haben viel Zeit, um uns wieder in die Geschichte einzufinden, was vor allem auch den vielen Erzählperspektiven geschuldet ist, die wir mittlerweile angesammelt haben. Wer vielleicht nach dem Klapptext denkt "nunja, sie haben ja jetzt den Organdrucker, also ist wohl das Problem einfach gelöst", dem sei gesagt, dass der Autor von "einfach" bekanntlich nicht viel wissen will. Statt einen großen, triumphalen Siegeszug gegen die Umwandlung anzutreten, quält der Autor unsere armen Leserherze mit neuen Hürden, Missgeschicken, Verrat, Gefangennahme, Gefahr und Tod und es geht erstmal alles ordentlich den Bach runter. Dabei erhalten wir hier noch weniger Verschnaufpausen als zuvor und schnellere Perspektivwechsel, kürzere Abstände, tiefere Abgründe, gefährlichere Aktionen und höherer Druck halten uns ganz schön auf Trab.


"Jansons Maschine ist jetzt euer Baby. Zieht los und repariert die Welt."


USA, die nahe Zukunft: Teenager, die zu viel Ärger machen, werden gnadenlos aus der Gesellschaft ausgestoßen und "umgewandelt". Sie werden in Erntecamps ihre Einzelteile zerlegt und an Empfänger verteilt. Dies ist nach wie vor die erschreckende Basis, auf der die Geschichte fußt. Und wie zuvor auch schon geht der Autor wieder an sämtliche Grenzen und schafft es in einem aufregenden Drahtseilakt uns gleichzeitig zu schockieren und zu berühren.
Immer wieder dachte ich "was soll da jetzt noch kommen, jetzt kann mich nichts mehr schocken". Und dann bringt der Autor wieder ein neuer Aspekt auf den Tisch, lässt Schwarz und Weiß erschreckend verwischen oder bringt fast nicht auszuhaltende Opfer und man denkt sich nur in stillem Entsetzen: hat er nicht gemacht!!! So besichtigen wir eine fliegende, vollautomatische Ernte-Maschine mit elektronischem Erntebegleiter, spielen auf einer Orgel aus Menschenköpfen, die Orgao Orgânico oder Erleben den Aufbau eine Verbundmenschenarmee. Neal Shusterman hält auch hier wieder etliche Wendungen und Erklärungen bereit, um unseren Schock und Ekel vor einer Gesellschaft, die ungeliebte Kinder zum Wohle von geliebten Kindern auslöscht, immer wieder aufs Neue zu entfachen.


"In Cams Augen ist Roberta das Proaktive Bürgerforum. Das Bürgerforum zu besiegen heißt, sie zu besiegen. In der Luft zu zerreißen. Aber das darf sie natürlich nicht wissen. Vorerst muss er noch ihren perfekten Goldjungen spielen. Er wird strahlen wie das Götzenbild, zu dem sie ihn mit großer Sorgfalt gemacht haben. Das Goldene Kalb, das die gesamte Menschheit anbetet. Und es wird umso wunderbarer sein, das entsetzte Erstaunen in Robertas Augen zu sehen, wenn er alles zerstört."


Die Stimmung der allgemeinen Bevölkerung, die dank der gezielten Stimmungsmache des Proaktiven Bürgerforum immer mehr zu kippen droht, wird wieder durch kurze Ausschnitte aus abstrusen Werbekampagnen für die Umwandlung deutlich. Hier geht der Autor mit Kampagnen für das Gesetz zur Aufhebung der elterlichen Rechte, die dem Staat erlauben, wahllos und ohne das Einverständnis der Eltern, Kinder umzuwandeln, für präventive Überwachung von Kindern unter dem umwandlungsfähigen Alter oder für das Track-a-Teen-Projekt aufs Ganze und zeigt uns, wie eine Gesellschaft mit der Weile abstumpft und jegliche Skrupel verliert. In der letzten Hälfte gibt es dann weniger Werbeanzeigen, dafür aber Ausschnitte aus Haydens Radio-Podcasts, in denen er zu einem Generalaufstand gegen die Umwandlung aufruft und die Machenschaften des Proaktiven Bürgerforums entlarvt, die Starkeys Terror und die Klatscher-Bewegung finanzieren, um die gesellschaftliche Zustimmung für die Umwandlung nicht zu verlieren.


"Da durchzuckt in eine Kälte, als würde ein Geist durch seinen Körper fahren. Aber es ist kein Geist. Es ist eine böse Vorahnung der Zukunft. Einer Zukunft, die niemals eintreten darf...
… und zum ersten Mal lässt er einen Gedanken zu, der in jeder Nacht in Millionen Menschen lautlos widerhallt.
Mein Gott... was haben wir getan?"


Ebenfalls wieder vorhanden sind die realen Berichte und Links, die vor jedem der sieben Teile angefügt sind. Dadurch wird uns auf erschütternde Art und Weise klargemacht, dass die Reihe trotz ihrer scheinbaren Absurdität viel zu nahe an der Realität ist, um nicht weiter über die Themen nachzudenken. Egal ob boomender Schwarzmarkt für Organhandel, dokumentierte Fälle in denen Organempfänger Erinnerungen ihrer Spender haben, absurde Kunst aus menschlichen Organen, Sterbehilfegesetze für Kinder, Babyklappen in italienischen Krankenhäusern, die Diskussion über die Todesstrafe für rebellische Kinder, die neue Gefahr durch Körperbomben oder die Chance auf 3D-Drucker - die angesprochenen Themen lassen sich alle auf Aspekte der Handlung beziehen und geben dem Leser ordentlich etwas zu denken!


"Ich war nie ein Kind", sagt er mit einer Traurigkeit, die nur er jemals richtig begreifen wird. "Ich war Zehntopfer, Klatscher, Flüchtling, aber niemals ein Kind."


Der Autor - ein Meister der Handlungsstränge - tischt uns ein komplexes Beziehungsgeflecht voller Wiedersehen, Trennungen, Enden und Neubeginnen, Hass und Liebe auf und beschert uns mit seinem meisterhaft direkten, schonungslosen Schreibstil einen gruseligen Gänsehautmoment nach dem anderen. Dadurch, dass er die Protagonisten immer wieder durchmischt und in anderer Konstellation aufeinander treffen lässt wird bald klar, dass ihre Schicksale enger verknüpft sind, als sie selbst ahnen und. Die ständige Neumischung der Protagonisten sorgt immer wieder für neue Dynamik. Dabei gibt es so viele Handlungsstränge wie noch nie zuvor. Neben dem "alten Kern", Connor, Risa, Lev erzählen wie gehabt auch Cam, Starkey, Nelson, Argent, Grace, Bam, Hayden, Roberta, Una, Sonia und die zwei neuen Protagonisten Jeevan und Divan. Dabei belässt es der Autor selbst in seinem finalen Teil nicht bei den oberflächlichen Charakterisierungen sondern lässt seine Figuren immer wieder neu aufleben, zeigt uns andere Seiten an ihnen und führt uns durch überraschende Entwicklungen vor Auge, dass ein wahrhaft guter Protagonist sich immer verändert.


"Du bist ein Junge. Du kannst nicht erwarten, die Welt aus den Angeln zu haben."
Vielleicht nicht. Aber er träumt davon, den Mond auf die Erde zu holen."


Und es ist wirklich jeder einzelne von ihnen etwas Besonderes:
Connor, der für seine Ziele bereit ist, alles aufzugeben und das größte Opfer bringt.
Lev, der zu drastischen Maßnahmen greift, um auf die Grausamkeit der Umwandlung hinzuweisen und dabei endlich seinen Frieden findet.
Risa, die mit ihrer besonnen Art Hoffnung schenkt und tödliche Wunden heilt.
Cam, der sich trotz seiner gelöschten Erinnerungen endgültig gegen seine Erschaffer auflehnt und für eine Sache kämpft, an die er sich nicht einmal richtig erinnern kann.
Starkey, der durch seine Machtgier in den Ruin getrieben wird und von seinem erbittertsten Feind Gnade erfährt.
Nelson, den der Hass langsam auffrisst, bis nichts mehr von ihm übrig ist.
Argent, der einfach nur einmal im Leben seine Ziele erreichen will und der in letzter Sekunde die richtige Entscheidung trifft.
Grace, die von der ganzen Welt unterschätzt ist, hinter deren schlichtem Gemüt sich aber eine unschlagbare Beobachtungsgabe, sanftes Taktgefühl und ein strategisches Genie verstecken.
Bam, die weiß, dass sie keine gute Anführerin ist und deshalb doch die perfekte Wahl zur Führung der Storche ist.
Hayden, dessen Sarkasmus seinen Schmerz verbirgt und der seinen Einfluss zum Ausrufen eines chancenlosen Aufstands nutzt.
Roberta, die verzweifelt nach einem Platz an der Sonne sucht, stattdessen aber nur den Abgrund findet.
Una, deren Wut ihr bester Freund ist seit sich ihre große Liebe sich für Lev opferte und die angesichts eines gewissen Verbundmenschen ihre Weltansichten überdenken muss.
Sonia, die versucht, sich von einer schrecklichen Schuld reinzuwaschen und ihr Leben der AUF verschrieben hat.
Jeevan, der in einem schicksalshaften Moment nicht Hacker, nicht Wandler, nicht Soldat sondern nur Mensch ist.
Divan, der sich einredet, nur seine Arbeit zu machen, dabei aber in Selbsthass erstickt.



"Sein Leben war es wert, gelebt zu werden, und trotz der schlechten Karten, die ihm ausgeteilt wurden, hat er es in den letzten beiden Jahren ausnehmend gut gelebt. Er weiß, was es bedeutet, vielen Menschen das Leben zu retten. Er weiß, was es bedeutet, ein Leben zu beenden. Aber vor allem weiß er, was es bedeutet zu lieben."


Ich habe sie alle leidenschaftlich geliebt (oder manche natürlich gehasst) und ihre Entwicklungen mit Spannung verfolgt, bis sich am Ende alles fügt und jeder Handlungsstrang zu einem befriedigenden Abschluss geführt wird. Wunderbar sind neben den kurzen Abschnitten aus der Sicht außenstehender Figuren wie beispielsweise einen Ernte-Camp-Gärtner oder eine Mutter, die vielen Andeutungen und kurze Wiedersehen zu Figuren, die uns schon verlassen haben. So kommt Miracolina zum Beispiel noch mal vor und wir erfahren ein bisschen mehr über Roland. Die einzige kleine Kritik, die ich anbringen will, ist dass Risa als einzige keinen großen Auftritt erhält und von ihren Jungs ein bisschen in den Hintergrund gedrängt wird. Im letzten Drittel angelangt erreicht die Geschichte dann für die Protagonisten ihren absoluten Tiefpunkt und als Leser fragt man sich mit kritischem Blick auf die verbliebenen Seiten, wie der Autor das alles noch in so wenig Zeit wieder gerade biegen will. Und dann … dann beginnt der wirklich magische Teil!

"I´ve got you… under my skin"


Dieser Song, den Hayden immer in seinen Podcast verwendet wird hier Programm. Nicht nur thematisch sondern auch im übertragenen Sinn. Denn das Ende geht wirklich unter die Haut und ein OMG-Moment reiht sich an den nächsten. Das war definitiv das beste Ende, das man sich hätte ausdenken können - episch, nachvollziehbar, emotional und durchdacht, einfach das perfekte Finale! In irrsinnigem Tempo schafft es der Autor, das Szenario komplett zu drehen, jeden Handlungsstrang zu einem befriedigenden Ende zu bringen und alle Facetten der Geschehnisse von verschiedenen Seiten auszuleuchten. Drastische Wendungen, schockierende Grausamkeit, ehrliches Mitgefühl, tiefer Schmerz, leidenschaftliche Liebe, angesichts der schnellen Ereignisse konnte ich die Tränen nicht mehr unterdrücken. Natürlich hätte ich mir ganz zum Schluss noch ein paar mehr Infos über den weiteren Verlauf gewünscht. Was machen Connor und Risa jetzt? Finden sie ihren Frieden? Wie geht Lev mit seiner neuen Existenz um? Wird die Umwandlung nun komplett abgeschafft? Was passiert mit der Storchenbrigade und den fliehenden Wandlern …? Das schlussendliche Finale gibt nur die grobe Richtung vor, in die sich die Welt weiter bewegen wird, lässt aber einige Fragen absichtlich offen. Das ist natürlich nur realistisch da es wirklich seltsam gewesen wäre, wenn plötzlich allen Menschen aufgefallen wäre, "huch, das ist ja total blöd was wir da mit unseren Kindern anstellen, lass mal ändern", dennoch hätte ein klitzekleiner Epilog meine Leserseele erfreut und meinen Abschied erleichtert. Das Lebewohlsagen von dieser intensiven Reise durch diese marode Gesellschaft an der Seite unfassbarer Protagonisten, mit denen geliebt, gehasst, gelitten, gelacht und geweint habe, viel mir wirklich sehr schwer. Zum Glück gibt es noch einen Ergänzungsband mit kurzen Geschichten aus dem Universum, in dem wir Connor, Lev, Risa, Cam, Hayden, Bam, Miracolina und wie sie alle heißen nochmal wieder sehen dürfen!




Fazit:


Nach diesem hinreißenden Ende steht für mich fest: "Vollendet" ist mit Abstand die beste Dystopie, die ich jemals gelesen habe! Nie war eine Geschichte so realistisch, erschreckend und mit so vielen Wahrheitsbezügen und Anknüpfungspunkten, dass sie mich so nachhaltig verstört, verfolgt und mitgerissen hat wie dieses Meisterwerk von Neal Shusterman!